ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Barcelonesia

[ca. 1984-2004]

 

Gleichzeitigkeit

Mir schwebt ein Aufsatz vor, in dem Mannigfaltiges gleichzeitig geschieht. Zugleich zweifle ich am Gelingen eines solch weltenumspannenden Vorhabens. Ich schritt durch eine Gasse, in der zwei Araukaner unter gotischen Spitzbogen einen Gassenhauer aus meiner Jugend intonierten, und dieses »Fräulein, heit-Ihr-mis-Hündli-gseh« in indianischer Version ließ mich nicht nur leise multikulturell erschauern, sondern versetzte mich gleichzeitig in die silly sixties, an den River Kwai sowie in die südliche Kordillere, in deren schlanker Luft ich anlässlich eines Traums Gelegenheit gehabt hatte, das seinerzeit von Hans Albers besungene Kreuz des Südens zu bewundern. Das Universum scheint nach neuer Erkenntnis einem plum cake zu gleichen, der immer weiter aufgeht und in dem die Galaxien wie Rosinen treiben. Welches Treibmittel, welche kosmische Hefe bewirkt dieses Wuchern und Wabern? Kürzlich gab ein Abt des Klosters Montserrat in einem Zeitungsartikel den Astrophysikern zu Bedenken: Wenn das Weltall von hier aus gesehen wie ein Keks ohne Kuchenform nach allen Seiten auseinandertreibt, was spräche dann gegen die Vorstellung, die Erde befinde sich in seiner Mitte und nicht an irgendeinem beliebigen Punkt? Vielleicht gehöre diese Frage, meinte er, eher ins Kapitel weltanschaulicher Vorlieben. Wirkt es nicht erfrischend, wenn Klosterbrüder im Feuilleton intellektuelle Keckheit an den Tag legen? Ich gelangte auf einen Platz, über den gerade ein Hund stolzierte, der eine von einem Auto plattgewalzte Taube in der Schnauze trug, während mir die Herrin züchtig zuzwinkerte. Für die Taube mochte Gleichzeitigkeit nichts weiter bedeutet haben, als von einem genoppten Gummireifen in jenem Augenblick ins Jenseits befördert worden zu sein, da sie sich nicht zu bezwingen vermochte, auf ein Krümchen wer weiß welcher Materie zu verzichten. Dem Hund mochte der Umstand einen Begriff davon geben, dass er nun nicht gleichzeitig seine Begeisterung über seinen Fund herausbellen konnte. Für die Dame lag vielleicht in der zivilisierten Begegnung zweier Blicke ein Beweis für Macht und Realität der Gleichzeitigkeit. Für wieder andere ist sie ein Quirlen der Aufmerksamkeit, eine geistige Sprunghaftigkeit gerade bei höchster Konzentration, was mitunter zu Verknäuelungen, im äußersten Fall zu Implosionen führt, wie wenn sich die Masse eines Sterns jäh in einem Stecknadelkopf ballt, sprich einem schwarzen Loch im plum cake, dem unser Gehirn sowohl als das Universum gleichen. Vielleicht sind wir in diesem Backwerk geborgen wie das Krönchen im Dreikönigskuchen, und der Allmächtige schaut zu, wie sich der Teufel seine Plomben daran ausbeißt.

 

Absinthe (Café Marsella)

In der Zeile der schiefen Köpfe, die zum Fernsehschirm ausgerichtet sind – der kursiven oder gekenterten Häupter, könnte man sagen –, der des zahnlosen Weibes, mit Schlangen schwarz und grauen Haares – ist es nicht meine Großmutter? – die  freilich die Haare immer aufgesteckt trug, außerdem ein Gebiss besaß, und hätte dieses je auch nur geklappert? Selbstverständlich nicht; einmal jedoch, es war schon dunkel, stand sie mir plötzlich zahnlos im Flur ihrer Wohnung gegenüber, mit offenen, bis zu den Hüften fallenden, von Bürstenstrichen glänzenden Haaren; ich wich zurück, von Scham ergriffen ob des obszönen Bildes ihrer rosigen, entblößten Mundhöhle, aus der sie Unverständliches lallte, vermutlich, wie peinlich es ihr sei…

Die alten Frauen hier – oh es gibt auch Männer: solche, die vom Türpfosten aus eine Weile das Geschehen auf der Gasse beobachten und plötzlich verschwunden sind; einer, kraftlos an die Theke gelehnt, der sich eine Handvoll Karbonat in den Mund schüttet, ein Teil des Pulvers geht daneben, fällt zu Boden in das Durcheinander von Papierservietten, Zahnstochern, Zigarettenstummeln, Zuckerbriefchen, auf denen steht: Versüße das Leben der Straßenwischer, und: Katalonien, sauberes Antlitz – die Frauen sitzen, jede für sich, an den abgewetzten und von Rissen gezeichneten Marmortischen vor dem Nachmittagsprogramm. Betäubt wie Irrenhäuslerinnen, scheint es, deren Welt sich aus einer geringen Anzahl unglaublich wichtiger Winzigkeiten zusammensetzt oder aus einer einzigen großen Belanglosigkeit besteht – so oder so: es gilt, sich nicht zu nahe zu kommen, das heißt sich unter dem dröhnenden Fernsehkasten wie in Taucherglocken zu verteilen, man würde sich sonst gleich verkeilen. Als hätten sie sich Nervenkappen aufgesetzt, weil die Nervenenden sonst gleich miteinander in ein Gefecht gerieten. Nur manchmal lösen sich aus der Männerecke einige Fetzen irgendeiner Gemeinheit, da kennt man sich aus, kanzelt den Frechling von unten herauf mit zwei Worten und einem Zahnstummellächeln ab, dann reden wieder nur die Hinterglasfrauen der Kriminalserie, Los-Angeles-Straßen und dazwischen Nestlé-Party-Party – das Café Marsella ist ein Tauchboot, das die Spottwürdigkeiten der Oberwelt ausspioniert.

Leider habe ich schon zwei Absinthes getrunken und es ist mir nicht mehr besonders lächerlich zumute; für eine eventuelle Nichtigkeitsbeschwerde an die Adresse des Plans ist es jetzt zu spät und an ein Zurückdrehen des Rades der Zeit ist nicht zu denken, ohnehin zeigt die Uhr hier seit jeher zehn vor elf, richten wir uns also am besten gleich ein in dieser Stunde, bestellen noch eine Runde, lassen uns von einem Seemann aus Sevilla ins Ritual einlügen, die krumme Gabel aufs Glas, den Zuckerwürfel drauf und langsam Wasser darüber gegossen, klebrige Tropfen lösen sich und platschen ins Giftgelbgrün. Nun gehen in diesem Glas merkwürdige Dinge vor sich, das braut und rottet sich zusammen, Schwaden in wechselnden Farbtönen verbreiten sich – ich, der große Laborant, aber wenn ich mich erhebe, werde ich gleich hinschlagen.

»Keine Angst, keine Angst, Grossmama…« An der Theke irgendwie die Rechnung begleichend, zünde ich mir eine Zigarette an, gleich darauf wird mir eigenartig warm um die Füße, das weggeworfene Streichholz hat den Abfallhaufen am Boden in Brand gesteckt, kobaltblau verglüht das verschüttete Karbonat zwischen den Papieren, ich trete die Flammen aus und verlasse das Café. Jetzt nur Kurs halten, zwischen den neonerleuchteten Bars hindurch, von den Huren in den Hauseingängen bezischelt, in den Allerseelenorkan der Ramblas hinein, durch Menschenböen driftend, durch das Anbranden der Stimmen, sind nicht die Leute wie Schaumkronen? – wie! Wie kann man noch wie sagen, wo alles an die Augen schlägt – wie Kondenssstreifen fehlstartender Raketen von links nach rechts und von rechts nach links. Einer fällt mir in den Rücken, ich flüchte, schiebe mich zwischen geparkten Autos durch (wo ist meine Schlangenhaarfrau geblieben?), noch immer ruft er mir nach, hau ab, Vermaledeiter! Ich drehe mich um, ach so, den kenn ich ja, ein Irrtum, »excusez!« und weiter, an den dunklen Körpern der Schiffe vorbei, die im öligen Hafenwasser liegen, an den Strand. Die Schaumkronen der Brandung: weiße Zeilen, von rechts nach links, von rechts nach links.

Der Maler sagt: Die Haltung des Schreibenden gleicht der des Absinthe-Trinkers in fortgeschrittenem Zustand.

 

Absinthe (Paseo del Borne)

»Holla! Holla! Ihr da mit den zerknitterten Visagen, will sagen mit

den Morgengesichtern, in denen das Kopfkissen wüste Spuren hinterlassen hat, Holla! Hoppla! Du Verlotterter mit dem Stoppelbart, welcher sich bald mit meiner zerfressenen Frisur messen darf, hallo! Halt da! Hohe Verkommenheit, die mit einem mühsamen Lächeln an meinem Rollstuhl vorübergeht, geh schon! Geht schon! Gehet hin und versprecht euch vom café con leche Heilung!« Und uns voran geht der Scherenschleifer, auf seiner Pfeife melodierend, unter den Bäumen des länglichen Platzes, und Kinder gehen mit auf dem Rücken verschränkten Armen, grüßen sich ehrerbietig wie alte Männer, und eine Katze kreuzt den Weg eines in die Zeitung vertieften Herrn, dem die Innenpolitik ein zufriedenes Gesieht verschafft – würde diese Katze sich vielleicht etwas anmerken lassen? im geringsten von ihrem Weg abweichen? – unbeirrt musst Du sein, Städter; stell Dir vor, jetzt sehe ich gerade durch die schmale Seitengasse, dort vorn, mitten im Boulevardgetöse, ein Pferdchen mit Sonnenschirm – ist das nicht unglaublich? – und durch die Steine hindurch fangen Sirenen an zu jubeln, ist das nicht unglaublich schön?

Ach würde nicht die Sonne ins Gesicht gellen, man würde dem schäkernden Krüppel freundlich zuwinken, der auf seinem Rollstuhl den Schattenzonen nachfährt; man näherte sich mit Behutsamkeit den weiteren Bewohnern des Paseo del Borne… Als erstes würde man erkennen, dass die Frau mit der blauen Herzchenbrille, die das eine Ende der steinernen Bank besetzt, ein durchlöchertes Gesicht hat: zwei Herzen, darunter zwei Krater, diese Frauensperson ist eine Spielkarte, die irgendein Nebenteufel aus dem Ärmel geschüttelt hat. Allerdings nicht der da, am andern Ende der Bank, der zuweilen mit seinem Bündel über den Platz schreitet, als habe er sich aufgemacht, als sei er jetzt wahrhaftig unterwegs, und doch sitzt er am andern Morgen wieder da, zerkrümelt Brot und Käse auf der steinernen Bank, Habseligkeiten und die Feindseligkeiten der Jahre zwischen sich und der Herzchenfrau. Sie gießt grünes Gebräu aus der Flasche in eine Coca-Cola-Dose um, dann muss sie die Strumpfbänder richten, dann zerknittertes Fettpapier glätten, immer sind diese Menschen beschäftigt, es ist erstaunlich, einmal steigt sie, die leere Flasche in der Hand, mit krächzendem Gelächter die Treppe zum Schnapsladen hoch, was kümmere ich allmorgendlicher Schatten sie? – und Adrienne will aufs Institut Français, und Barbara steht Modell im Künstlerzirkel, und Camai liest das neue Stadtmagazin, und Dolores geht in die Vorführung zweier Kunstfälscher, was bleibt mir da anderes, als die Schweigsamkeit der räudigen Katzen im Park zu bewundern?

Nach dem Eindunkeln treffe ich in einem andern Viertel auf die Herzchenfrau – oder doch nicht: diese hier hat eine rote Herzchenbrille, auch trägt sie keine Stöckelschuhe, sondern hat die Füße kunstvoll mit mehreren Plasticsäcken umwickelt, sie hat auf dem Sims vor McDonald’s Quartier bezogen – »I never met anyone who liked Cairo«, sagt einer, dem gerade die Pommes Frites vom Tablett geklaut werden. Wenn man an dieser Frau vorbeigeht, rollt sie sich ein wie ein Scherzartikel. Darum wagen die Frauen ihr keine Münzen zuzustecken, vielleicht auch aus Furcht, frech zu wirken mit ihrer verlorenen Zeit – die hier kann mir gestohlen bleiben mit ihrem Sekundenzeiger! Die Herzchenfrau hält sich mit ihren Zahnstummeln an einem Nastuch fest, verbeißt sich in ihr Nastuch, wahrscheinlich würde sie sich sonst aufkringeln vor Lachen, vollends aufkringeln.

Meine Liebe, Du schaust aus wie ein angebissener Apfel, wenn Du Zigarettenkippen hinter die Theke schnippst und Gin trinkst, an die Bar gelehnt. Trink aus, saug Deinen Zitronenschnitz aus, wir gehen zurück an den Born, durch die dunkle Gasse der Kirchmauer lang, an der einer kauert mit Blutspuren auf dem nackten Arm, und ein anderer folgt uns, Überdeutliches nachrufend (und wir wünschten doch nichts als Geflunker aus unverständlichen Sprachen), da klatscht von oben ein Plastiksack vor unsere Füße, zwei Fische schlittern heraus aufs kalte Pflaster (strecken ihre toten Mäuler aus dem weißen Beutel), was soll das jetzt wieder heißen? Doch bloß, sagst Du, dass in diesem Moment unsere Leibwächter umgebracht werden nach guter alter Sitte. Nur, sollen wir uns jetzt, sizilianischem Brauchtum zuliebe, noch rasch Leibwächter suchen gehen, um diese Zeit auf diesem Nachtborn, damit alles seine Ordnung hat? Der Krätzköpfige schläft auf einem Karton neben seinem Rollstuhl, vor seinem Hosenladen ein eingetrocknetes Rinnsal, neben der Markthalle liegt einer steif in seinem Barracuda, die Katzen haben sich unter geparkte Autos verzogen, auch wir jetzt, um die Ecke, ins Haus, nähern uns einander aus Entfernung, behutsam, und plötzlich bist du in der Luft, fliegst mit mir über mir, wie geht das? Plötzlich, endlich keine Person mehr zu sein… Oh Fliegerin – am nächsten Tag wieder: Sätze bilden, sich irgendwo festkrallen, Feindseligkeiten spannen.

 

Immeuble immonde

Etwas Hydrologie, dazu ein kleiner Brand

Ein Wort zum Wetter. Niederschläge hierzulande, wenn, dann nicht zu knapp. Ergo Ärger, saisonbedingt. Erinnere mich gut an den Herbst, da wir – resolutes Eingreifen war geboten – im Sturm quer durchs Wohnzimmer ganze Bahnen von Planen spannten und nach Eimern, Becken, Zubern rannten, um der statthabenden Überschwemmung Herr zu werden. Inzwischen ist das Dach dicht. Wenn jedoch, wie neulich wieder, in einer Dreiviertelstunde zehn Millionen Hektoliter auf die Stadt niedergehen, ist Ungemach zu gewärtigen. Diesmal war es ein Blitzschlag, der hinterrücks, während ich andächtig in Betrachtung der Sturzfluten versunken am Balkon stand, in meinem Bureau Drucker und Modem kaltmachte; da half kein Lamento, fruchtete später alles Tüfteln und Konfigurieren nichts.

Mein Schlendrian hatte offenbar nur auf ein solches Zeichen des Himmels gewartet. Um so mehr, als ich gerade aus den Ferien zurückgekehrt war, die in Wien verbracht zu haben, und zu einem guten Teil in Wiener Buchhandlungen, mir eine Fortsetzung derselben insofern nahelegte, als ich mehrerer Bände aus den Werken Albert Drachs sowie einiger weiterer, mir teurer österreichischer Lästerer und Stänkerer habhaft geworden, mithin zu unverwandter Lektüre bestens ausgestattet war. Eine vorbehaltlose Empfehlung der Drachschen Untersuchung an Mädeln sei hiermit ausgesprochen, und nebenbei den Besitzern vorgenannter hochempfindlicher Utensilien geraten, die Dinger beim ersten Donnergrollen schleunigst vom Netz zu ziehen.

Das Wetter blieb in spaziergängerischer Hinsicht unerquicklich, allfälligen Flaneursflausen abhold. Einmal zu nass, dann zu feucht, das heißt anhaltend schwül. Auch am Wochenende, trotz atmosphärischer Milderung, blieb ich bei meinen zwischenzeitlichen Drachen; freilich schon deshalb, weil man als Freund werktäglicher Individuation, auch Splittertaktik des Ich genannt, gegen die Sonntagsgarnitur so seine Vorbehalte hat. Andererseits sei nun zur Veranschaulichung meiner eigenen Laxheit, ja Ergebenheit in ein eher unergiebiges Dahindämmern, was aus dem bisher Gesagten nicht klar hervorgeht, mein montäglicher Kinobesuch nicht länger verschweigen. Kino als existentielle Interferenz nehme ich sonst nur hin, damit meine Freundin den Anschluss an den kulturellen Hauptharst nicht ganz verpasst und bei Abendunterhaltungen ein Wort mitreden kann. Einen Regenschirm mitzunehmen, erwies sich als überflüssige, zudem brandgefährliche Vorkehrung. Wie üblich kam ich zu früh und steckte mir in der Bar vis-à-vis noch eine Zigarette an, worauf es sofort brenzlig wurde. Das flammende Streichholz, achtlos weggeworfen, hatte sich im Schirm verfangen: daher plötzlich diese Wärme um meine Beine. In meiner Panik scheine ich dann nicht nur das brennende Objekt, sondern zugleich jegliche Erinnerung an das Wie meiner Aktion gelöscht zu haben. Arg versengt, dies allerdings, so ging mein Paraplü aus diesem Zwischenfall hervor. Der »Stock im Pettycoat«, wie ihn der Dichter nennt, war nunmehr eher petty denn coat. Als Stock immerhin, um nicht zu sagen Krücke, sollte er mir im weiteren Verlauf des Abends noch gute Dienste leisten, nur schon, weil die Wirkung des Films auf mich einmal mehr eine ermattende war. So unterminierend, dass mich sogar flüchtig der Gedanke an versäumte Pflichten streifte. Ich fühlte mich ganz erledigt vor lauter Unerledigtheiten. Um so triumphaler gestaltete sich die Rückkehr in die schirmschicksalsbesiegelnde Bar. Gerade war ich dort erschienen, als schon eine Dame deutlich vernehmbar einen »Grand Suisse« bestellte. Ich fühlte mich angesprochen. Hingegen wussten die Kellner, obwohl das Getränk anscheinend auf der Karte figuriert, zunächst weder ein noch aus, und erst als auch der Kassier seine Gedankenfülle in die Diskussion warf, einigte man sich in der allgemeinen Ratlosigkeit darauf, zu einem »Grand Suisse« gehöre wohl eine gehörige Portion Schokolade. Das ging auch für den Ordernden in Ordnung.

Ein Lacherfolg war unlängst einem spanischen Cartoonisten beschieden, der die bekannte Joghurt-Werbung »Cuerpos Danone« gegen einen anderen laktosen Dauerbrenner ausspielte. Zwei Männlein stehen am Meeresstrand und ergötzen sich an den bildschönen Menschen im Hintergrund. »Danone-Figuren«, sagt der eine, worauf der andere fallenlässt: »…und Gehirne à la Petit Suisse«. Ich fühlte mich nicht eigentlich angesprochen.

 

Der freie Fleck

Wer wird sich darauf niederlassen? Am Strande lag ich, ein Flicken im Patchwork der Badetücher, und spann meine Phantasien um die Frage, wer meine nächsten Nachbarn sein würden. Zeit vertat ich, nichtstuerisch; wiewohl zwischendurch meine Beobachtungen unter den Nackedeis und urbanen Sippschaften anstellend. Ein Großstadtstrand ist die Stadt noch einmal, nur diesmal horizontal und mise à nu. Neben mir lümmelte eine Bande tätowierter Halbstarker, mischte den Ruch rostfleckiger Betonblöcke, wandalensicherer Fahrstühle in die Meeresbrise. Kaum war ich ins Wasser getaucht, als Quallenalarm gegeben wurde. Alles stürmte prustend an Land und unter die Duschen; eine halbe Stunde später, zumal die Lautsprecherdurchsage nicht wiederholt worden war, hüpfte man wieder, das Haupt über den Schaumkronen balancierend, im zwielichtigen Nass.

Distinguiertere Seebäder (sofern es sie noch gibt) können mir gestohlen bleiben. Auf die glückliche Mischung kommt es an. Gewiss waren wir verbummelten Genies hier übervertreten. Aber da gab es auch hüllenlose Kleriker, hochprozentige Kokotten, kubanische Emigranten, die hinten im Palmenhain tingelten, und überhaupt mancherlei Verlockendes und Befremdliches; sogar einige intakte Familien! Eben hatten mir noch drei Grazien eine Lektion weiblicher Komplizenschaft zwischen den Generationen erteilt, eine Allegorie mediterraner Frauenhistorie: Großmama schwarzbestrumpft auf dem Klappstuhl, die Mutter mit nicht viel mehr als etwas perlmuttenem Nagellack angetan; die Jüngste aber von so sündhafter Anmut, dass wegzusehen genauso idiotisch gewesen wäre, wie hinzusehen. Dilemma: Strandsitten sind die absolute Entwaffnung der Männlichkeit. (Die drei unterhielten sich köstlich.)

Inzwischen waren sie gegangen und ich malte mir aus, wer sich als nächstes auf dem freien Fleck vor mir niederlassen würde. Ich hatte meine Strohmatte, zum Beweise meiner Kultiviertheit, in Richtung zur Sonne ausgebreitet (bei Westwind die Zipfel in den Sand eingraben), und lange ergötzte ich mich an dieser fleischgewordenen Kakophonie der Mediterraneität, dargeboten in Posituren, die überall sonst als sehr nachlässig, obendrein als lächerlich gelten würden. Am Strand ist die Regel, was andernorts ein Skandal wäre. Unangenehm fielen hier, ihrer ungustösen Körperbehaarung wegen, nur einige Pauschaltouristinnen aus Paderborn auf, die noch nie etwas von »Strandkultur« gehört hatten.

 

Markenzeichen, vom Himmel gefallen

Die Stadt trägt einen wohlklingenden Namen. Bars, der Himmel, eine Welle schwingen darin mit. Fremdsprachige malträtieren ihn oft mit einem allzu beflissen gelispelten c, anstatt dieses einfach als s auszusprechen, so wie es 400 Millionen Lateinamerikaner und die Katalanen selbst tun, die ihre Hauptstadt gut bäuerisch »Barsälona« nennen. So oder so sind vier Silben in diesen schnelllebigen Zeiten manchmal zu umständlich. Mundfaule Menschen verknappten Barcelona daher schon lange zu »Barna«. In dieser Schrumpfform fällt von dem Namen – im Gegensatz zu einem Sigel wie L.A. – aller Glanz ab. Praktisch, unprätentiös: Lkw-Fahrer-Jargon. Und doch distinguiert sich, wer Barna sagt, heute schon wieder einem andern Kürzel gegenüber, dessen gewollter Chic manchmal nervt: dem Flughafencode BCN.

Dabei verhalf BCN ausgerechnet die Müllabfuhr zum Durchbruch. Als den städtischen Reinigungsdiensten im Jahr 2000 ein neues Image verpasst wurde, kam man auf den cleveren Namen »BCNeta«. Eine saubere Lösung. Zwar hatte die Stadt bereits ihre eigene Homepage »www.bcn.es« getauft. Doch erst als jeder Müllwagen die drei Mayuskeln trug, begann deren Siegeszug. Fluoreszierend auf den giftgrünen Uniformen der Straßenfeger, die allnächtlich – scharf am Schuhwerk der Nachtschwärmer vorbeizielend – Barcelonas Straßen abspritzen, wurden sie zum Markenzeichen wie das Schweizerkreuz. Die meisten der dreißig Millionen Passagiere, die jährlich in BCN abgefertigt werden, reißen den Streifen mit dem IATA-Code gewiss so achtlos wie eh und je von ihrem Koffer; doch alsbald begegnen sie ihm wieder im Namen einer Bar oder auf der Tragtasche, die sie als modebewusste Shopper ausweist. Ob Equipaje BCN (Gepäckdesign) oder BCNBinary (Networking), ob VAN!bcn (Umzüge) oder die BCNWeek (eine inzwischen nur noch monatlich erscheinende, spanglish mit ein wenig català mixende Gratiszeitung), ob die Lolitas-BCN (Escortservice) oder niubcn (ein neues Künstlernest, wie der Name doppelsinnig besagt): Wer frisch und modern wirken will, bedient sich der magischen Formel. Google findet BCN in 20 Millionen Varianten. Gar auf 170 Millionen Einträge bringt’s Madrids Flughafenkürzel; aber MAD hat natürlich noch andere Konnotationen und taugt zum Branding nur bedingt.

 

Roller und Rumpler

Sah man früher auf der Straße jemanden, der einen Koffer trug, so wusste man: Da geht ein Mensch auf Reisen. Solche Individuen strebten entweder zum Bahnhof oder winkten gerade ein Taxi herbei, und ein Hauch Fernweh wehte einem von ihnen entgegen. Denn es waren Ausnahmegestalten, ein wenig entrückt schon dem Strom der ihrem täglichen Kram nachgehenden Passanten. Damals gab es natürlich noch keine Lowfare-Airlines. Einen Linienflug Leeds-Limoges hätte man für einen Witz gehalten, und von Aarhus nach Girona gelangte man via Kopenhagen und Barcelona, während es sich heute gerade umgekehrt verhält.

Vor allem aber gab es den Rollkoffer noch nicht, und mithin nicht all die Kofferroller, die heute, ins Straßenbild einer Stadt wie Barcelona gesprenkelt, eine Spezies für sich bilden, und die sich dennoch in aller Selbstverständlichkeit unter uns mischen. Bald in Rudeln heranrollend, bald als Soloroller zirkulierend, verbreiten sie keine Aufbruchsstimmung, sondern eher das Gefühl, man lebe in einer Art Durchgangslager. Wer so ganz ohne Koffer seiner Wege geht, wird vom Zweifel gepackt, ob er nicht sein Gepäck irgendwo habe liegenlassen. Wo aber wollen, wo rollen sie eigentlich hin, die da zu jeder Tages- und Nachtzeit um Ecken rumpeln, Plätze überqueren, scheinbar ziellos, den rollenden Trabanten im Gefolge, einherschlendernd? Ein Mysterium – so wie sie selbst, an ihren Koffer gekoppelte Doppelwesen, eines sind. Führen sie ihn vielleicht spazieren, so wie man früher seinen Hund ausführte? Oder sind es Verirrte, Verstossene gar, auf ewiger Wanderschaft?

Mitunter bleiben sie plötzlich stehen. Und während die Rechte auf dem Koffergriff ruht, von dem sie sich nicht lösen kann, nestelt die Linke einen Stadtplan hervor, hält ihn vor die Brust. Der arttypische Blick senkt sich kurz auf das dort abstrahierte Straßengewirr, um alsbald über die umliegenden Fassaden zu schweifen, bevor er sich mechanisch neuerlich auf den Plan heftet, ungläubig, mit der immer gleichen, mehrmals wiederholten, zunehmende Irritation anzeigenden diagonalen Kopfbewegung: »Wenn sie wenigstens ihre Strassen ordentlich anschreiben könnten!«

Der Rollkoffer hat den Kofferroller hervorgebracht. Wer aber hat jenen erfunden? Google bleibt die Antwort schuldig, gütig zurückfragend, ob man eventuell das »Urmodell des Zollikofers« meine (das er dann auch nicht kennt). Dafür hätte ich folgenden Anhaltspunkt beinahe übersehen: »…erfand ein japanischer Geschäftsmann einen Rollkoffer, dessen ausziehbarer Griff gleichzeitig als Gehstock fungiert«. Aha! Sollte dies des Rätsels Lösung sein?

Die ältesten mir bekannten Modelle hatten lediglich zwei schmale, verschämt unter dem Kofferbauch verborgene Rädchen. Dass ein solches Gebilde auch mal kippen konnte, ja von jedem Höckerchen umgeworfen wurde, spielte keine Rolle. Die heute üblichen, walzenartigen, gar wie bei einem Geländewagen seitlich auskragenden Rollen hätte man damals als ästhetische Zumutung empfunden, waren doch jene Valisen auf ebenso zierliche Damen zugeschnitten, die damit ausschließlich durch weltstädtische Hotel- und Abflughallen  – nix Leeds, nix Limoges – stöckelten. Da passte eben noch alles zusammen: Pumps, Röllchen, spiegelglatte Böden. Schon gar nicht eingefallen wäre es jenen Damen, sich mit ihrem Koffer auf Wanderschaft zu begeben, so wie es heute in Barcelona gang und gäbe ist. Dessen Trottoirs sind zwar auch gut gestylt, schön breit und leidlich löcherfrei. Wenn jedoch ganze Rollkommandos anrücken, dann rattert’s zwangsläufig ein wenig. Denn nicht jeder Reisende – oder was immer er ist – kann sich eines jener wundersam lautlos dahingleitenden Modelle leisten, deren Preis man auch lieber nur im Flüsterton ausspricht.

 

El otro barrio

Mein Nachbar Saturnino, dessen Hustenanfälle noch zwei Stockwerke tiefer seismographisch registrierbar sind, hat mich neulich unter der Tür abgefangen: »Du sprichst doch französisch. Könntest du mir bitte kurz mal etwas übersetzen? Wir haben nämlich ein Grundstück in Frankreich geerbt!« Schon hatte er mir das blässliche Couvert in die Hand gedrückt, aus dessen Inhalt er nicht ganz schlau werde.

Verblüffend war zunächst der Briefkopf, führt doch das Weinkennern bekannte Städtchen Banyuls ein Cocktailglas mit Trinkhalm im Wappen. Weniger frivol war der Ton des Schriftstücks, das wie folgt anhob: »Hiermit verfügen wir, die Obrigkeit der Munizipalität Banyuls, Dép. Pyrénées-Orientales, dass der erbberechtigte Bustamente, Saturnino gemäß der gültigen Gemeindeordnung, Artikel X, Paragraph Y, auf Lebenszeit…« – à perpétuité? –, ich berichtigte eilends: »…jetzt und immerdar zur Nutznießung der Nische Nr. 20, Block T, auf dem Gemeindefriedhof Banyuls berechtigt ist.«

Das also war das Fleckchen Land, das unserer Pförtnersfamilie zuteil geworden: hohl, horizontal, im Stockwerkeigentum vier Bretter und zwei Brettlein bequem aufnehmend, »gewährt und verbürgt zu Banyuls, den Soundsovielten«. Mochte nun Saturnino Bustamente, in jäher Aussicht auf einen sogenannten »Quartierwechsel« ins Roussillon – denn was wir das Jenseits nennen, ist für den Spanier bloß »el otro barrio« – ob seiner Erbschaft vorerst erblassen: so musste es ihm doch tröstlich erscheinen, dass ein Anspruch auf Grablegung daselbst, seitens des Vermächtnisnehmers wie anverwandter Anwärter, ordnungsgemäß nicht vor Entrichtung des von der Gemeinde festgelegten Tarifs erhoben werden konnte, welcher sich auf 4682 Francs belief (»unas 120’000 Pesetas«, übersetzte ich pietätlos), einschließlich der 197 Francs zugunsten der öffentlichen Fürsorge (sog. »Zuwendungen an Bedürftige aus Bestattungsgebühren«); zahlbar a dato und vom zuständigen Rechnungsführer fortan »in seiner Kasse zu verwahren«.

Saturnino verlor, nachdem ich ihm das verdolmetschte Schriftstück ausgehändigt hatte, weiter kein Sterbenswörtchen darüber. Viel zu husten hatte er in diesem Fall – und auch fürderhin – nicht.

 

Der Architekt, die Strafanstalt und die Suburbia

Ein Gefängnis ist nicht irgendein Haus, und die Aufgabe, entwerferische Beihilfe zur Einsperrung seiner Mitbürger zu leisten, keine gemütliche. Der Architekt, der sich damit befasst, ist zunächst perplex. Wie lässt sich der Wunsch, möglichst menschenfreundlich zu bauen, mit den Zwängen einer Strafanstalt vereinbaren? Er könnte den Auftrag natürlich ablehnen; dann würde eben ein anderer, vielleicht gleichfalls präventiv zerknirscht, aber vielleicht auch schlechter, das neue Zuchthaus entwerfen.

Das Justizministerium hatte für die dringende Erweiterung seines Angebots an Gefängnisplätzen eine arg zersiedelte Vorstadt ausersehen. Das Bewilligungsverfahren verlief zunächst umso problemloser, als von einer humanen, zukunftweisenden Anstalt die Rede war. Noch vor Baubeginn wurden aber – wie verschämt und verbrämt auch immer – Einwände laut, aus denen hervorging: Ganz so schön habe man sich sein Zuchthaus nun denn doch nicht vorgestellt. Von der chaotischen Scheinbehaglichkeit der Vorstadtfransen, in die es sich zu fügen hatte, würde es sich als einziges gesichthaftes, wohlgeordnetes Ensemble abheben. Könnte man das bitte nicht eine Spur düsterer, ein wenig karzerhafter haben?

Der Architekt Manuel Brullet hatte einige Abstriche zu machen, aber ganz verpfuschen ließ er sich sein Projekt für das Gefängnis Can Brians nicht. Die kleine Stadt, die er baute, hat ihre Straßen und Plätze – nur dienen die Straßen hier nicht der Begegnung, sondern der Trennung, und die Plätze sind nicht Orte des Austauschs, sondern der Aussonderung. Durch die Fassaden werden Innen und Außen nicht verschränkt, sondern abgegrenzt. Entrüstet waren dennoch gerade die Bewohner der umliegenden Siedlungen. Nicht weil man sich an den neuen Nachbarn oder ihrem Status stieß. Der eigentliche Skandal war, dass die Sträflinge ein richtiges, wohnliches Quartier bezogen, während die freien Bürger weiterhin in ihren grauenhaften Haufendörfern hausen. Dort ist ja auch die Überwachung von Nachbar zu Nachbar womöglich noch perfekter.

 

Der aufmerksame Herr

Die Stadt? Sei ihm von früher bekannt. Er rechnete kurz nach, ehe er seinen letzten Besuch auf 1948 datierte. Wir waren uns eben vorgestellt worden, wenige Schritte erst nebeneinander gegangen, als der alte Herr jäh stehenblieb und mit pfeilgerade ausgestrecktem Zeigefinger auf den Kanaldeckel zeigte, der zufällig an dieser Stelle in das Trottoir eingelassen war. »Schön, diese Dollendeckel«, bemerkte er knapp und setzte ein Pokergesicht auf.

»Bei uns hießen sie Senklochdeckel«, erwiderte ich, im unklaren darüber, worauf er hinauswollte. Hatte er ein Stichwort geliefert, oder nur eine Gesprächspause zu überbrücken versucht? Nicht ganz auszuschließen, dass seine bündige Bemerkung den Wunsch tarnte, etwas langsamer zu gehen. Er war zwar, auch wenn er die achtzig schon hinter sich hatte, keineswegs aus dem Lot.

Das Lot: zählte für ihn, dessen Laufbahn als Entwerfer sich vom Bauhaus bis zu den Konkreten spannte, wohl mehr als alle verlochten Jahre. Ihm ging es um den Deckel, den Dollendeckel. Nicht zu verschnaufen gedachte er dort, im Gegenteil. In seinen Intentionen glich er vielmehr einem Taucher, der seine Lungen vollsaugt, um sich dann so lange an der Wunderwelt unter Wasser zu ergötzen, bis ihm der Atem ausgeht. Die Wunderwelt des alten Herrn, sein Augenfest, bildeten derzeit Kanaldeckel, Straßenlampen, Pflastermuster, Bordkanten, Sperrpfosten, Sitzbänke – kurz: jene Nebensachen, die kein gewöhnlicher Tourist je eines Blickes würdigt, und unter den Einheimischen fast nur jene (sie waren freilich ungewöhnlich viele), die sich selber mit Entwürfen für derlei Gerätschaften befassten. Das Straßenmobiliar ist zwar auch für den gemeinen Mann einfach Luft; mit dem kleinen Unterschied jedoch, dass er sich davon nicht in Atem halten lässt. Und höchstens ausnahmsweise, wenn einer den Kanal voll hat und sich den Schädel an einem Laternenpfahl einrennt, macht er sich nachher natürlich wieder Luft, über den schwachsinnigen Pflock oder den hundsgemeinen Kanaldeckel, über den er gestolpert ist.

Wir sagen Laternenpfahl, aber wenn schon, bekommt man es heute mit Straßenlampen zu tun – und welchen nun gar! Unsere öffentliche Beleuchtung, modern und formschön, hatte neben drei schlackenlosen Grundtypen bereits auch einige verwegener in den Bereich der Skulptur vorstoßende Exemplare hervorgebracht, die in den Augen meines Begleiters zunächst große Fragezeichen aufscheinen ließen. Die Materie sollte ihn noch auf Tage hinaus mit Stoff versorgen.

Zweifellos gebührt einer Stadt, die sich fortwährend an sich selbst abrackert, auch ein Besucher, der sich so eingehend (und eben dadurch seinen Gängen einen Rhythmus unterlegend) mit den Elementen dieser kontinuierlichen Erneuerung befasst. Nicht dass er für andere Reize blind gewesen wäre; aber es waren solche Quisquilien, stumme und gleichgültige Dinge, anhand derer er die Stadt für sich neu inszenierte. So kamen sie (die Elemente) ihm (der noch das Bild von 1948 im Kopf hatte) orientierend zustatten, als Ergebnisse jenes erfreulichen, dem Fluidum der Stadt förderlichen Ordnungssinns, den er im eigenen Land schmerzhaft vermisste. Luden doch die unsäglichen Waschbetontröge und epischen Klotzreihen, Inbegriff der Möblierung dortiger Städte, nur zum Wegschauen ein. Hier hingegen, gerade indem er es bei seinen Inspektionen sehr genau nahm, hatten die Wahrnehmungen des aufmerksamen Herrn im Nebensächlichen so scharfe Umrisse erhalten, dass er erst recht das große Gewitter, das simultane Kreuzfeuer der Reize gelassen über sich ergehen lassen konnte, und sich darin erging.

 

Rettet die Seide! oder Imponderabilien eines Nachmittags

1.) Brecht soll auch gern blauseidene Jacken getragen haben, die wie Arbeiterkittel aussahen. Ich hatte als Jugendlicher die bleichblauen Kutten meines Großvaters, der Dreher bei Styner & Bienz war, zu Sakkos umfunktioniert, bis meine Großmutter sich sosehr über das kleidsame Sakrileg erboste, dass sie sie allesamt in der Wäsche verschwinden ließ. Inzwischen habe ich mir auf Anraten eines Shopgirls aus Haifa einen flatterhaften blauen Seidenanzug angeschafft – eher »New Yorker Dandy der zwanziger« als »Schweizer Prolet der siebziger Jahre«, und ich kam mir darin heute entschieden lächerlich vor. Noch dazu mit dem Hemd angetan, dessen Dessin laut einschlägigem Kommentar an die Schlachtordnung auf dem Platz des Himmlischen Friedens denken lässt. Es gab mir jedesmal einen Stich, wenn mir jemand auf die Brust schaute. Von weitem hörte man Demonstranten Parolen skandieren…

2.) An einem Kiosk kaufte ich ein deutsches Nachrichtenmagazin. Es fühlte sich an, als hielte ich einen Totschläger in der Hand. Beschämt ließ ich das Heft auf der Metro-Sitzbank liegen, von wo in Balkenlettern das Wort HASS mehreren des Deutschen nicht kundigen Passagieren entgegenstarrte, unter anderen einem aus Gijón gebürtigen Mädchen, das soeben bei einem Schwindelunternehmen eine für seine Verhältnisse unmäßige Summe Geld hinterlegt hatte in der Hoffnung, man würde ihm eine Stage in Paris vermitteln.

6.) Seele rumpelte noch ein wenig: »Was verhilft dir nun wieder zu Kraft und Zuversicht? Es ist die Straße mit ihrem Weibsvolk, es ist die unausrottbare Idee, verführbar sei jede.«

8.) Gehen: Für andere ein Mittel, für mich der Zweck.

14.) Ich lauschte, was sie denn so sagten, die Amerikaner in der Hotelbar, die mich mit ihrem sägenden Singsang nervten. Die alte Frau haderte mit ihren Krampfadern. She’s sixty-eight, dreimal wiederholte es die jüngere. Und einer der Männer war als Kleinkind in den Tumbler gefallen.

17.)

34.)

39.) Ich war weitergegangen und traf beim nächsten Metroeingang auf den Demonstrationszug, der geschlossen dort hinunterging: Wie bitte? Ich verstand jetzt immerhin, was die Anführer durchs Megaphon skandierten. Es waren die Arbeiter einer von Schließung bedrohten Fabrik. Sie trugen T-Shirts mit der Aufschrift »Rettet die Seide«; das Ganze war zweifellos wieder mal nur ein Zufall.

 

Feria de Abril

Da sprengt ein Fabrikarbeiter, verkleidet als Großgrundbesitzer, hoch zu Ross über den Stadtstrand, an dem sich weit nach Mitternacht einige hunderttausend Leute versammelt haben. Weil aber Pferde nicht gerade sein Fach sind, trampelt der Gaul beinahe eine Großfamilie nieder, deren Oberhaupt dem Reiter ein lakonisches: »Wegen Typen wie dir bin ich damals ausgewandert!« nachschickt.

1971 zimmerten einige jener andalusischen Emigranten, die damals nicht nur in der Schweiz oder Deutschland, sondern zahlreicher noch in Barcelona ihr Glück versuchten, vier jener Buden auf ein sandiges terrain vague in der Vorstadt Castelldefels, die – casetas genannt – sozusagen die Hardware der sevillanischen Feria biden. Als Software wären sodann a) die muchachas zu bezeichnen, die dort ihre Flamenco-Tanzkünste vorführen, b) das weitere humane Drum-und-Dran, das männlicherseits – ob toll oder bloß tollpatschig – teils beritten auftritt; und c) der in Strömen fließende Alkohol, gewöhnlich in Form von Sherry sprich fino oder manzanilla. Nicht zu vergessen das durch diese Voraussetzungen gegebene Geschäker, das in Barcelona – wie glücklich auch immer – etwas früher als in Sevilla endet, nämlich spätestens um fünf Uhr morgens.

Das ist Barcelonas »Feria de Abril«, ein Volksfest nach dem Vorbild der famosen Feria von Sevilla. Was vor dreißig Jahren mit drei oder vier Jahrmarktbuden begann, zieht heute im Lauf von zehn Tagen über drei Millionen Besucher an, mehrheitlich eben Immigranten aus Südspanien und ihre Nachfahren und Nachfahrinnen, letztere herausgeputzt in allen Varianten zwischen Adidas und andalusischer Tracht. Die Buden, in denen der Fino in Strömen fließt und wo Flamenco getanzt wird, heißen auch hier casetas. In Sevilla gibt es an die tausend davon: alle gleich und die meisten sehr selektiv – Clans-Clubs im Grunde. In Barcelona zählt man gerade mal deren sechzig: alle groß, für jedermann zugänglich, und jede wieder anders. So haben mittlerweile die Schwulen ihre eigene Caseta, »McArena« genannt nach der Virgen de la Macarena, der populärsten aller andalusischen Madonnen. Was an Barcelonas Feria hingegen fehlt, sind die »señoritos«: die feinen Herrchen, die ihre Erhabenheit zu Pferd durch das bunte Treiben spazierenführen. In der katalanischen Emigration ist gewissermassen eine soziale Utopie Andalusiens Wirklichkeit geworden: da gibt es nur noch Proleten. Anthropologen finden im übrigen nichts Erstaunliches dabei, dass die Folklore in Emigrantenzirkeln wenn nicht reiner, so doch inniger bewahrt wird. So wie ja auch einige der zurzeit interessantesten Flamencomusiker, Mayte Martín und Miguel Poveda etwa, nicht aus Andalusien, sondern aus Barcelonas Vorstadtgürtel stammen.

Die Feria de Abril musste immer wieder ihren Standort wechseln, zog über die Jahre von einem staubigen Vorstadtterrain zum nächsten. Inzwischen hat sie in Barcelona selbst ihren Ort gefunden: auf der Plaça del Forum.

 

Das Apolo-Club-Erlebnis

          First the man takes a drink, then the drink takes a drink, then the drink takes the man. Japanisches Sprichwort

»Ach so«, machte die Kellnerin gutmütig, als ich mich nicht erinnern konnte, ob sie zweie oder drei zu kassieren hatte: »Sie sän schon a bissrl konfus.« Das war wahrscheinlich, nachdem ich Gigi und ihre herrenbegleitungsbedürftigen Holländerinnen im Salambô stehengelassen hatte, um schmählich allein weiterzuzechen. Kreise an Gläsern herunterzutrinken. Sofern ich richtig rekonstruiere, hatte ich anschließend die Schnapsidee, in Les Enfants einzukehren, die zu unrecht das Beiwort »terribles« eingebüßt haben: lauter Halbwüchsige, welche trampelnd der Pflicht nachkamen, sich zu amüsieren. Mein Chemismus gewährt mir wenig Behagen, wenn Axl Rose zetert. Außerdem führte das Lokal keine trinkbaren Marken, nur multinationalen Fusel, so dass ich wieder abzog, ohne meinen perpetuierlichen Durst gelöscht zu haben; meine Schritte, entschlossen nun, die Nacht ernstlicher Verlumpung zuzuführen, in den Apolo Club lenkend.

Ein alter Ballsaal, rot, balkongesäumt; einzelne Seelen irrlichterten um selbstverzückte Leiber, die sich auf der Tanzfläche produzierten. Ein behender Spanier, gekleidet wie ein Gastarbeiter an einem Sonntagnachmittag 1966 vor dem Hauptbahnhof, zappelte in der Mitte. Ich sah mich nach Bekannten um: niemand, zum Glück. Oder leider. Das ist das Dilemma: trifft man welche, sind es die falschen; trifft man keine, sind sie noch beelendender.

Das Schöne am Apolo Club ist, dass sich immer einige Individuen alter Schule unter die Rotte mischen, die gerade den Ton angibt. Schräg gegenüber machte sich eine Blonde über den anachronistischen Gecken lustig, der sich da eins abtanzte; fand ihn offenbar zum Schießen. Blöde Gans, dachte ich, dünkt sich wohl was Besseres (Amerikanerin sicher, so straff und unmanierlich). Dann weidete ich mich selber an dem zappelnden Wicht: was war der albern! Haben denn Spanier keinen Sinn für die Lächerlichkeit? Aber noch köstlicher war doch wohl sie, die Blonde, die ihr kokettes Gespöttel vielleicht für raffiniert hielt. Lächerlich! Und ich, der nun schwankend auf sie zuging, um ihr meine angesäuselten Empfindungen mitzuteilen? Der Gipfel der Lächerlichkeit! Und schon kicherten wir zusammen, indem wir die weiteren Anwesenden zerpflückten, ihre affigen Posen und gespreizten Selbstbewusstheiten auf ihre Eignung prüften, uns lächerlich zu erscheinen. Lauter groteske Hoffart… »Und wären wir alle geknickt und angeknackst, das wäre ja noch lächerlicher!«, krächzte ich.

Ich will Sie nicht mit Einzelheiten über meinen nachfolgenden Aufenthalt in der Hanoi-Bar behelligen. Um fünf winkte ich ein Taxi herbei; nannte dem Fahrer meine Adresse. Seele hechelte, krachelte noch ein wenig – mit einem Schlummertrunk zu beheben, und ab ins Körbchen.

 

Der Weg nach San Fausto

Ein Schrotthändler in San Fausto hat eine Tochter, die letzten Samstag im Morgengrauen, vom Rumpeln eines Motors geweckt, auf den Balkon trat und zwei unsolide wirkende Individuen gewahrte, die eben einem schilfgrünen Renault 4 entstiegen. Sie konnte zwar nicht wissen, dass

das Auto kurz zuvor gestohlen worden war – ich selbst, sein Besitzer, lag zu jener Stunde arglos im Bett –; sie aber ahnte das Unrecht und alarmierte den Vater. Sowie sich dieser, Träger eines imposanten Schnurrbarts, am Fenster präsentierte, suchten die Diebe das Weite.

Der Schrotthändler meldete den Vorfall der Guardia Civil in Mollet del Vallès, ich erstattete bei der Stadtpolizei in Barcelona Anzeige. Bis die zuständigen Stellen miteinander in Fühlung getreten waren, durfte ich mich bereits von verschiedener Seite zu meinem Verlust beglückwünschen lassen. Zu solchen Sticheleien bestand, ganz abgesehen von ideologischen Motiven, aller Anlass, wird doch ein nahezu schrottreifes Fahrzeug gemeinhin als wenn nicht verkehrs-, so doch als diebssicher erachtet. Nach telephonischen Abklärungen in verschiedenen, für das jeweilige Polizeikorps charakteristischen Dialekten stand am Dienstag nachmittag fest, wo die samstägliche Strolchenfahrt geendet hatte. Aufbruch nach San Fausto: der Lokalzug ließ den Fahrgästen eine Mahler-Symphonie zuteil werden, und das Triefen aus den Lautsprechern, zusammen mit den vor den Fenstern vorbeiziehenden Stadtfransen, verseuchten Flüssen und Waldbrandausläufern, schuf eine Stimmung, die aber doch einen Pendler nicht erschüttern kann. Erst als bei der Einfahrt in Mollet ein heller Knall ein Mahler’sches Crescendo durchbrach, zuckten einige zusammen; eine Sicherheitsglasscheibe war geborsten und lief langsam milchig an. Man sah die Steinwerfer noch über die Gleise davonhuschen, einer hinkte im Gips hinten nach.

Das Polizeirevier befand sich vis-à-vis einer Tankstelle in einem der letzten Häuserblöcke. Einer der Landjäger holte eben das königliche Banner ein. Man hieß mich warten: Es kehre bald eine Patrouille zurück, und die brachte dann auch prompt die Missetäter vom Bahnhof mit. Das Gipsbein: zu dumm. Diese Bürschchen mussten sich nun auf lange Verhöre und vielleicht sogar auf eine Nacht im cuartelillo gefasst machen. Wer wirft denn auch mit Steinen nach Zügen.

Ich wurde meinerseits aufgefordert, zur Weiterfahrt nach San Fausto im Polizei-Jeep Platz zu nehmen. Ein langer Viadukt über die A-17, eine gigantische Glasdeponie, in eine Kurve der B-500 komponiert, ein staubiger Weg einigem Fabrikgemäuer entlang, und da stand er fürwahr,

mein schilfgrüner R4, verlassen zwischen den Suburbiana im Abendrot. Der schnauzbärtige Schrotthändler erschien in Begleitung eines dreckverkrusteten Negers und hielt eine Ansprache, aus der hervorging, es sei keinesfalls als Ironie aufzufassen, dass die Diebe gerade

diesen Abstellplatz für das Vehikel gewählt hatten; die wären wieder mal hinter seinem Messing hergewesen. Der Landjäger murmelte zwar etwas von Spurensicherung, Fingerabdrücken usw., warf aber achtlos das verbogene Autokennzeichen B-3056 HZ weg, welches die Diebe bei ihrer überstürzten Flucht im Auto zurückgelassen hatten, nebst einer an den Spitzen abgebrochenen Schere und einem Plasticsack, der den Proviant für die nächtliche Diebstour enthielt, zwei belegte Brötchen und einige Birnen, die ich mir auf der Rückfahrt schmecken ließ.