ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Ausflüchte

[ca. 1988-1991]

 

 

New Yorker Trilogetto

 

Amerika praktisch

Ein Tip für publikumsbedürftige Autoren: bedruckte T-Shirts, und schon liest alle Welt, was es jene verlangt, ihr mitzuteilen. Steht man am Central Park und sieht den Joggern zu – jeder mit seiner Botschaft auf der Brust –, kann einem ganz schön mulmig werden bei dem Geistesleben, das da an einem vorbeipustet.

Ich betrat ein Geschäft und erkundigte mich nach gewissen Computern. Die nennen am Telephon einen Lockpreis, um einen in den Laden zu bringen, und dort erweist sich dann, dass man kein richtiges Englisch kann. Der Angestellte, Überrumpelungstaktiker, füllte schon den Lieferschein aus, als sich ein anderer näherte, der aus einem Pappteller zwischen der Hard- und Software Rippchen vertilgte (es war offenbar gerade Essenszeit) und triefmäulig erklärte, er habe was Besseres für mich. »Vor Typen wie Ihnen haben mich meine Freunde gewarnt«, wich ich aus. Darauf schrie er, er sei hier der Boss, erboste sich von Bissen zu Bissen mehr und war nahe daran, mir einen seiner Rippenspeere ins Gesicht zu schleudern, als ich mich auf die Straße flüchtete.

Vor tausend Jahren hatten die Chinesen auch so etwas wie Messer und Gabel, verfeinerten jedoch ihr Besteck und erfanden die Stäbchen. Amerika nahm die umgekehrte Entwicklung, zurück zu den Fingern. Man wäscht sich die Hände nicht vor, sondern nach dem Essen. All die schmierigen Lenkräder in den glitzernden Karossen, wenn man sich das vorstellt. »It’s a schlamassel«, sagte ich auf dem Rückzug gutmütig, eingedenk der New Yorker Vorliebe für jiddische Ausdrücke. Aber nicht einmal das Wort Schlamassel schien ihnen etwas zu sagen.

Überhaupt Ess- und Trinksitten. Viele Amerikaner schlürfen ihren Morgenkaffee aus einem Pappbecher auf dem Driveway und finden das praktisch. Mittags dito mit Rippchen o.ä. Natürlich gibt es Restaurants für zarterbesaitete Esser. Dort sitzen die Businessmen an der Theke und schlagen, bevor sie die Suppe löffeln, die Krawatte über die Schulter zurück. Solcher Sinn fürs Zweckmässige gefällt mir. Auch etwa die Art, wie die Strassen angeschrieben sind: 7 AVE, E 23 ST – ein Raunen aus dem All; aber dann auf den Markisen der feineren Häuser steht wieder erdenschwer Two Seventy Nine East Fifty Second Street.

Abends sagte Lenor, sie müsse jetzt in ihre mental group. »Was ist das?« fragte ich erschreckt. »Es heißt  Adult Children of Alcoholics Anonymous.« »Du bist ein Säuferkind!« Sie wiegelte ab: »Nein, mein japanischer Ex-Schwiegervater. Aber ich gehe sowieso nur hin, um die Zeit totzuschlagen. Ich war auch schon gelegentlich in Cocaine Anonymous, Emotional Depters Anonymous, Sex and Love Addicts Anonymous, Codependants Anonymous, Artists Anonymous…« »Wie wär’s mir Authors Anonymous? Bums and Homeless Anonymous? Anonymous Anonymous?« »Gibt’s alles.«

Als sie gegangen war, rief ich Glenn an und wir trafen uns im Ukrainian National Home. Wo früher nur drei alte Männer vor sich hin gebrütet haben, herrscht jetzt an der Theke ein Tumult, dass man sich im Bandenkrieg wähnt. Anschließend lasen wir an einem Geldautomaten ein paar Mädchen auf, die uns den restlichen Abend versauten. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Der Hydrant

Nicht unbedingt aus Liebe zur mexikanischen Küche, aber jedenfalls waren wir ins Restaurant The Hat oder, wenn Sie lieber wollen, El Sombrero geraten. Die Kellnerin Josefina wählte für uns die Musik, stand auf schwingungsfreien Waden und ihrer Kennerschaft gewiss an der Juke Box, als Cindy nach dem Essen zu tanzen begehrte. Da hat es uns erwischt. Wie Frauen nun mal sind: erst hat man keine, dann hat man eine am Hals.

Cindy wohnt auf Long Island und kam heute auf Besuch zu Lenor, bei der ich Gastrecht genieße. Sie war in das Studio im East Village geplatzt, hatte ihren schweinsledernen Koffer abgestellt, dann sich mit amerikanischer Désinvolture erst bäuchlings, hierauf rücklings zur Präsentation ihres Körpers auf dem Bett beim Fenster geräkelt, gereckt und gestreckt. Sehr gut! Vu et approuvé! (Ich weiß wirklich nicht, was ich bis gestern gegen amerikanische Frauen hatte.)

Inzwischen schwebten wir zwischen den Tischen des mexikanischen Restaurants, und da war der gymnastisch-marylineske Eindruck vom Nachmittag schmiegsames Fleisch geworden. Wir konnten gar nicht genug bekommen von der Juke Box voller Trompeten und Julio Iglesias; so romantisch und neuorkisch.

Als das Restaurant schloss, war Lenor müde und wir zogen zu dritt weiter: ach so, da war ja noch dieser bisher schweigsame Junge mit von der Partie. Der nun Cindy in der Temple Bar in ein so fesselndes Gespräch über seine Mutter zog, dass ich mich gleich aufs stille Saufen verlegte. Drei Negroni, und als die immer noch die Köpfe zusammensteckten, mich ganz beelendet abmeldete. Ob ich ihr bitte die Tür öffnen würde, rief sie mir nach.

Ich war ganz von Sinnen über die neue Wendung der Dinge. Ein Reinigungsfahrzeug, das hupend die Houston Street abspritzte – »hose ’em down, hose ’em down!« – übersah ich schlicht und ließ mich am Trottoirrand von der schmutzigweißen Fontäne abduschen. Leidenschaft macht blind; it’s like that and that’s how it is. Aber dann auch wieder alert. Ich machte mich eine halbe Stunde im Bad frisch – eine hygienische Begeisterung, wie sie nur die Aussicht auf eine Liebesnacht auslösen kann. Bloß wo sollte die stattfinden? Lenor am andern Zimmerende atmete regelmässig. Ich sank in das freie Bett und war schon eingeschlummert, als Cindy klingelte. Aufgesprungen und sie im Pijama unter der Tür erwartet. Meine Strategie war, sie sofort in Küsse zu verwickeln, um allen Eventualitäten vorzubeugen. Sie schlüpfte an mir vorbei, verschwand im Badezimmer. Ich legte mich wieder hin, hörte das Rauschen der Dusche: warum nicht bei ihr im Bad Visite machen? Zu meiner Überraschung stand sie im Négligé vor dem Toilettenspiegel. Aber jetzt hatten wir keine Zeit, dem Ursprung des Rauschens nachzugehen, das ich für die Dusche gehalten hatte.

Nachdem Cindy abgereist war, kam ich in einem vietnamesischen Restaurant mit meiner Gastgeberin auf das Geräusch zu sprechen. Lenor war in jener Nacht aus einem Traum erwacht, in dem jemand unaufhörlich Zellophan zerknüllte. Dann hatte sie sich aus dem Fenster gebeugt und den Hydranten gesehen: ein Deckel war weggeflogen und das Wasser sprudelte auf die Straße hinaus. Cindy im Bad übrigens, fuhr Lenor fort, habe sich ebenfalls über das Rauschen gewundert und es für einen Regenschauer gehalten. »Sie hat dir die Badezimmerepisode erzählt?« »Aber sicher doch.« Dass die Weiber auch immer alles ausplaudern müssen.

 

Mannahatta romantisch

»Für 20 Dollar dieses Dirndl, das ist ja geschenkt! Bei Hemisphères in Paris zahlst du dafür das Zehnfache. Probier noch jenes ohne Puffärmel an, das aus dem Hause Wunderlich, allein der Name ist den Preis wert.« Cindy im Bizarre Dirndl!

Der Trödelladen an der Avenue B führte auch einige jener breitspurigen Halsbinden mit Steinzeitdessin, wie sie die Neger zu tragen belieben. Ich winkte ab. »Zu solcher Krawatte müsste ich, um das Bild plausibel zu machen, nochmals spare ribs with a side salad essen, und das nehme ich nicht mehr auf mich.« Aber das rote Wunderlich kauften wir natürlich.

Abends wurde das Dörnl an der Vernissage eines japanischen Künstlers uraufgeführt. Und anschließend musste Cindy in Gottes Namen nach Long Island zurück. Mich wühlt das fortgesetzte Abschiednehmen auf; und will’s doch wieder auskosten. Fuhr also zur Busstation an der 42. Strasse mit. Die ganze Second Avenue entlang, hinter dem Taxifenster, war sie nur noch ein blondes Schemen an meinem Mund.

Unter dem Chrysler Building fuhr der Bus vor und das Wunderlich Dirndl mit dem braunledernen Koffer stieg ein. Ich zog eine Zigarre aus der Brusttasche, wickelte sie sorgfältig aus der Zellophanhülle, zündete sie an, spazierte die menschenleere Park Avenue hinunter. Hin und wieder trat ein Bürospätling mit Aktenkoffer aus einem Hauseingang und hielt nervös nach einem Taxi Ausschau. Ich hatte Lust, noch im Marion’s einzukehren. Jetzt steht es fest: eine Upmann Especial reicht genau für 39 Neuorker Straßenblocks plus einen Martini.

 

 

Mit Duchamp nach Louisville

Man unterhielt sich über Duchamp, und wer über Duchamp spricht, dem fällt Philadelphia ein, denn Philadelphia beherbergt Duchamps Hauptwerke, dies dank jenem Erben eines jener sagenhaften amerikanischen Vermögen (»Stahl, Penn Central oder so«, präzisierte unser Freund, Prof. Moreno), welcher eine fabelhafte Duchamp-Sammlung angelegt und sie dem dortigen Museum vermacht hat; Walter Arensberg natürlich, nicht Moreno. Wer aber, warf jemand ein, kommt schon je nach Philadelphia? Ich zum Beispiel habe die bisher einzige Gelegenheit dazu am 23. Dezember 1975 verpasst, als ich mit meinem neuen, wenn auch schon altersschwachen Mercury an der Stadt vorbeifuhr, dann an Baltimore, an Washington vorbei: in New York war mein Bedarf an mulmigen Gefühlen fürs erste gedeckt worden, ich hatte keine große Lust auf große Städte, und vom Großen Glas hatte ich noch nie gehört, als junger Mensch, dem Duchamp selbst kaum ein Begriff war. Noch eher wäre damals ein Grund, mir Philadelphia anzusehen, der gewesen, dass mein Auto zufällig Pennsylvania lincence plates hatte: Quaker State, stand darauf, und dieses Kennzeichens wegen, zusammen mit meinem deutsch angehauchten Akzent, sollte ich auf jener Reise noch öfter gefragt werden: »Are you amish?« Man schien mich ohne weiteres für einen arischen Sektenbruder und Puritaner reinsten Zuschnitts zu halten, und entsprechend erlebte ich Amerika. Oder hängen nicht vielmehr, fällt mir jetzt ein, die Amischen der Vielweiberei an?

Am ersten Tag fuhr ich bis Charlottesville, Virginia. Am 24. dann muss ich auf dem Interstate 64 – es lässt sich mit Hilfe einer Straßenkarte rekonstruieren – die Appalachen überquert haben. Mein Gedächtnis würde mich gänzlich im Stich lassen, wenn nicht im Gebirge mein goldener Mercury mit rauchendem Motor liegengeblieben wäre: ich ließ mich zu einer Tankstelle abschleppen – bei White Sulphur Springs schätzungsweise –, und dort behob man den Schaden, ein Leck im Kühler. Am Nachmittag rollte ich in eine Schneewittchenlandschaft hinein, nur mit Schwarzen vor den Hütten; und das Bild jener lieblichen Nebenstraße verbindet sich mit dem eines bedrohlich im Rückspiegel auftauchenden Lastwagens, der mir über mehrere Meilen im Nacken saß, wie in dem Film Duel, den ich damals noch nicht gesehen haben konnte. Dann erreichte ich Frankfort, die Hauptstadt des Staates Kentucky, und endlich Louisville.

Bei der Zimmersuche ließ ich anscheinend nicht die nötige Umsicht walten. Louisville hatte damals laut meinem alten Road Atlas 298 451 Einwohner, sicher auch viele Weiße, aber gerade in dem Hotel war ich der einzige solche. Nachdem ich ein wenig geruht hatte, freundete ich mich mit der Aussicht an, den Heiligen Abend allein in einer Bar zu verbringen, und parkte meinen Mercury vor einem mit bunten Glühlämpchen lockenden Lokal. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, kein Ereignis, geschweige denn eine Madeleine, um mir die Stimmung jener Weihnachtsnacht irgend vergegenwärtigen zu können. Nur an den Morgen erinnere ich mich, weil meine schwarzen Wirte schon um sechs Uhr früh an meine Tür pochten und verlauten ließen, das Zimmer werde gebraucht; so dass ich unbescholtener Jüngling ziemlich verdattert im Morgengrauen des 25. Dezembers 1975 mit meinem Mercury südwärts auf den Interstate 65 einbog.

 

¡Papito!

Sie stand an einer Ampel, Ecke Arenales und Esmeralda, und gähnte herzhaft; er nahm es als Einladung zum Anbandeln. Sie kam gerade von einem Abendkurs in Lebenshilfe (»Sei Herr deiner Irrtümer«, u.ä.), und als sie im Café saßen, bemerkte sie alsbald, sie sei immerhin geistig gerüstet für die Eventualität, sich sterblich zu verlieben und dann schmählich verlassen zu werden.

Soweit ist es jetzt gekommen. Er weiß nur nicht wie. Eine wohltuende Langeweile, die Routine der Befriedigung beginnt den Reiz der ersten Begegnungen abzulösen. Zweimal in der Woche geht man essen, und bei Tisch tuschelt sie ihn sozusagen ein, zieht wieder und wieder das Register schmutziger Lobhudeleien, begleitet von frohlockendem Gelächter. Dann geht es zu Bett.

Das geschieht meist in einem jener Liebeshotels, die überall in Buenos Aires mit dumpfem Lichtschimmer der geneigten Kundschaft sich anbieten, gemeinhin telo genannt, wenn auch der offizielle Name albergue transitorio lautet. Beim ersten Mal verloren sie einen Teil der kostbaren zwei Stunden, weil er zuerst staunend all das sachdienliche Beiwerk, von der durchsichtigen Dusche bis zu einer Art Pauschenpferd für bockigere Leibesspiele, bewunderte und dann vor Lachen nicht an sich halten konnte, als er noch auf dem Kopfkissen das Wort transitorio las.

Bloß, wie gesagt, so vorübergehend scheint die Affäre nicht zu sein. Schon kann er das liebreizende Liedgut nachsingen, mit dem sie ihn jeweils beim Abschied bezirzt, und kürzlich sind sie in der Calle Azcuénaga gesehen worden, als sie gerade aus einem telo kamen und gemeinsam Tangos mit obszönen Textvarianten trällerten. Sie haben sich nicht viel zu sagen, daher wird ihnen alles Melodie. Sie hat angefangen, ihn papito zu nennen, was er als Pendant zum afroamerikanischen big daddy auffasste, d.h. als durchaus ehrenhaftes Kosewort, bis er einmal vor einem Schirmgeschäft eine alte Dame zu ihrem gebrechlichen Gemahl sagen hörte, »Der Stock mit dem Bernsteinknauf würde dir gut stehen, Papito.«

In der Liebe sieht er sich in einer ungewohnt passiven Rolle: schläft unter den letzten zarten Belagerungen des indianisch-türkisch- kalabrischen Geblüts ein, und beim Erwachen kann er sich ihrer physischen Liebesbeteuerungen schon wieder nicht erwehren, obwohl sie ihn zwischendurch rhetorisch um Billigung bittet. Als Europäer muss man sich erst an eine so zähe, so dienerliche Hingabe gewöhnen (es ist nicht schwer). Aber wie dieser Frau und Dienerin eines Tages adieu sagen?

 

 

Buenos Aires, Ende Dezember

Navidad, klingt wie Naivität: ein guter Name für Weihnachten, auch bei 30 Grad. In der Nochebuena lag die Avenida Córdoba, über die sonst Kohorten scheppernder Fords in die Stadtprärie hinauspreschen, still und scheinheilig da; vorübergehend ausgestorben.

Ich wohnte wieder im Hotel Phoenix. Beim Hinausgehen sah ich meine Zimmernachbarin durch die halboffene Tür allein vor ihrem elektrisch geschmückten Bäumchen. Man begegnete dieser Greisin mit Achtung; allmählich erkannte ich, wie sorgfältig sie mit ihrem Leben umgeht. Nachmittags in der Lobby wurde sie von bejahrten Herren in förmliche Gespräche gezogen. Ich hingegen war nur ein Passagier, dem Portier unter meiner Zimmernummer bekannt: »Buenas noches, Tresdiecisiete«, rief er mir nach.

Ich speiste im Restaurant um die Ecke. – Beefsteak, sagt man, sei melancholiefördernd; stimmt wohl, wenn man an Argentinien denkt. Ein bisschen genierte ich mich meines Alleinseins. Aber zum Festessen mich ins Elternhaus von Freunden einladen zu lassen, wäre mir noch mehr zuwider gewesen. So saß ich grämlich unter einem ausgestopften Pinguin (embalsamado, nannten sie ihn) vor meinem bife. Einmal hielt ein Bus, der Fahrer sprang heraus und holte sich am Grill ein gutes Stück Fleisch. Die wenigen Fahrgäste warteten geduldig, ich betrachtete ihre Gesichter hinter den schmutzigen Scheiben des colectivo. Die Prager fielen mir ein, die ich einmal bei einem Stromausfall, welcher die ganze Nacht anhielt, in den Straßenbahnen schlummern gesehen habe.

Dieses hundstäglich-altjährliche Buenos Aires war auch in den folgenden Tagen nicht die verheißungsflimmernde Stadt, die ich kannte. Feiertage, der Menschheit zu Trübsal und Zerknirschung verordnet. – Zu Silvester sah ich einen schönen Brauch. Da segelten aus den Büros in der City tonnenweise Papiere auf die Straße: Bilanzen, Geschäftsbriefe, Kurszettel, Kalenderblätter – der ganze irre Papierkram wurde einfach aus den Fenstern gekippt und sofort von Straßenkehrern mit Luftdüsen zu Bergen zusammengepustet. Noch am Nachmittag sah man Geschäftsherren, die achtlos durch die Papierhaufen in der Calle Florida stapften, das drahtlose Telephon in der Hand, und lauthals mit der größten Unverschämtheit die letzten Börsennotierungen in die Muschel schrien.

Vor meiner Abreise ging ich in die Confiteria Ideal, einen jener Orte auf der Welt, die am kräftigsten das Aroma einer andern Zeit atmen, der Belle Epoque genaugenommen; wo das Alte, das es auch sonst gibt, unverfälscht, von keinen neuen Beiträgen überwuchert und zerstört ist. Für ein Filmdekor brauchte man hier keinen einzigen Gegenstand zu entfernen, es sei denn die Orgel ELKA, die in die 60er Jahre gehört. Abgetaucht in diese andere Zeit (stilgerecht totenbleich dazu die Kellner), und dann erklang noch durch die offene Tür die Panflöte des Messerschleifers; im Aufschauen sah ich sein Schemen gerade hinter dem Türausschnitt vorbeiwischen. Und wieder das leise Klappern der rauchgeschwärzten Ventilatoren.

 

 

Tage im Diminutiv  

In der Stadt La Paz haben Steuerberater ihre Büros an Straßenecken aufgebaut, Schreibmaschinen, daneben Formulare und Kohlepapier auf minimalen Pulten im Verkehrsgewühl, umkurvt von Kleinbussen, aus deren Fenstern Knaben mit Glockenstimmen die Fahrstrecke ausrufen: »Miraflores-Satélite!« Träumerisch stimmen am Markt die vielen verschiedenen Kartoffelsorten; es soll ihrer in Bolivien über siebzig geben, und die lisas, die tuntas und die chunas sind nur die bekanntesten davon. Eine alte Indianerin, der wir ein Fünfpesostück zusteckten, breitete sachte ihre Schürze aus, um die Gabe nicht mit den Händen entgegenzunehmen. Eine enorme Metzgerin saß im Schneidersitz, ein blutiges Messer in der Faust, umrahmt von aufgehakten Lendenstücken, auf der Fleischbank und unterhielt sich mit einer Kundin. Als wir das Phänomen photographieren wollten, empfahl sie, morgen wiederzukommen, sie werde dann Ohrringe tragen und das Fleisch werde schöner aussehen. Interessant sind die Fernsprecher an vielen Kiosken, Hausapparate zur öffentlichen Benützung, die oft farbige, handgestrickte Wollkleidchen tragen, vielleicht damit das Telephon in den kalten Nächten nicht friert. Das sind einige der Dinge, die einem in La Paz auffallen.

Die topographische Lage und das Klima verschiedener Hauptstädte des spanischen Kolonialreichs sind ungewöhnlich: über Lima, wiewohl in Äquatornähe, hängt monatelang eine graue Wolkendecke und La Paz, auf hochalpinen Höhenlagen, ist in eine Senke unterhalb des Altiplano gezwängt, aus welchem unmittelbar Schneeberge of great grandeur – so ein Reiseführer – herauswachsen.

Die höhere Gesellschaft bewohnt die tieferliegenden Viertel, zugänglich über die Avenida Arce; in einer Haarnadelkurve wacht Militärpolizei mit schnöden Gewehren darüber, dass nicht die falschen Leute in den vornehmen Stadtteil geraten. Die indianische Bevölkerung haust in der dünneren Luft an den Kesselrändern und die Lichter ihrer Hütten stirnen abends vieltausendfach den Stadthorizont. Ihre Märkte sind von nie gesehener Weitläufigkeit. Ich habe mir einen exquisiten Flanellpyjama aus Shanghai gekauft, den man seines Dessins wegen als umgekehrten Stresemann bezeichnen kann. Zwischen Bolivien und der Volksrepublik China scheint es ein Handelsidyll zu geben und man kommt mit den Taschen voll Kleinzeug ins Hotel zurück, Knöpfen, Federn, Streichhölzern, Robotern, Figurinen zur Abwehr von Dämonen. Bolivien ist ein Land der Verkleinerungsformen, nicht nur in grammatischer Hinsicht, sondern das Leben selbst ist klein, die Gegenstände selbst sind oft Miniaturen. An einem heidnisch-christlichen Volksfest sollten wir Näheres erfahren.

 

Unter katholischen Zenheiden   

Wo immer wir hinkamen, war gerade ein Fest im Gange. In Iquitos eine Militärparade zu Ehren der Santa Rosa. In Cusco Prozessionen und Feuerwerke, in einem Klima sozialer Verzweiflung (krachte es in der Ferne, so unterschied man erfahrungsgemäss zwischen Knallkörpern und terroristischen Artefakten). In einem Weiler bei Pisac tanzten phantastisch vermummte Bauern zu Harfenmusik. Bei den Silberminen in Potosí ein Blutopfer, die quilacha der indianischen Bergleute; auf Schubkarren lagen schon die Köpfe, Pfoten und Eingeweide zweier geschlachteter Lamas, die einem Götzen im Berginnern dargebracht werden sollten, und ein drittes Tier lag gefesselt zur Schächtung bereit. Musik spielte auf; sonderbar fahrig-teilnahmslose Betrunkenheit der Anwesenden. Als dann das Messer angesetzt wurde, waren sogleich Weiber und Kinder mit Suppentellern zur Stelle, um das Blut aufzufangen und es (nicht anders als der Wiener Aktionist Nitsch) an die Mauern über ihren Haustüren und über der Schachteinfahrt zu klatschen. So halten sich die Aymaras Dämonen vom Leib.

Aber das Delirium der Delirien, ein nichtendender Taumel waren die Candelaria-Feierlichkeiten am Titikakasee. Das Stadtbild wird von den Silhouetten der cholas dominiert, der Bolivierinnen mit ihren auf dem Haupt thronenden Hüten, unter denen armdicke Zöpfe auf gold- oder silberdurchwirkte Organzaplissées und Sammetröcke niederfallen. Auf dem Rücken anderer birgt ein mit reichverzierten Schnallen geschlossenes Wollbündel den Säugling. Zweifellos bildet die Kleidung – Rosa, Fuchsia, Lila, Aquamarin, Türkis, Café; auch leuchtende Blau und Grün, Tupfer von Gelb und Orange – einen erwünschten Kontrast zur kargen Landschaft. Die Männer tragen fabelhafte, aus alten Pneus gefertigte Schuhe. Staubige Gassen voller Blechblasmusiken, Flittermädchen, Altherrenclubs wie aus Spiel mir das Lied vom Tod, die durch die Menge defilieren, dann wieder in Häuser einkehren, wo Bier und Himbeerschnaps fließen. Der erste Schluck wird auf den Boden gekippt, zum Wohl der Erdgöttin Pachamama.

Klapprige, mit allerlei Firlefanz dekorierte Lastautos bringen die Festbevölkerung in die Stadt und beherbergen sie unten am Strand. Dort werden die Fahrzeuge in wahre Altäre verwandelt, über und über geschmückt mit Modellen schöner Camions und Eigenheime, mit Votivbildchen und Heiligenstatuetten, umrahmt von Girlanden, oft aus nachgedruckten Dollarscheinen, die man auch als Amulett um den Hals trägt. Derlei Fetische werden von Straßenhändlern feilgeboten und von ihren Besitzern in die Kathedrale mitgenommen, um sie segnen zu lassen. Alles drängt sich vor dem Altar der schwarzen Madonna und das Benedeien nimmt kein Ende, außer wenn vorübergehend das Weihwasser ausgeht, denn die Gläubigen bringen Kanister und Flaschen mit, um sich für den Hausgebrauch einzudecken. Auf die eine der beiden Hügelkuppen über der Bucht pilgern Scharen von Büßern, während auf der andern tagein tagaus zur Besänftigung der Pachamama Dynamitladungen gezündet werden und mit dumpfem Knall hochgehen, Rauchwolken am Himmel verfliegen.

Im glanzvollen Abendlicht posieren die Indianerfamilien vor ihren Fahrzeugen zum Erinnerungsbild. Dann geht der Mond über dem Titikakasee auf und die Luft ist voller Musik. Am Feuerwerk auf dem Platz werden letzte Retouchen vorgenommen. Es handelt sich dabei um hohe Bambusgerüste, bewunderungswürdige Konstruktionen, die binnen weniger Stunden zu Turmhöhe heranwachsen und an denen die Feuerwerkskörper angebracht werden. Wieder scheppert eine Blaskapelle los, mehr oder weniger planmässig brennen die fragilen Bambusdome ab und in ihrem Funkenregen tanzen wilde Kinder.

 

 

Der Silberberg

Es ist später Nachmittag. Der Cerro Rico, ein fast vollkommener Kegel, nur über und über verwundet, zerschürft und durchlöchert, steht vor dünn-gläsernem Himmel im Huschen des letzten Lichts. Am Schoß des Berges liegt die Stadt, welche die Spanier in ihrer maßlosen Gier nach Silber wider alle Ungunst der Lage zu einem geschichtlichen Phänomen gemacht haben: eine größere Einwohnerschaft siedelte im frühen 17. Jahrhundert in dieser Bergwüste, als in Paris und London. Auf 4500, 4800 Meter über Meer, Wochenreisen unwegsamer Einöden von den Pazifikhäfen entfernt, wurden die Indios in die Nacht des Bergwerks geschickt (acht Millionen sollen seit 1545 in den fünftausend Stollen und in den Veredelungswerken der Stadt ihr Leben gelassen haben), wurden die Erze herausgeholt und amalgamiert, Tonnen des reinen Metalls auf Lamas gepackt und durchs Gebirge, dann nach Sevilla verfrachtet, auf welcher Überfahrt die Spanier große Teile davon wieder an holländische, englische, französische Piraten verloren. Das merkantile Europa ist ohne Potosí-Silber nicht denkbar und wir können heute sagen, ein Wahn, eine Verblendung habe die vernunftvollen Krämergenerationen gezeugt, aus denen wir hervorgingen. Die Andenstadt ist zu Bedeutungslosigkeit herabgesunken, aber Silber und Zinn werden weiterhin mit nahezu denselben archaischen Methoden abgebaut und wir sind heute, was mir nachträglich völlig unwahrscheinlich und irreal erscheint, stundenlang tief im Innern dieses Bergs herumgekrochen, haben seine Gase geatmet und den Bergleuten Brot, Dynamit und Kokablätter mitgebracht.

Wir waren auf einen Jeep geklettert und mit einer Gruppe Franzosen zu einer Schachteinfahrt hinaufgefahren, dort mit Helmen und Acetylenlampen ausgerüstet worden und in das Mundloch eingestiegen. Unter Tag schickt sich der Mensch wie in jede andere in seine neue beengende Lage. Der indianische Führer machte wenig Aufhebens davon, uns tief in den Eingeweiden des Bergs durch mausenge Löcher robben zu lassen oder uns auf knappem Gesims an einem Abgrund vorbeizuschleusen, in welchem die Gebeine wer weiss wie vieler Bergleute lagern und in den er Steine hinunterwarf, um mögliche Zweifel zu zerstreuen, dass er auch wirklich zweihundert Meter tief ist. Endlich gelangten wir, Kokablätter als Stimulans und Filter gegen die zunehmend unangenehmen Gase kauend, durch teils entmutigend windungsreich, dann wieder schnurgerade und – nach indianischen Masstäben – mannshoch vorangetriebene, vielfach sich verzweigende, auch zu andern der insgesamt siebzehn je dreissig Meter auseinanderliegenden Sohlen oder Strecken hinauf- oder hinabführende Stollen, in denen wir manchmal den Verlauf der Silberadern erkannten, zu mehreren Mineuren oder Hauern der Knappschaft, die diese Mine ausbeutet. Absonderliche Begegnung mit diesen Gesichtern, rot und durch einen grossen Höcker entstellt, den die in der Mundhöhle zu einer Kugel zerkauten Kokablätter bilden. Wortlos steht man sich gegenüber und sie nehmen die Geschenke entgegen, die Dynamitstangen und das Brot, revanchieren sich mit silberhaltigen Gesteinsproben, bevor sie sich wieder dem Gewänd zukehren und das Spitzeisen ansetzen.

Der Rückweg wurde uns lang und der Führer gönnte uns im Uterus einer ausgeräumten Kammer eine Verschnaufpause. Wie lächerlich es auch wirkte, dass dort nun einer der Franzosen eine Khena hervorzog und darauf zu spielen und zu flöten begann, so lauschte doch alles stumm ergeben diesem Ausdruck eines stümperhaften und metaphysischen Tourismus.

 

Algier, nichts tun

Ich schreibe Ihnen aus einem Garten, in dem alle Bewegung sich in ein Flimmern aufgelöst hat. Die Mücken selbst scheinen in der Luftbstillzustehen. Es kann vorkommen, dass ein Hotelgast auf der Treppe erscheint, unschlüssig auf der letzten Stufe stehenbleibt, bis er doch durchs Gartentor hinauseilt, nur um gleich wiederzukehren, in der Halle zu verscheinden, neuerlich durch den Garten zu streichen: solche Typen sind noch nicht in die Langeweile eingebettet, diersen Wirbelsturm in Zeitlupe, wie jemand den ennui beschrieben hat; haben sich noch nicht damit abgefunden, dass nichts zu tun ist, nichts geschehen wird. Denn dass nichts geschehen wird, das ist die eine, alles einmummende Gewissheit. Ist nicht das Arabische die Sprache,, die schon mal gar keine grammatische Form für die Zukunft kennt? Da uns die Vorstellung lieb ist, passend scheint, wollen wir sie lieber nicht auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Ich sitze vielleicht den halben Nachmittag jenseits jedeweden Begriffs von Geduld und Drangsal in dem Garten, bis es dem Neger überhaupt einfält, das Café zu öffnen. Mir nun von dem schwarzen Mann einen Tee bringen zu lassen, ist mir sehr behaglich, finde ich entzückend. Ich höre freilich schon, wie Sie mich einen Herrenmenschen oder Schlimmeres schimpfen, aber sachte, sachte, was ist denn dabei Unehrenhaftes, Tee zu servieren? Ich fände es ja, nebenbei bemerkt, sogar ziemlich charmant, wenn zum Beispiel sieben Neger die Schweiz regieren würden. Wie in finsterer Blitz fährt mir nun die Frage ins schlenkernde Gemüt, ob nicht in meinem Vaterland durch die Zusammenfassung von »Justiz- und Polizeidepartement« der Gewaltentrennung Gewalt getan wird? Und wie steht es um Gesundheit und Kunst, die im Departement des Innern zu widernatürlicher Eintrascht angehalten sind? »Abteilung für Genie und Festungen«, las ich einst staunend an einer Tür in unserer Hauptstadt, während mir hier die an nahezu allen Hauseingängen prangenden Namensschilder der Muftis die Vorstellung einer enormen, akribischen, die Forderungen des Islam, des Sozialismus und der französischen Jurisprudenz auspendelnden, in tausend Schlichen und Sophistereieb bewanderten Rechtssprechung eingaben. Nicht reden zu müssen erleichtert mich ungemein. Gestern abend saß ich in einem Kaffeehaus, als sich so ein alter Habicht mir gegenüber aufpflanzte und mich misbilligend ansah. Als gäbe es an meiner muße etwas zu kritteln. Dann immer noch kopschüttelnd um den Tisch schlurfte und Anstalten machte, sich zu mir zu setzen. Aber doch nicht. Algier, null Bock, lassen wir das, schien auch er sich zu sagen, rückte den Stuhl weg und setzte sich in einiger Entfernung darauf, von wo aus er mir weiterhin verächtliche Blicke zuwarf, den Kellner küsste, vor sich auf den Boden zu spucken gedachte, dabei jedoch seine Dschellaba traf. So ein Na wenn schon, und überhaupt, von wegen… Alger, Algier, Argel, El Djazair… Klaxons, Raï-Geschrei, Hefeteig, Tee, Sirup, Limonade!

 

Hände (Tändelei zwischen Tanger und Fes)

Dieses Gesicht ist die Arbeit eines verliebten, von der Vision reifer Schönheit befeuerten Steinmetzes, und zum Beweis, dass die Materie Seele hat, ist eine Mimin, ich will sie elysäisch nennen, in sein Bildwerk gefahren, um es in bewegten Ausdruck zu verwandeln; die Intendantur dieses Wesens sodann, nach seiner Vervollkommnung trachtend, hat eine sinnbetörende und unterhaltsame Prosa gefunden und ihm eine in ihren Modulationen keinen Augenblick beirrte Stimme verliehen. Die Frau ist mit ihren halbwüchsigen Söhnen und einem schon älteren, schwerfälligeren Weib, ihrer Mutter offenbar, in Ksar-el-Kebir zugestiegen. Aber anstatt sich nun ihrer Gegenwart, noch dazu im Genuss der Ortsveränderung, des Gerüttels und Geschlenkers des Zugs zu erfreuen, ist der Reisende ganz benommen von ihrer Lebensfülle und schrumpft an seinem Fensterplatz immer mehr ein, mit einer plötzlichen Unbeholfenheit ringend, obwohl doch die Großartigkeit, die ihn erdrückt, zunächst nur seiner Vorstellung entspringt, denn von der Unterhaltung, welche die Frau führt, und der das Gelächter, Widerspruch oder Zustimmung der Söhne, auch etwa ein Einwurf der Mutter antworten, versteht er nichts, vermag allenfalls anhand ihres Mienenspiels, in das er nicht einbezogen wird, ihren Erzählungen ahnend zu folgen. Die Gebärden indessen, mit denen sie ihre Rede unterstreicht und schmückt, stellen rotfingrige, an ekles Gewürm erinnernde, bis zu den Handgelenken von einem gelblichen Karmin verfärbte Hände zur Schau: eine Färberin, daher diese hennaroten Glieder, die den ganzen Adel der Erscheinung in Abrede stellen, und mit denen sie nun in einen Plasticteller greift, ölige Stücke einer Mahlzeit herausfischt und zum Mund führt, alsbald die Erzählung wieder aufnimmt.

Der Schaffner betritt das Abteil, ein fescher Kerl, bemützt und bemüßigt, sich mit seinen Fahrgästen zu verlustieren, und greift ihr ohne weiteres – ob sie schwanger? – an Bauch und Busen, was sie sich anmutig gefallen lässt, auch zur Fortsetzung der Tändelei geneigt, zumal der Schaffner der Liebenswürdigkeiten noch manche auf der Lippe führt, als es im Abteil auf einmal – der Zug ist in einen Tunnel gefahren – dunkel und gleich darauf auch still wird. Als es ebenso unvermittelt wieder hell wird, hält er zärtlich ihre Hand, die sie ihm huldvoll, wie zum Kusse, überlassen hat, und die er endlich unter den amüsierten Blicken der andern zögernd loslässt, um sich gebührend frivol zu verabschieden uns ins nächste Abteil zu verschwinden.

 

Phänomene des Luftverkehrs

Ich liebte das Fliegen. Gott, diese lächelnden Wölkchen wie Weißwäsche im Tumbler, wenn das Flugkörperchen sie durchfetzte, und daneben die stumpfen Passagiere, die ungerührt das Feuilleton lasen, als sei es eine Kleinigkeit, so und soviele Tonnen Stahl und Kerosin plus ihre Wenigkeiten in die Lüfte zu befördern. Andere hatten sich schon beim Start Kopfhörer aufgesetzt und lauschten andächtig Kris Kristofferson, während die aeronautische Hülse ins Ungewisse hinausraste. Später, nachdem wir einige Stunden der Erdkrümmung entlang geglitten waren, ebbte das Gefhl einer von der Technik gewährten Erhabenheit auch in mir ab und ich entschloss mich, ein wenig beim Bordpersonal hinten herumzulungern. Du liebe Güte: da kämpfte gerade ein Steward mit den Düsen der Wasserversorgung, die in der Küche eine Überschwemmung angerichtet hatten.

Vielleicht ist man nicht fürs Fliegen geschaffen, wenn man es denn so aufregend findet. Andererseits finde ich es ebenso spannend und interessant, eine graurosa Vorstadtstrasse entlangzufahren. Man sollte nicht soviel Aufhebens davon machen, dass ein großer komplizierter Apparat am Rand einer großen fremden Stadt sich in den Himmel schwingt, um einen in einer andern großen fremden Stadt abzusetzen.

Kaum waren wir nach vielstündigem Flug gelandet, als alle sich wie nach einer Straßenbahnfahrt erhoben und zum Ausgang drängten. Woher diese Eile? und dann müssen sie doch jeweils noch schiefköpfig unter den Gepäckablagen warten, bis die Tür geöffnet wird. Andere Frage: warum kommt mein Koffer immer als letzter einsam und würdevoll auf dem Rollband an? Immerhin fand ich einen freien Caddie, nur dass wie gewohnt ein Rad blockierte, sobald man den Koffer auflegte, und mit dem Gefährt plagte ich mich nun durch die Abfertigungshalle, unter möglichster Schonung von Blumentöpfen, Beinen und andern Caddies, in die er sich zu verkeilen drohte. Warum hat Tati nie einen Flugplatzfilm gemacht? Hätte ich es nicht aufgegeben, würde ich noch heute dort meine Kreise drehen.

 

Die Zeit in Cádiz

Bei euch ist es wohl längst finstere Nacht, wenn zur selben Stunde bei Cádiz »die rote Sonne im Meer versinkt.« Kein Thema ist mir lieber als derlei Banalitäten, epidermale Phänomene, die bestimmt weder metaphysische Spekulationen herausfordern noch irgendeiner tieferen Bedeutung verdächtig sind.

Es war somit noch heller Tag im Südwesten der mitteleuropäischen Zeitzone, aber in den Himmel über der Bucht von Cádiz war schon die Mondsichel eingraviert, als ich das Hotel verließ und im Vorübergehen einen Blick auf eine Wanduhr in einer Bar erhaschte: dreiviertel sieben. Später als angenommen. Ich ging in die Richtung, in der ich das Zentrum vermutete, kam am Geburtshaus des Komponisten Manuel de Falla vorbei, die Kirchturmuhr von San Francisco stand auf halb drei: das konnte nun eindeutig nicht stimmen. Gleich darauf zeigte eine Digitaluhr in einem Schaufenster 21:42 an. Da ich immer stadteinwärts gegangen war, gelangte ich auf der andern Seite der Halbinsel wieder ans Meer und spazierte dem Ufer entlang bis zu einem Park mit seltsamen, spiralförmig geschnittenen Sträuchern und großen Bananenbäumen; unter einem von ihnen fiel’s mir ein, eine Staude auszugraben und mitzunehmen (für dich, my Lovely). Dann betrat ich eine Bar (Uhrzeit: knapp vor zwölf), trank meinen Wein in einem Zug aus und bat um eine Plastictüte für meine Bananenstaude. Auf dem Rückweg sah ich Fallas späteres Wohnhaus, es erschien mir stattlicher als sein Geburtshaus: da war immerhin eine Folgerichtigkeit zu erkennen. Es hatte nun sogar eingedunkelt und die Uhr an der Hauptpost stand auf zehn vor vier. Nun gut, überlegte ich: Cádiz rühmt sich, die westliche Stadt mit der längsten Geschichte zu sein. Dreitausend Jahre seit den ersten phönizischen Siedlern, da sind ein paar Stunden mehr oder weniger nicht von Belang. Ich setzte mich in ein Kaffeehaus und entfaltete die dünne Zeitung, die ich am selben Morgen in Tanger gekauft hatte. Die Titelseite bestand aus lauter Huldigungen an den marokkanischen König und ich hatte sie alle schon bei der Überfahrt gelesen, bis auf eine kleine Notiz folgenden Wortlauts:

 

Le croissant lunaire du mois de Chaâban 1413 a été observé samedi 29 Rajab 1413, correspondant au 23 janvier 1993, indique un communiqué du ministère des Habous et des Affaires islamiques qui précise que les nadirs du Royaume, contactés à ce sujet, ont confirmé l’observation légale du croissant.

De ce fait, le mois de Chaâban a commencé dimanche 24 janvier 1993, ajoute le communiqué.

Puisse Dieu faire de Chaâban un mois de bienfaits à Amir Al Mouminine, S.M. le Roi Hassan II, à S.A.R. le Prince Héritier Sidi Mohammed, à S.A.R. le Prince Moulay Rachid et à tous les membres de la Famille Royale ainsi qu’au peuple marocain et à toute la nation islamique.

 

Da staunte ich nun nicht schlecht in meinem abendländischen Kaffeehaus (dessen Wanduhr um fünf nach fünf stehengeblieben war): dass ein Ministerium für unveräußerliche Güter anhand des gesetzmässig beobachteten Neumonds nachträglich das Datum festlegt. Was wäre für uns sicherer vorherzusagen als eben der Kalender, auf alle Zeiten hinaus? Aber da unser Datum, ebenso wie die Uhrzeit, Jahrtausende im voraus feststehen, sind sie auch völlig aus der Luft gegriffen, und sollte es nun wirklich, wie mir der Kellner mit Blick auf seine falsche Rolex mitteilte, gleich acht Uhr sein, so war mir, als spürte ich den Minutenzeiger, der nicht wegen, sondern trotz und entgegen dieser Vorbestimmtheit auf die Wahrheit der Stunde vorrückte.

 

 

Lisboetisches Kesseltreiben

Die Elektrische ruckelte ins Blickfeld, bergauf, wie durch ein Fernglas herangeholt, und zog, ein Phänomen, scharf an der Terrasse des Santo André vorbei, auf der Johanna saß; glitt in einer Schleife davon und über den Buckel der Kreuzung wieder abwärts, verschwand endlich hinter der lila Kirchmauer vis-à-vis. Johanna rief die Kellnerin, bezahlte, folgte den Gleisen, tauchte in eine engere Gasse. Um nicht gesehen zu werden, sah sie auch nicht hin, ging blind den Geräuschen lauschend zwischen den Häusern: eine Säge, schrill ein Telephon, aus einem Fenster ein Papagei, das Klackern von Dominosteinen, übers Pflaster gerollte Weinfässer, der Freudenschrei eines Mädchens, als in einer Schenke der Fernseher eingeschaltet wurde, Orgelmusik aus der Kathedrale. Sie hielt wieder aufwärts, lehnte sich an eine Brüstung, die Stadt unter ihr durchtrieben, gespickt, die Patés der Häuser mit ihren bleich orangen Dächern, eins am andern, »das heißt Städte bauen«, fiel ihr ein, und wie sie so, treppauf treppab und querein, um den ganzen Kastellberg herumging, fühlte sie sich in einem Escherschen Lissabon. Beißender Rauch der Holzkohlegrills, auf denen Sardinen geröstet wurden; es war Juni, Mittag.

Nun geriet sie ins Trommelfeuer der Baixa, in dieses Lissabonner Sammelbecken, den lisboetischen Kessel, in den die Stadt sich ergießt, das Tobel, das der Rossio ist. Drei Blinde stocherten sich aus dem Bahnhof heraus, Brigaden von Schuhputzern, der Himmel trügerisch, ein Amerikaner sagte: »And he couldn’t understand what I was talking about. But I said credit card.« Und wieder jener Klarinettist an der Ecke, der die immer gleiche gelassene Klage hervorstieß. Noch Wochen später war ihr die Tonfolge gegenwärtig.

Sie setzte sich in eines der Restaurants an der Rua do Ouro, in denen all das Büromenschenwesen, das angeblich weiß, wohin und weshalb, zu Mittag isst. »Anscheinend empfinden sie es nicht einmal als Strafe.« Von zweien dieser Kadaver in spe, die am Nebentisch saßen, wurde sie angesprochen, und als wären sie es der Fremden schuldig, kam die Rede sofort auf Pessoa; sie glaubte nun besser zu begreifen, weshalb dieser Dichter der Gebärde des Überdrusses postum zu einer Art Nationalheld werden konnte; seine Figur war noch immer lebendig zwischen all den Jemanden und Niemanden, die in den Baixa-Restaurants ihren Stockfisch verzehren.

Die beiden Tischnachbarn waren Angestellte des Banco Nacional Ultramarino, wobei sie das Ultramrino mit einem affektierten, ironisch gemeinten Unterton aussprachen; immerhin gab ihnen diese Stellung die Muße, Johanna zu einem Dessertwein in eine Bar einzuladen und anschließend die Gelegenheit zu einer hemmungslosen Sauftour durch weitere angeblich Pessoa’sche Schenken zu nützen. Endlich rissen sie sie durch einen unscheinbaren Eingang in der Rua das Portas de St. Antão eine Treppe hoch, die in den maureken Patio eines unverhofften Palastes führte, unter dessen Laubengängen auf schwarzen Sesseln alte Männer Siesta hielten, die träumten, der Papst hadere mit ihnen, weil sie mit Jünglingen wüste Gelage in Schneehütten hielten. Ob sie etwas trinken möchte? Die beiden Bankbeamten hatten Johanna an verschiedenen Salons vorbei in die Bar im Pbergeschoß geführt. Sie lehnte ab, verabschiedete sich hastig. »In Lissabon werden Sie alles erreichen!« blökten sie ihr nach. Als sie im Gemauschel der Leute wieder auf den Rossio trat, setzte endlich, weißsprühend, atlantisch hell, ein feiner Regen ein.

 

 

Die Gräfin tanzt

»Ist hier noch frei, Madame?« Ich erschauerte angemessen, als ich der betagten Dame, die mir von hinten durch ihre goldgelb wallende Perücke aufgefallen war, ins Antlitz blickte: einen Zoll lange Wimpern, das Gesicht in wangenrougeglänzende und gespenstisch weiß gepuderte Partien säuberlich unterteilt, das Mündchen karmesinrot gespitzt. Nachdem ich die Erscheinung, die auch die verstört lachende Aufmerksamkeit der übrigen Gäste und den leisen Unwillen der Kellner auf sich zog – es war im Café Europa zu Prag, und das ist noch immer ein vornehmer Ort, bloß die Vornehmheit ist nicht mehr so vornehm –, gewürdigt hatte, schien der Zeitpunkt gekommen, eine Flasche Sekt zu ordern. »Sie sind sehr liebenswürdig«, erwiderte sie die Einladung, »aber meine Ärzte wollen es partout nicht verantworten. Wenn Sie mir jedoch eine Freude bereiten wollen«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »so darf es ein Cognac sein.«

Sie begann zu erzählen. Von der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Grand Hotels, vom Anbandeln an reservierten Tischen in Karlsbad, von Abfindungssummen und Irrenanstalten. »Fadisier ich Sie auch nicht?« Dann kamen ihre Ringe und Ohrgehänge zur Sprache, die Broschen und Ketten, die in reicher Fülle ihr rosa Kleid (Tüll, Spitzen, Organza und Schaumgummi) zierten, und deren jede selbstverständlich ihre Geschichte hatte. »Sehen Sie diesen Anhänger. Ein bescheidenes Stück: eine dankbare Mutter hat ihn mir geschenkt.« Deren Kind war nämlich in einen Gipseimer gefallen, sie hatte es herausgefischt und ihm das Augenlicht gerettet, indem sie ihm die gipsverklebten Lider freileckte. »’Ich werde Ihnen’, hat mir die Mutter unter Tränen versichert, ‘stets verbunden bleiben, Frau Gräfin.’«

Womit nun die Zweifel ausgeräumt waren, wie sie anzusprechen sei. Frau Gräfin wollte übrigens heute abend tanzen gehen; sie ließ kurz ein Paar Stöckelschuhe sehen, die sie in der Tasche mitführte. Ich bedauerte stillschweigend, ihr meine Begleitung nicht antragen zu konnen, da ich schon anderweitig verpflichtet war. In diesem Augenblick erschien denn auch meine Begleiterin und wurde alsbald mit Komplimenten bedacht. »Ein süßes Goscherl haben Sie! Entschuldigen Sie die Wortwahl. Und einen so feinen Taint!« (Sie meinte Teint.)

Noch am selben Abend trafen wir unsere neue Freundin im Tanzunternehmen Narcis nahe beim Wenzelsplatz. Da saß sie, ganz adrettes Puppchen, in Begleitung einer jüngeren Dame, die durchaus ihre Erzieherin hätte vorstellen kennen. Die Kapelle intonierte mit unerbittlichem Schwung tschechische und englische Schlager. Recht sonderbar nahm sich die Gräfin unter dem Publikum aus, mit ihrer Wespentaille zwischen den enormen Weibern, deren zwei, aus unerfindlichen Gründen zutiefst beelendet, ihre entblößten Schultern und Dekolletés mit hemmungslos fließenden Tränen benetzten, um sich dann wieder wie rasend zur Musik herumzuschleudern. Manche Männer ließen derweil, vom Trunke überwältigt, ihre Köpfe auf die Tischplatten sinken, während auf der Tanzfläche alles wirbelte. Auch die Gräfin? Ja, sie hatte in mir den Galan gefunden, mit dem sie abgezirkelte Tanzschrittchen in die Wege leitete – »den Ellbogen immer schön angewinkelt, gell!« –, und die Ausgelassenheit des Pöbels schien sie nicht im geringsten zu verdrießen.