ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Glück in der vollendeten Zukunft

[ca. 1985-1990]

 

 

Kleine Anfrage

Zumal mir der Lauschangriff auf jenen beredsamen Herrn missglückte, der mir den Rücken zuwandte und dem auf dem Gesicht der ihm gegenübersitzenden Dame eine schwindelerregende Serie sich jagender Ausdrücke antwortete –

sie blinzelte gelangweilt über die Schulter, schürzte die Lippen, neigte sich leicht vor und riss die Augen auf, bevor ihr Blick sich verdüsterte und sie empört auflachte, um gleich darauf zerknirscht den Kiefer zu verziehen, die Handballen an die Schläfen zu schlagen und so zu verharren, bis sie, indem sie die Schultern sinken ließ, erleichtert lächelte, ungläubig feixte, den Mund offenstehen ließ

– all dies offensichtlich ihrer Gestik bewusst –,

selbst etwas sagen wollte und sich dafür schon ganz klug machte, aber nicht dazu kam, und also die Augen zu Schlitzen verengte, die Zunge in den Mundwinkel schob, belustigt die Nase rümpfte, lachend die Hände vors Gesicht schlug, und so fort

– möchte ich mich – man wird begreifen, dass mir die Lektüre dieses Mienenspiels ein Vergnügen war – beim Publikum höflich erkundigen: Wer kann mir den Text dazu liefern?

 

Dissimulanten

Ich benahm mich noch tadellos, aber ich spürte schon, wie sich meine Gesichtshaut zur Fratze des nächsten Ungeheuers spannte.

Andere kann man immer nachahmen; das Schwierige ist, sich selbst zu imitieren. Nichts an mir hat es mir angetan außer der Leichtigkeit, mit der ich gewisse Sprechweisen, Gebärden, Unarten anderer übernehme – wie jenes Achselzucken K.s, das mir ohne weiteres in den Körper fuhr. Gelegentlich zerfalle ich für mich in jene Kunstfigur, die nichts als Oberfläche aus stümperhaft zusammengesetzten Nachahmungen ist, und erkenne in meinem Tonfall die trunkene Stimme meines Freundes L. wieder. Jene bestimmte Redewendung gehört eigentlich in den Mund von P.; die Art, wie ich die Beine übereinanderschlage, zu einem Unbekannten, mit dem mich nichts als eine fünfminütige Tramfahrt durch Schwamendingen verbindet, und in Augenblicken der Beherrschung reagiere ich auf mich selbst mit jener kalten Gleichmut, die mir von V. entgegengebracht wird. Trotzdem wäre ich am liebsten der vollkommene Mime jenes Moments, der mich einst emporhob und in dem ich mich eine Zeit lang wiederzuerkennen glaubte. Denn ich war aus mir ausgebüchst und hatte nichts mehr mit mir zu tun. (Das war der Moment, in dem ich mir hemmungslos gefiel. »Das sieht ihm ähnlich«, sagt man mit Recht in abschätzigem Tonfall.)

Alles was einem bleibt: dissimulieren, so tun als ob nicht. Als sei man eben bloß ein Man. Das Tragische dabei: dass uns im gleichen Zug, in dem wir uns mit aller Durchtriebenheit einer Kennzeichnung entziehen und dunkel bleiben wollen, gerade diese Ausweichbewegung zu erkennen gibt.

 

Hübsches Hirngespinst,

mir dreht sich etwas vor Augen, und das sind Sie, das heißt ich stehe vor Ihnen wie vor dem Tombolarad der Kirchweihbesucher. Ihre Unberechenbarkeit kommt mir gelegen, und man wird Ihnen bestätigen, dass ich für Delirien immer zu haben bin. Zwar sah ich neulich in einem Film die Schlechtigkeit der Frauen überzeugend dargelegt; sie muss sich aber stets neu erweisen. Jener Fim hieß nicht weniger als »All About Eve«. Bei Ihnen könnte es sich freilich um irgend jemanden handeln, das käme weiter nicht drauf an. Ich rechne nämlich im Grunde nur mit mir, obwohl ich irgendwo auf der Strecke blieb. »Quand j’ai fumé des cigarettes, je n’ai pas pour habitude de garder les mégots«, warf mir meine Peinigerin an den Kopf. Nach der Verheerung ging’s mir phantastisch, genauer gesagt es fühlte sich an, als sei mein Knochenmark im Begriff, zusammenzuschrumpfen, wahrscheinlich weil die Nerven nur noch schlaffe Fransen waren; ergo ein Ausweichmanöver der Seele, die hin und wieder zu strampeln verlangt. Als nächstes apostrophierte ich auf der Straße eine Ahnungslose als Mörderbande, um mich selbst kalt zu machen? Dem Meer eins auf die Badehose!

Damit überhaupt jemand auf die Idee kommt, dir zu folgen, musst du schon etwas schneller laufen als jeder andere. Nichts ist lindernder, wiederbringender, als mit einer Frau sich hinzulegen, der man geneigt, gewogen, wohlgesonnen ist. Hingegen brüskieren Aventüren mit verächtlichen Menschen die Selbstverständlichkeit. Hier scheint sich der Sinn des Wortes selbstverständlich mit seiner Wortwörtlichkeit zu treffen. Wer rief, anlässlich eines Vortrags zum Thema »Identitätslosigkeitskrise«, in den vollbesetzten Saal, das Leben sei eine Frechheit? »C’est vrai, mais ce n’est pas beau«, wurde Ihnen mild erwidert. Vielleicht kommen Sie also in meiner Vergangenheit vor, aber ich wende mich mit dieser Ergebenheitsbotschaft an Sie als einer Künftigen. Ich melde mich aus Umrauschtheiten, denn ich sitze in einem Café, vor dessen Fenstern sich großstädtisches Leben abspielt. Schön wäre es, beschreibende, und suchende und sich selbst beschreibende Sätze so aneinanderzureihen, wie sich das Gepiep des Spielautomaten in das Radiogeplärr mischt, und die Autos und die Kaffeemaschine und die Stimmen der Kellner und Gäste durcheinanderstöbern. Da verzieht einer das Gesicht, feixt, was hat er nur, der Herr am Nebentisch? Ein vollkommen verschrumpeltes Gesicht, aber ständig wollen sich noch neue Runzeln bilden, bloß können sie das nicht, weil überall dort, wo sie sich hinlegen wollen, bereits eine andere sich’s bequem gemacht hat. Vielleicht habe ich ja auch ein so vielfältiges Gesicht, wenn ich an Sie denke, und das tue ich, unbesonnen,

Ihr X.

 

Glück in der vollendeten Zukunft

Mein Kopf war ein Flickrlteppich, über den schwere Schritte hinweggingen. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als indem ich folgendes notierte.

In gewissen Zuständen der Seele ist es gerade die klare oder stürmische Empfindung der Gegenwart, die diese aufhebt. Die Dinge, mit all ihren Eigenschaften und in ihrem wechselnden Zusammenhang, werden dann aus ihrer Flüchtigkeit gelöst und in eine andere, innere, rein zeitliche Ordnung versetzt: Es wird so gewesen sein.

Die Wahrnehmung, im Augenblick überfordert, weicht in die Vergangenheit der Zukunft aus, in der falschen Intuition, dort wäre die Seele groß genug, das Glück zu fassen. Doch wer seinem Erleben eine grammatikalische Form aufzuzwingen versucht, muss konstatieren: irgend etwas in uns vernichtet das Erlebnis, indem wir es festzuhalten versuchen, es verewigen möchten. Die Gegenwart ist auf einmal nur noch Erinnerung an die Gegenwart. Man schaut auf sie wie aus dem Gedächtrnis, mit demselben halb sentimentalen, halb analytischen Blick. Was aber ist das Gedächtnis? Die Zukunft der Vergangenheit.

Es gibt kein Gleichgewicht im gleichzeitigen Empfinden zweier Zeiten. Das Präsens ergibt sich dem Futurum exactum.

Wenn wir nun dieses lichtlose Treppenhaus hochhuschen, und während du in dem Zimmer verschwindet, in dem dein Freund schläft, um dort Pariser zu holen, warte ich auf der Terrasse über den Dächern der Stadt und denke, vielleicht hätte ich es schöner haben können – dann sagt das nur soviel: Die Verheißung liegt (außer in der Religion) immer in der Vergangenheit.

Es ist, als vermisse man jemandes Abwesenheit (ja, genau so ist es oft). Und das ist nicht weniger absurd (aber ist es überhaupt absurd?), als wenn einer in die Bibliothek geht, um dort den Text zu suchen, dessen abgebrochenes Manuskript zu Hause auf seinem Schreibtisch liegt: Er wird schon geschrieben sein.

 

Ein Schatten im Spiegel

Wenn ich jetzt mit dir an diesem Tisch säße und nicht möchte, dass es vorbeiginge. Wenn ich deshalb für mich diesen Moment in die Zukunft verlagerte – während er verstriche! – so wäre es ein Moment, der, noch während er währte, gewesen sein würde.

Wird man nie klüger? Dass das Glück für mich zunächst als ein gewesen sein werdendes existiert, ist freilich ein Unglück. Aus der Verheißung hat sich die hoffnungsloseste der Vergangenheiten herausgeschält, die der Zukunft.

Mitunter erschreckt man, wenn sich etwas regt – es ist der eigene Schatten – der seine Bewegung einen Augenblick vor unserem Innewerden vollführt, dass wir es waren, die uns rührten – dass wir es gewesen sein werden.

Aber zurück zu dem Verlangen, es sei, was ich jetzt sehe, noch gar nicht das Wirkliche, sondern erst eine Ahnung dessen, was als Gleiches, nur vollendet, als Geschichte sich wiederholen werde. Die Wörter »vollendet« und »Geschichte« sind nicht umsonst doppelsinnig. Sie haben sowohl eine zeitliche wie eine qualitative Bedeutung. In dem Moment, da ich glücklich bin, will ich noch glücklicher werden – und vermassle mir dadurch den Moment.

Kundera hat es lapidar auf die Formel gebracht, man sollte nicht zu spät im Leben begreifen, dass die Gegenwart nicht erst die Hauptprobe fürs Leben, sondern schon dieses selbst sei. Jeden Tag Première, jeden Abend eine Galavorstellung.

Oder doch der »rätselvolle Spiegel«, der, wie bei Borges nachzulesen, Léon Bloy so beunruhigt hat? »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel  in einem dunkeln Wort« (1. Korinther, 13, 12). Die Welt nur eine Zeichenwelt, eine Verschlüsselung, aus der sich eine andere, vollendete Wirklichkeit lesen ließe.

Das gewöhnlichste Ereignis, schrieb Baudelaire, könne zum Symbol der Tiefe des Lebens werden. Da haben wir die Gießkanne, auf welcher der Blick von Hofmannsthals Lord Chandos fasziniert ruht. Sein Staunen, einen Gegenstand in unvermittelter Klarheit zu sehen – als befinde er sich hinter Glas, einem Kristall, das seine übliche Beliebigkeitg bündelte. Kein Ding wäre zu gewöhnlich, um an ihm dieses Mysterium des reinen Schauens sich entzünden zu lassen. (Die Feuer-Metapher ist falsch, handelt es sich doch um etwas Glasklares, Taghelles, Ruhendes.) Für mich war es, da ich aus einem stehenden Zugabteil die Kreidekritzeleien auf den Wänden der Güterwagen auf den Abstellgleisen eines Grenzbahnhofs betrachtete, als spürte ich die Atemzüge der Zeit.

Seltsam, dass dann gerade das reinste Schauen der unscheinbarsten Dinge diese in Scheinbares weiterverwandelt, unfassbar. Vielleicht bleiben sie unfassbar, weil sie in einer andern Zeit als der sie Betrachtende sind. Die Zeit des Sehens: ein Abgrund, der sich unablässig selbst verschlingt. Man springt, künstlich und doch unweigerlich, um ganz zu den Dingen zu gehören, in eine andere Zeit. Überholt sich selbst, um wieder hinter sich zurück zu springen, in einem innerlichen Bogen, als möchte man sich damit selbst einkreisen. Aber es misslingt, und der Glücksmoment zergeht wie jene Figur des Narziss, die er mit dem Finger auf eine spieglende Wasserfläche malt.