ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Ach ach ach

[1984-1985]

 

Absinthe (Café Marsella)

In der Zeile der schiefen Köpfe, die zum Fernsehschirm ausgerichtet sind – der kursiven oder gekenterten Häupter, könnte man sagen –, der des zahnlosen Weibes, mit Schlangen schwarz und grauen Haares – ist es nicht meine Großmutter? – die freilich die Haare immer aufgesteckt trug, außerdem ein Gebiss besaß, und hätte dieses je auch nur geklappert? Selbstverständlich nicht; einmal jedoch, es war schon dunkel, stand sie mir plötzlich zahnlos im Flur ihrer Wohnung gegenüber, mit offenen, bis zu den Hüften fallenden, vom Bürstenstrich glänzenden Haaren; ich wich zurück, von Scham ergriffen ob des obszönen Bildes ihrer rosigen, entblößten Mundhöhle, aus der sie Unverständliches lallte, vermutlich, wie peinlich es ihr sei…

Die alten Frauen hier – oh es gibt auch Männer: solche, die vom Türpfosten aus eine Weile das Geschehen auf der Gasse beobachten und plötzlich verschwunden sind; einer, kraftlos an die Theke gelehnt, der sich eine Handvoll Karbonat in den Mund schüttet, ein Teil des Pulvers geht daneben, fällt zu Boden in das Durcheinander von Papierservietten, Zahnstochern, Zigarettenstummeln, Zuckerbriefchen, auf denen steht: Versüße das Leben der Straßenkehrer, und: Katalonien, sauberes Antlitz – die Frauen sitzen, jede für sich, an den abgewetzten und von Rissen gezeichneten Marmortischen vor dem Nachmittagsprogramm. Betäubt wie Irrenhäuslerinnen, scheint es, deren Welt sich aus einer geringen Anzahl unglaublich wichtiger Winzigkeiten zusammensetzt oder aus einer einzigen großen Belanglosigkeit besteht – so oder so: es gilt, sich nicht zu nahe zu kommen, das heißt sich unter dem dröhnenden Fernsehkasten wie in Taucherglocken zu verteilen, man würde sich sonst gleich verkeilen. Als hätten sie sich Nervenkappen aufgesetzt, weil die Nervenenden sonst unversehens miteinander in ein Gefecht gerieten. Nur manchmal lösen sich aus der Männerecke einige Fetzen irgendeiner Gemeinheit, da kennt man sich natürlich aus, kanzelt den Frechling von unten herauf mit zwei Worten und einem Zahnstummellächeln ab, dann  reden wieder nur die Hinterglasfrauen der Kriminalserie, Los-Angeles-Straßen und dazwischen Nestlé-Party-Party – das Café Marsella ist ein Tauchboot, das die Spottwürdigkeiten der Oberwelt ausspioniert.

Leider habe ich schon zwei Absinthes getrunken und es ist mir nicht mehr besonders lächerlich zumute; für eine eventuelle Nichtigkeitsbeschwerde an die Adresse des Plans ist es jetzt zu spät und an ein Zurückdrehen des Rades der Zeit ist nicht zu denken, ohnehin zeigt die Uhr hier seit jeher zehn vor elf, richten wir uns also am besten gleich ein in dieser Zeit, bestellen noch eine Runde, lassen uns von einem Seemann aus Sevilla ins Ritual einlügen, Gabel aufs Glas gelegt, Zuckerstück drauf und langsam Wasser darüber gegossen, klebrige Tropfen lösen sich und platschen ins Giftgelbgrün. Nun gehen in diesem Glas merkwurdige Dinge vor sich, das braut und rottet sich zusammen, Schwaden in wechselnden Farbtönen verbreiten sich – ich, der große Laborant, aber wenn ich mich erhebe, werde ich gleich hinschlagen. – ”Keine Angst, keine Angst, Grossmama…” An der Theke irgendwie die Rechnung begleichend, zünde ich mir eine Zigarette an, gleich darauf wird mir eigenartig warm um die Füße, das weggeworfene Streichholz hat den Abfallhaufen am Boden in Brand gesteckt, kobaltblau verglüht das verschüttete Karbonat zwischen den Papieren, ich trete die Flammen aus und verlasse das Café. Jetzt nur Kurs halten, zwischen den neonerleuchteten Bars hindurch, von den Huren in den Hauseingängen bezischelt, in den Allerseelenorkan der Ramblas hinein, durch Menschenböen driftend, durch das Anbranden der Stimmen, sind nicht die Leute wie Schaumkronen? – wie! Wie kann man noch wie sagen, wo alles an die Augen schlägt – wie Kondenssstreifen fehlstartender Raketen von links nach rechts und von rechts nach links. Einer fällt mir in den Rücken, ich flüchte, schiebe mich zwischen geparkten Autos durch (wo ist meine Schlangenhaarfrau geblieben?), noch immer ruft er mir nach, hau ab, Vermaledeiter! Ich drehe mich um, ach so, den kenn ich ja, ein Irrtum, excusez! und weiter, an den dunklen Körpern der Schiffe vorbei, die im öligen Hafenwasser liegen, an den Strand. Die Sehaumkronen der Brandung: wie weisse Zeilen, von rechts nach links, von rechts nach links. – Der Maler sagt: Die Haltung des Schreibenden gleicht der des Absinthetrinkers in fortgeschrittenem Zustand.

 

Absinthe (Born Barcelona)

“Holla! Holla! Ihr da mit den zerknitterten Visagen, will sagen mit den Morgengesichtern, auf denen das Kopfkissen wüste Spuren hinterlassen hat, Holla! Hoppla! Du Verlotterter mit dem Stoppelbart, welcher sich bald mit meiner zerfressenen Frisur messen darf, Hallo! Halt da! Hohe Verkommenheit, die mit einem mühsamen Lächeln an meinem Rollstuhl vorübergeht, geh schon! Geht schon! Gehet hin und versprecht Euch vom Milchkaffee Heilung!” Und uns voran geht der Scherenschleifer, auf seiner Pfeife tirilierend, unter den Bäumen des länglichen Platzes, und Kinder gehen mit auf dem Rücken verschränkten Armen, grüssen sich ehrerbietig wie alte Männer, und eine Katze kreuzt den Weg eines in die Zeitung vertieften Herrn, dem die Innenpolitik ein zufriedenes Gesieht verschafft – würde diese Katze sich vielleicht etwas anmerken lassen? im geringsten von ihrem Weg abweichen? – unbeirrt musst Du sein, Städter; stell Dir vor, jetzt sehe ich gerade durch die schmale Seitengasse, dort vorn, mitten im Boulevardgetöse, ein Pferdchen mit Sonnenschirm – ist das nicht unglaublich? – und  durch die Steine hindurch fangen Sirenen an zu jubeln, ist das nicht unglaublich schön?

Ach würde nicht die Sonne ins Gesicht gellen, man würde dem schäkernden Krüppel freundlich zuwinken, der auf seinem Rollstuhl den Schattenzonen nachfährt; man näherte sich mit Behutsamkeit den weiteren Bewohnern des Paseo del Borne… Als erstes würde man erkennen, dass die Frau mit der blauen Herzchenbrille, die das eine Ende der steinernen Bank besetzt, ein durchlöchertes Gesicht hat: zwei Herzen, darunter zwei Krater, diese Frauensperson ist eine Spielkarte, die irgendein Nebenteufel aus dem Ärmel geschüttelt hat. Allerdings nicht der da, am andern Ende der Bank, der zuweilen mit seinem Bündel über den Platz schreitet, als habe er sich aufgemacht, als sei er jetzt wahrhaftig unterwegs, und doch sitzt er am andern Morgen wieder da, zerkrümelt Brot und Käse auf der steinernen Bank, Habseligkeiten und die Feindseligkeiten der Jahre zwischen sich und der Herzchenfrau. Sie gießt grünes Gebräu aus der Flasche in eine Coca-Cola-Dose um, dann muss sie die Strumpfbänder richten, dann zerknittertes Fettpapier glätten, immer sind diese Menschen beschäftigt, es ist erstaunlich, einmal steigt sie, die leere Flasche in der Hand, mit krächzendem Gelächter die Treppe zum Likörladen hoch, was kümmere ich allmorgendlicher Schatten sie? – und Adrienne will aufs Institut Français, und Barbara steht Modell im Künstlerzirkel, und Camai liest das neue Stadtmagazin, und Dolores geht in die Vorführung zweier Kunstfälscher, was bleibt mir da, als die Schweigsamkeit der räudigen Katzen im Park zu bewundern?

Nach dem Eindunkeln treffe ich in einem andern Viertel auf die Herzchenfrau – oder doch nicht: diese hier hat eine rote Herzchenbrille, auch trägt sie keine Stöckelschuhe, sondern hat die Füsse kunstvoll mit mehreren Plasticsäcken umwickelt, sie hat auf dem Sims vor McDonald’s Restaurant Quartier bezogen –  “I never met anyone who liked Cairo”, sagt einer, dem gerade die Pommes Frites vom Tablett geklaut werden. Wenn man an dieser Frau vorbeigeht, rollt sie sich ein wie ein Scherzartikel. Darum wagen die Frauen ihr keine Münzen zuzustecken, vielleicht auch aus Furcht, frech zu wirken mit ihrer verlorenen Zeit – die hier kann mir gestohlen bleiben mit ihrem Sekundenzeiger! Die Herzchenfrau hält sich mit ihren Zahnstummeln an einem Nastuch fest, verbeisst sich in ihr Nastuch, wahrscheinlich würde sie sich sonst aufkringeln vor Lachen, vollends aufkringeln.

Meine Liebe, Du schaust aus wie ein angebissener Apfel, wenn Du Zigarettenkippen hinter die Theke schnippst und Gin trinkst, an die Bar gelehnt. Trink aus, saug Deinen Zitronenschnitz aus, wir gehen zurück an den Born, durch die dunkle Gasse der Kirchmauer lang, an der einer kauert mit Blutspuren auf dem nackten Arm, und ein anderer folgt uns, Überdeutliches nachrufend (und wir wünschten doch nichts als Geflunker aus unverständlichen Sprachen), da klatscht von oben ein Plastiksack vor unsere Füsse, zwei Fische schlittern heraus aufs kalte Pflaster (strecken ihre toten Mäuler aus dem weissen Beutel), was soll das jetzt wieder heißen? Doch nur, sagst Du, dass in diesem Moment unsere Leibwächter umgebracht werden nach guter alter Sitte. Nur, sollen wir uns jetzt, sizilianischem Brauchtum zuliebe, noch rasch Leibwächter suchen gehen, um diese Zeit auf diesem Nachtborn, damit alles seine Ordnung hat? Der Krätzköpfige schläft auf einem Karton neben seinem Rollstuhl, vor seinem Hosenladen ein eingetrocknetes Rinnsal, neben der Markthalle liegt einer steif in seinem Barracuda, die Katzen haben sich unter geparkte Autos verzogen, auch wir jetzt, um die Ecke, ins Haus, nähern uns einander aus Entfernung, behutsam, und plötzlich bist du in der Luft, fliegst mit mir über mir, wie geht das? Plötzlich, endlich keine Person mehr zu sein… Oh Fliegerin – am nächsten Tag wieder: Sätze bilden, sich irgendwo festkrallen, Feindseligkeiten spannen.