ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Tick, Trick und Track oder Es werde Stadt
Categories: Anderswo

Berliner Freunde

Ein rückläufiges Tagebuch

Der siebente Tag. »Es gibt die englische, es gibt die französische Gartenkunst. Ein deutscher Park dagegen möchte im Grunde einfach ein deutscher Wald sein«, behauptete ich. – »So, so? Und Sanssouci? Ich bitte dich! Fürst Pückler!« – »Ich spreche nicht von künstlichen Originalen; geschweige denn von Baumschulen.«

Was wollte er mir zum Abschied vorführen, mein Freund Tick? Noch einmal hatten wir den Mauerstreifen überquert, an einem Waldrand angehalten, beim Treptower Park. Tiefe Nacht war’s, mondlos. Wir gingen über knirschende Kiesel, traten auf eine Lichtung: Vor uns erstreckte sich, flankiert von zwei gezackten, krumm in den Himmel ragenden Betonstümpfen, die Esplanade, die zum sowjetischen Ehrenmal führt. Nicht ein Stonehenge: ein Concretehenge aus Zeiten, als es noch Geschichte gab. Beidseits markierten reliefgeschmückte, den Truppengattungen gewidmete Steinfinsterlinge die Gedenkstätte. »Jeder Quader steht für 10‘000 Gefallene«, räusperte sich Tick, meine Beklemmung genießend.

Zwischen den Bäumen flackerten die Scheinwerfer eines Streifenwagens auf, der langsam längs der Esplanade näherkam. Ein Wartburg, war nun zu erkennen. »Da war’n es nur noch zwei«, bemerkte ich in die Stille, »die Ost-Autos fuhren. Die Polizei und die Parias.« Ich war fünf Jahre nicht in Berlin gewesen: Trabant und Konsorten hatten ausgeknattert.

Es war einmal ein unidentifizierbares historisches Objekt, Tauzeit genannt. Dann entpuppte sich die »Freiheit«, kaum aus der Tiefkühltruhe des Kommunismus geholt, selbst als Tiefkühltruhe bzw. Sechsyzlinder bzw. Mikrowellenherd. Aber selbst zum bloßen Verbrauchsgut und Statussymbol degradiert: Hätte sich die Freiheit nicht die Freiheit nehmen können, wenigstens die Trümmer jenes andern, jäh in sich zusammengebrochenen Blocks auf ihren Wert zu prüfen? – »Es war eben gar kein Wertesystem, sondern lediglich eine ziemlich dürftige Zeichensprache«, sagte Tick. »Und übrigens ist der Ostblock wirklich eher zerschmolzen als zerbrochen. Trotzdem staunst du, wie zügig die Demontage vonstatten ging. Reine Formsache. Man brauchte nur ein paar Ikonen von den enteisten Regalen zu holen und auf Stechschrittparaden zu verzichten, weil man Skrupel oder nicht genügend Geistesgegenwart hatte, sie gleich in ein historisches Disneyland zu integrieren.«

Stechschrittparaden: Hat man eine gesehen, so hat man sie wohl alle gesehen. Aber den sozialistischen Realismus hätte ich gern nochmals betrachtet, dessen breitspurige Präsentation wir damals auf der Museumsinsel belächelt hatten. Natürlich waren die Bilder im Keller verschwunden. »Berlin«, sagte ich, »das von seiner gewalttätigen Vergangenheit nur so triefte, scheint sich jetzt zum Musterfall posthistorischen Leerlaufs zu mausern.« – »Ja«, seufzte Tick, »der Schweiß der Geschichte hat sich als ziemlich geruchlos erwiesen.«

Er hatte an Berlin nämlich gerade dessen kräftige historische Duftnote geschätzt. Nicht zufällig führte er mich zuletzt an diesen von geschichtlicher Tragik vollgepumpten Ort, das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park. Schauerliche umwaldete Symmetrie inmitten des urbanen Chaos; wie geschaffen, um makabre Neigungen, um seine kraftmeierische Sinnlichkeit zu befriedigen. (Anderswo faszinierten ihn periphere Industriefossilien; hingegen die Vitalität, die theatralischen und ästhetischen Qualitäten eines Stadtzentrums, sagten ihm nichts.) Das Ende der Mauer erlebte er als Verhängnis, nicht erst als ihm klar wurde, dass sie uns besser vor dem Osten geschützt hatte als umgekehrt; auch nicht in erster Linie, weil die gegenseitige Kontaminierung der alten Blöcke wenig Gutes verhieß (das Gute kann nicht einfach das Gute bleiben, wenn das Böse auf einmal wegfällt); sondern weil damit das Kernstück seiner perversen Ästhetik, das uneingestehbare Rückgrat seiner Berlin-Liebe, zerbrochen war.

Nach dem »Bildersturm« (wie er geschichtsgierig die Blitzverschrottung des ikonischen Überbaus nannte) bleibt die gebaute DDRlichkeit. Auf die Öffnung folgte eine Saison der Entdeckungen. Man durchstöberte die Deutsche Demokratische Rumpelkammer, erschauerte vor ihren Plattenbaudelirien. Marzahn, Superlativ aller Architekturgreuel; Kraftprotze wie dieser Treptower Park, dem unser Abschlussbesuch galt; oder das einst jüdische Scheunenviertel, das wir gleich nach meiner Ankunft durchstreift hatten. Oh Wunder, dass es überhaupt noch steht, kriegsversehrt und nachkriegsverlottert (im Westen wäre es wiederaufbauverwüstet; man darf sich aber bei dieser Gelegenheit fragen, was eigentlich an unserer verpönten Nachkriegsarchitektur, mag sie auch mehr alte Bausubstanz gekostet haben als alle Bombardements, so viel schlimmer sein soll als an den Mietskasernen von dazumal). Im Scheunenviertel haben sich nun, unweit der glitzernden, frisch renovierten Synagoge, zum Beispiel Galerien eingenistet, eine junge Ost-Szene, die dem etablierten westlichen Kunsthandel die Stirn bietet. Derzeitiges Hauptquartier dieser Kulturguerilla ist das zerbombte Kaufhaus Wertheim an der Oranienburger Strasse, unter dem Namen »Tacheles« spektakulärer Exerzierplatz eines frisch erwachten, dem Tag (und den Nächten) verpflichteten Schöpferdrangs. »Ein subventionierter Höllenbreughel.« – »Lach nur. In Berlin ist aber alles Provisorische, Ungewisse, Schnellebige an sich ein Positivum«, hielt Tick fest. »Die Gefahr besteht gerade darin, dass solche Nischen, dass die ganzen Stadtbrachen jetzt im Hauruckverfahren zubetoniert werden, und statt der Mauer haben wir dann einen Büroriegel.«

Wir waren an jenem ersten Berliner Tag per S-Bahn in den Osten gefahren. Dem Tiergarten, dem Spreebogen entlang (»der Reichstag, bitte schön; und dort wird der Kanzler kanzeln«) präsentierte Tick das Panorama der künftigen Hauptstadt. Vorläufig ist das die Gesichtslosigkeit selbst. Die ganze Zersplitterung, das städtebauliche Dilemma Berlins im Rohzustand treten einem auf dieser Strecke vor Augen. Keinerlei bauliches Ensemble, an dem sich der Blick weiden könnte, kaum je auch nur eine geschlossene Fassadenfront. Wer käme auf die Vermutung, hier in einer europäischen Stadt zu sein? Blocksäume um Wiesengründe, ungestalter Häuserwald mit seinen Lichtungen… Die Strecke führte am Lehrter Bahnhof, an der Charité vorbei, man durfte an Döblin denken, an »pulsierendes Großstadtleben«. Aber ist angesichts der bestehenden Zerstückelung, eingedenk unserer eigenen Zerstückelung, der Rückgriff auf historische Stadtmodelle nicht einfach grotesk? Als könnte ein Vorkriegs-Berlin, Biberkopf und Liza Minelli inbegriffen, mimetisch nochmals erstehen. Müsste Stadtplanung nicht, nirgendwo wie hier, gerade das terrain vague zum Anlass und Vorbild nehmen? Die offene Unstadt, die viele in ihren Bann zieht (mich nicht). Vielleicht sollte man noch vor ihrer Erschaffung erst einmal ruhen.

Der sechste Tag. Wir glitten in Tricks Luxus-Cabriolet durch Ost-Berlin hinaus. Frankfurter Allee, zentrumwärts eines der Hauptwerke der Plattenbaukunst (so spannend wie ein Andy-Warhol-Film), und sogar die einzige Abwechslung war eine Wiederholung: »Linkerhand: Hollywood auf sozialistisch«, machte mich Trick mit genau denselben Worten, wie einige Tage vor ihm Tick, auf den Lichtspielpalast »International« aufmerksam. – Rem Kohlhaas hat recht, wenn er sagt, wir bräuchten einen neuen Walter Benjamin, der die Schönheit des Alexanderplatzes beschreibt, so wie er heute ist. Das Vorhandene ist so ungeheuerlich, das Ungeheure so total, dass man allmählich lernen müsste, damit zu leben.

Wo überhaupt die Stadt sei, fragt man sich von der S-Bahn aus. Nun erkundigte ich mich beiläufig, wo eigentlich die Berliner seien, die Millionen Einwohner, von denen sich kaum je einer auf der Straße blicken ließ. »Aber du siehst doch«, regte sich Trick über meine Naivität auf. »Was sollen die Leute draußen? Es gibt da ja nichts für sie.«

Und nun erst das Land. Wir hatten uns einen Gasthof mit Seeblick ausgemalt. Irrfahrt durch brandenburgische Dörfer, einige davon frisch renoviert, und in ihrer pedantisch aufgeputzten Ärmlichkeit wirkten sie um so betrüblicher. Wir folgten einem Wegweiser, der einen »Seepalast« mit »Fischspezialitäten« verhieß; erwies sich dann als eine Baustelle, vom See durch die neue Autobahn getrennt. In der DDR hatte man noch kopfsteingepflästerte Landstraßen instand gehalten.

Trick photographierte einige Kuriositäten: Die frivole Imbissbude beim KZ Sachsenhausen. Den Schriftzug »Wohnkultur« auf einem rattengrauen Kasten mit Satteldach. Das Denkmal »Dem Meisterfahrer Adolf Huschke«, der 1923 im Rennen rund um Berlin aus dieser Kurve geflogen war. Ich machte meinen Freund auf eine kokette Tankstelle aufmerksam, aber er winkte ab: »Zapfsäulen photographieren, das haben wir mit achtzehn schon hinter uns gebracht. Es wäre nur das Eingeständnis, zwanzig Jahre später noch denselben ästhetischen Marotten nachzuhängen.« – »Stimmt: sowas macht höchstens noch Wim Wenders.«

Endlich fanden wir, wenn auch keinen Seepalast, so doch eine Waldschenke und ließen uns unter märkischen Kiefern und gestreiften Markisen Schweinernes vorsetzen. Seit ich in Berlin war, hatte ich nichts als Quarkhäppchen und Spinatkuchen zu mir genommen; einmal einen »Eiersalat«, der sich als Mayonnaise erwies, in der einige Spargelschnipsel schwammen, das Ganze durch Gurkenstreifen unzugänglich gemacht, zwischen denen man sich mit Messer und Gabel in die Tunke vorzukämpfen hatte. Gewiss lebt auch die Bulettenkultur fort (inkl. Schlager aus einheimischen Kehlen), dies jedoch vornehmlich in den dem treudeutschen Publikum vorbehaltenen »Schultheiß«-Kneipen. Scharf ist die Abgrenzung zwischen diesem und der alternativen Fauna, welche Berlin den Ruf einer Hochburg aller Minderheiten, von Körnchenfressern bis Lederboys, eingetragen hat: Fortsetzung der Teilung mit andern Mitteln. Was fehlt, sind bürgerliche Nuancen.

Der fünfte Tag. Lauter adrett gekleidete Menschen, hatte Track gesagt, säßen in dem Café am Savigny-Platz, dessen Namen ihm entfallen war. Es war trotzdem leicht zu finden; ich brauchte nur davon auszugehen, er habe mich an den einzigen Ort in der näheren Umgebung bestellt, dessen Eigentümer schon mal das Wort Design gehört, wenn auch gründlich missverstanden hatten. Und nun diese »nett angezogene« Gästeschar: in abgesägten Jeans, grellbunten Blousons… Charlottenburgerinnen mit schlotternden Brüsten, sonnenlüsternen Gesichtern – ich wies Track höhnisch auf ihre reklamebeschrifteten Synthetiks hin, musste mir jedoch sagen lassen: »Es ist nicht gerade ein Zeichen von Originalität, sich darüber aufzuhalten, dass Deutsche sich möglichst teuer möglichst schrecklich anziehen.« – »Man scheint hier einem stillschweigenden Schlampigkeitsgebot zu gehorchen.« – »Du hast Wichtigeres zu sagen. Neben der Frage, wie die leidige deutsche Identität in Millionen Tonnen Beton repräsentiert werden soll, dürfte das nationale Faible für Mustermix ein zweitrangiges Problem sein.«

Ich fand es immerhin interessant, dass Deutsche an ihrer eigenen Geschmacklosigkeit leiden und trotzdem permanent Mustermix in inkompatiplen Farben tragen. »Man handelt wider die bessere Einsicht. Was mich in diesem Zusammenhang irritiert, ist zum Beispiel das fortwährende Gerede von einem pulsierenden Grossstadtleben. Der Bausenator, die Architekten, der Herausgeber der Berliner Zeitung, alle teilen sie diese Sehnsucht, wenn sie an die Zukunft Berlins denken; und dann streitet man sich endlos darüber, wer wo wie hoch bauen darf, um ›das Ding zum Leben zu kriegen‹. Es scheint gar niemandem aufzufallen, dass das Leben von den Leuten gemacht wird und nicht von der Traufhöhe. Wo das Geschehen gut ist, ist auch der Ort gut. Bei der ganzen Diskussion ist eine tiefsitzende Angst vor Konzentration spürbar, während das Grundproblem Berlins für mich gerade die fehlende Dichte ist«, argumentierte ich.

»Du siehst ja, welche Interessen jetzt in diese Lücken schießen«, wandte Track ein. »Zwanzig Prozent Wohnanteil, es klingt wie ein Hohn, scheint aber das Maximum zu sein, das heute finanzierbar ist. Damit ist von vornherein das Todesurteil für ein lebendiges Zentrum gesprochen, obwohl sich alle einig sind, dass das einzige Rezept dafür eine gute Durchmischung wäre. Die Stadt des 21. Jahrhunderts zu denken, die wahrscheinlich gar kein herkömmliches Zentrum braucht, davor schrecken die meisten zurück. Lieber träumt man von Gründerzeit und Döblinschen Hinterhöfen und verschachert den Boden einstweilen an die Konzerne, damit diese die Narbe ausmerzen, die der Krieg und die Teilung hinterlassen haben. Eine schreckliche Narbe, zugegeben, aber dabei werden aus toten Räumen nur wieder tote Räume entstehen, und der Stadtkörper als Ganzes siecht dahin. Es ist wie ein Schwarzes Loch, das planerische Energien absaugt, die besser auf den Berliner Großraum gelenkt würden. Wirtschaftlich steckt Berlin in einer schlimmen Lage: eine subventionierte Insel, abgehängt durch Krieg und Nachkriegszeit. Als ich vor einem Jahr aus Westfalen hierherzog, war ich zunächst fasziniert von der Ungeheuerlichkeit der Aufgaben. Aber allmählich vermisse ich die Beweglichkeit, die dichte dezentrale Vernetzung, die in Westdeutschland viele Dinge ermöglicht. Im Vergleich dazu erscheint Berlin schwerfällig. Falls es nicht gelingt, den Druck zu verteilen, unter dem die Stadt steht, wird sie ein Abbild jener Interessen werden, die jetzt ihre Klüngel um sie bilden.«

Der vierte Tag. »La flânerie, si chère aux peuples doués d’imagination…«, in Berlin ist darauf zu verzichten. Spaziergänger: eine ausgestorbene Spezies. Die Gewohnheit, bestimmte Ziele zu Fuß zu erreichen, wird man hier bald bereuen. Der Blick des Voyeurs geht ins Leere. Nicht die Distanzen sind das Problem: Quer durch Paris, längs durch Manhatten ist man auch stundenlang unterwegs.

Wenn man aus New York kommt, erscheint einem Paris wie eine irreale Kulisse. Mit dem New Yorker Bestiarium verglichen, wirken Pariser Straßenszenen harmlos, liebreizend, fast operettenhaft. Nun war ich via Paris nach Berlin gekommen, und aus diesem Blickwinkel kam mir Paris von nachgerade wilder Betriebsamkeit erfüllt vor. Diese Stadt sei bloß noch eine Maschine, um Geld zu machen? Immerhin mit einem vielgestaltigen, von Straße zu Straße wechselhaften Alltag gesegnet, wie es ihn nirgendwo in Berlin gibt. (Man höre die Gegenbeispiele. Tick: »In Kreuzberg hat gestern nacht ein Schwarzer einen Unfall gebaut. Der Polizei ist nichts Schlaueres eingefallen, als auf den Verletzten einzuknüppeln. Sofort haben sich die türkischen Anwohner in Schlafanzügen um die Szene versammelt und ihrerseits den Beamten die Hölle heiss gemacht.« – Trick: »Auf dem Arbeitsmarkt sind jetzt Polen im Sonderangebot. Malochen für drei Mark die Stunde.« – Track: »Bei uns im Erdgeschoß gibt es eine vietnamesische Bar. Der Besitzer hat sich geweigert, die Schutzgebühr zu bezahlen. Letzte Woche ist er von der Mafia abserviert worden.«) Ausländer sind in Berlin für Faits divers gut, im Straßenbild treten sie kaum in Erscheinung. Ein biederes Stück, das auf dieser Bühne gespielt wird (»Blutrecht« betitelt), und erst noch vor dürftiger Kulisse.

Ungefähr so, als bliebe von Paris nur die Peripherie. Durch die Mauer ist eine Bannmeile im Zentrum entstanden, das übriges schon vor dem Krieg zweipolig ausgebildet war, nur noch nicht ideologisch aufgeladen. (Hauptstadt der DDR versus Schaufenster des Westens. Eine Straße, die wirklich zum Heulen ist: der Kudamm.) Ostöde, Westöde. Diesseits der Mauer ist man der selbstverschuldeten Misere in den achtziger Jahren mit der Internationalen Bauausstellung begegnet: Reparatur, Heiligsprechung der Blockrandbebauung, einige Glanzlichter. Der Osten blieb dem Grau verschrieben. Wie oft man das Wort von den Verbrechen dieser Architektur auch aufgenommen hat, ihre Totalität spottet aller Beschreibung. Die Schönheit des Alexanderplatzes zu würdigen – »rüschengeschürzte Holländerinnen priesen ›Keese und Gemüüse‹ an, die’s in einer Tombola zu gewinnen gab, gute Feen im Würstelbudenland unter dem Augapfel des Fernsehturms« –, fällt einem leichter, hat man erst den vierzigminütigen Fußmarsch vom Alex zum Potsdamer Platz hinter sich. Nur ein Irrer wie ich, der wähnt, er könne auf diesen Autobahnen ein Taxi abfangen, lässt sich auf ein solches Martyrium ein. Eine Polizeistreife, die an einer Ampel ihre Lautsprecher quäken liess, brachte endlich eine menschliche Note in die Blockschaften: »In der Stadt fahren wir mit 50.« Ansonsten: stumme Platte.

Der dritte Tag. »Sieh dir diesen Aschenbecher an, diese Lampen, diese Attrappe von Schreibtisch. Das war notabene der Arbeitsplatz nicht eines kleinen Beamten, sondern eines DDR-Spitzenfunktionärs. Jede Zahnarztpraxis in Zehlendorf hat mehr Niveau.« Wir waren in Tracks neuem Büro im Ostteil der Stadt. Er hatte sich in den Triumph der Hässlichkeit zu schicken.

»Eine ästhetische Tragödie, die ganze DDR, keine Frage. Sollte nicht daraus so etwas wie eine tragische Ästhetik zu entwickeln sein?«, wortspielte ich, auf die Schönheit des Alexanderplatzes gemünzt.

Richtung Alex gingen wir nun, um uns zwei Ausstellungen zur Berliner Zukunft anzusehen. Die Wettbewerbsentwürfe zum Regierungsviertel im Spreebogen (835 Teilnehmer, 835 Pappmodelle; womit zumindest die herrschende Konfusion einen adäquaten Ausdruck erfuhr) sowie die Vorschläge zur Neugestaltung des Alexanderplatzes, wo die Bauwut gigantischere Ausmaße als selbst am Potsdamer Platz anzunehmen droht. Wir kamen auch an der einstweilen größten Baugrube in Berlin-Mitte vorbei, an der Friedrichstrasse. Ein kurz vor der Vollendung stehender DDR-Großbau war dort demonstrativ abgerissen worden, um durch einen von westlichen Stararchitekten entworfenen Geschäftskomplex ersetzt zu werden. »Galeries Lafayette, usw. Jean Nouvel, Ungers, Pei bauen hier: ›Hoppla, jetzt kommen wir!‹ Man kann darin ebensogut einen Ausdruck westlicher Anmaßung wie östlicher Hoffnungen sehen. Den Investoren geht es darum, Brückenköpfe zu bilden, freilich nur bis zum Alexanderplatz. Die Gebiete jenseits davon scheinen noch als Indianerland zu gelten. Alles stürzt sich auf die Mitte, hie Kaufhof, hie Kinkel, und die gleiche besinnungslose Hast wie bei der Wiedervereinigung lässt jetzt in der Berliner Stadtplanung die schlimmsten Träume wahr werden«, so Track. Ich fügte hinzu: »Solche Prozesse sind wohl nicht steuerbar. Was hülfe es übrigens, wenn man sie wenigstens verlangsamen könnte? Später würde womöglich alles noch schlimmer.« – »Ein Vorgang, der sich nur in psychoanalytischen Begriffen fassen lässt, sagt Nikolaus Kuhnert: Genau das, was man am meisten fürchtet – amerikanische Schnickschnackarchitektur –, setzt sich in unvorstellbarem Ausmaß durch. Ein urbanistisches Kesseltreiben, untermalt vom Halali des Hauptstadtentscheids, und der Hase, der in die Enge getrieben wird, ist der Berliner Boden.«

Der zweite Tag. Trick holte mich in Charlottenburg ab. Kein Scherz: wir stiegen tatsächlich in ein weiß schimmerndes BMW-Cabriolet. Hm: ein so protziges Auto zu fahren, ich würde mich schämen. Als Berliner empfindet man es wohl als stilvoll, d.h. naturgegeben (wenn nicht, das andere Extrem, als unsittlich).

Es sollte ein längerer Abend werden, Gabelfrühstück im »Schwarzen Café« inbegriffen. Ich hätte gern mit der »Paris Bar« angefangen, jenes Hangs zum fortgesetzt albernen Giftsprühen wegen, Berliner Schnauze genannt, welche sich dort von akzentfrei kellnernden Langschürzen französisch abfüttern lässt. »Schultheiß auf geistreich«, sträubte sich Trick und ich trauerte zwar dem Sancerre nach, gab ihm aber recht: »Der Motzke als Einzelner, damit lässt sich leben, aber so en masse, als Erbgut und Sippe: mühsam.«

Es musste daher der Osten sein, wo auch westlich erblühte Mauerblümchen, die bei Tag für Land und Leute von drüben nicht viel übrig haben, durch die klaren Nächte nischen. Genauer gesagt: hin und hoch ging’s wieder her, zwischen »Tresor« und »Caracas«; und es erwies sich, dass sogar preußisch-nüchterne Verkommenheit inzwischen einen Hang zur Erbsünde des Ornaments entwickelt hat. Entgegen Tricks lokalpatriotischer Behauptung, das sei in Berlin ausgeschlossen, traf ich einige alte Bekannte wieder: Raffi, der mir vor acht Jahren meinen halben Werkzeugkasten geklaut hatte (»Ich will meine Feile wieder haben!«), sowie den ewig zerzausten Egbert, der rotfleckig im Gesicht und Entschuldigungen murmelnd gleich zweimal, beim Hereinkommen wie beim Hinausgehen, über dieselbe Schwelle stolperte.

Auf märkischen Sand gebaute Nächte, geistige Verwehungen möglich. Das Besondere daran? Die Berliner halten wie alle Großstädter gerade das für besonders, was überall besonders besonders ist: zum Beispiel ihre Ausländer. »Gäbe es nur die Deutschen«, albträumte mir gegen fünf Uhr in dem Thai-Bordell, in dem wir den Vorletzten genehmigten, »so würde man zwischen Bulette und Spinatkuchen versacken, ungefähr so wie wir heute nacht zwischen Ost- und Westberlin.« Worauf Trick unter dem

Beifall der Animierdamen mit einem Handstand auf einem der Tischchen bewies, dass man für Kreuzberger Nächte auch körperlich fit sein muss. Und es ward Licht, wieder einmal.

Der erste Tag. Charlottenburger Schläfrigkeit. »How to write a successful Hollywood script« lag zuoberst auf dem Bücherstapel meiner Gastgeber. Luxuriös, diese Wohnung am Stuttgarter Platz, mit der Reihe Strassencafés gleich gegenüber. Damit freilich ein bisschen Betrieb aufkommt, wie er sich für eine Metropole ziemt, bedarf es in der deutschen Hauptstadt schon einer mittleren Katastrophe.

Einer Feuersbrunst, zum Beispiel. Als ich an der Yorckstrasse aus der U-Bahn stieg, verdunkelte eine Rauchwolke den Abendhimmel. Ich ging in die falsche Richtung, unter den zwanzig Brücken durch. Einen Moment lang befürchtete ich, in dem infernalischen Geheul der Löschzüge, die sich durch den Benz- und Audi-Stau zwängten, zusammenzubrechen. Ich ging zurück. Diesseits der Brücken tummelten sich die Schaulustigen. Es gab Schlägereien. Ich fand die Adresse und ging hinauf. Tick stand genießerisch am Fenster, neben sich die Videokamera, die das Ereignis festhielt. Aus der S-Bahn, die mitten auf der Strecke stehengeblieben war, stiegen die Fahrgäste und trotteten über den Viadukt davon.

»Kann sich sehen lassen, das Eröffnungsprogramm«, flachste mein Freund. Schwarz-rot-gold, so muss das sein, hat schon Nina Hagen die deutsche Dämmerung besungen. »Anderswo würde ein Feuer solchen Ausmaßes einen ganzen Stadtteil vernichten«, sagte ich. »Aber Berlin hat sein Brachland. Und wenigstens ist etwas los.«

Tick reichte die Aperitifs. Allmählich lösten wir den Blick von der apokalyptischen Szene vor dem Fenster, setzten uns zum Essen, blickten nur hin und wieder zu dem Feuerschein hinüber, der das Niemandsland zwischen dem Anhalter Bahnhof und dem Gleisdreieck erleuchtete. (Um Mitternacht war der Brand gelöscht.)

[NZZ, März 1993]

vgl. Berlin – Welt Online 101001

Tags:,

Leave a Reply

You must be logged in to post a comment.