Über die Ästhetisierung des Lebens in Japan
SIE KOMMEN IN TOKYO AN und haben das Glück, am Flughafen einen Lokalzug zu erwischen. Es ist neun Uhr morgens und augenblicklich macht Ihr Japanbild – die Idee, die Sie sich von den Japanern machten – eine Pirouette. Haben Sie eine homogene Masse erwartet, ein Volk von lauter Angepassten? Was Sie frappiert, ist gerade die Differenz, die Andersartigkeit auch dessen, was Sie als verwestlicht empfinden. Japan hat die ganze abendländische Moderneerfahrung synthetisiert und daraus etwas Neues, auf unentwirrbare Weise mit seiner eigenen Ästhetik Vebundenes gemacht.
Und dann gibt es in diesem Waggon eine Typenvielfalt, die Sie an japanischen Touristen nie wahrgenommen haben. Sehen Sie diese träumende Dame, edel, die Hände über dem Knauf ihres Regenschirms gefaltet. Wobei es natürlich gar kein Knauf ist, sondern vielmehr ein elegant geschwungener Griff, sachlich wie der schwarze Glanz ihrer Haare, dieser skulpturalen Coiffure, die ihren diaphanen Teint umrahmt. Und daneben diesen Bauernlümmel, oder die beiden Gecken, die kurz nach dem Flughafen zugestiegen sind. In ihren schlotternden dunklen Designeranzügen aus feinstem Zwirn, jeder mit seiner grellbunten Krawatte von einer Breite, wie sie eigentlich nur einem amerikanischen Fernsehprediger ansteht, scheinen sie direkt aus dem nächtlichen Lotterleben in ihre Karrieren gestartet bzw. umgestiegen zu sein. Jetzt löst der eine seine Halsbinde und legt sie in sein exklusives Alu-Case, holt eine andere, schmalere sowie einen Spiegel hervor und fängt an, seine schulterlange Mähne zu kämmen. Kämmt und kämmt und kämmt sich, wie hypnotisiert durch sein Spiegelbild. Und dann steigt er an derselben Haltestelle wie der Bauernlümmel und die Edeldame aus. Nie werden Sie erfahren, wohin es diese Stadtnomaden trieb.
DIE LUST AN DER OBERFLÄCHE ist überall. Sie ist im Essen. Sie ist in den Neonkaleidoskopen der Städte. Sie war schon in dem kleinen Wunderwerk der Fahrkarte, die Sie am Flughafen gelöst hatten. Man sollte Blinde nach Japan schicken und sie über ihre Erfahrungen mit japanischen Texturen berichten lassen. Sie könnten zum Beispiel die weit über 2000 Zeitschriften, die jedes denkbare Marktsegment (einst Hobby genannt) abdecken, daraufhin überprüfen, wie verführerisch sie sich anfühlen. Fast schmerzhaft deutlich aber wird die Lust an der Oberfläche in der Sorgfalt, die Japaner auf ihr Äußeres verwenden. »So Hip It Hurts«, betitelte Time eine Story über Japans junge Modeschöpfer. Dass Snobismus ein Massenphänomen sein kann, das werden Ihnen nun Tokyos Strassen vor Augen führen.
ABER WAR DA NICHT von einer Krise die Rede, von einer seit 1991 anhaltenden Konsumunlust, deretwegen sich Politiker und Ökonomen hintersinnen? Die auch Europas in den achtziger Jahren auf dem japanischen Markt gemästete Luxusindustrie zu spüren bekommt? »Kein Ende von Nippons Elend in Sicht«, an solche und ähnliche Schlagzeilen haben Sie sich gewöhnt. Und nun spazieren Sie über die Trottoirs von Aoyama-dori und wähnen sich auf einem Laufsteg. Der Chor der Kleider: nirgendwo haben Sie den letzten Schrei je so vielstimmig, so harmonisch vernommen (einige schrille und surrealistische Obertöne inbegriffen). Sie schauen beschämt an sich herunter und denken: Trage ich denn nicht auch eine Armani-Hose, wiewohl aus dem vorletzten Ausverkauf? Eben.
SCHON 1990 HATTEN 99 PROZENT der japanischen Haushalte Farbfernseher, Kühlschrank und Waschmaschine, 63 Prozent eine Klimaanlage, 34 Prozent eine Golfausrüstung. Bei solcher Marktsättigung musste die Binnennachfrage ja wohl vorübergehend stagnieren. Aber weder mit Steuerermäßigungen noch mit Konjunkturspritzen gröbsten Kalibers gelang es der Regierung bisher, das japanische Volk wieder in den guten alten Kaufrausch zu versetzen. Lieber bleibt es auf seinen Ersparnissen – in Weltrekordhöhe – sitzen. Kann es eine schlimmere Nachricht geben als negative Wachstumsraten? Was nun das Kabinett sogar zu der vielbelächelten Maßnahme bewog, Einkaufsbons im Wert einiger Tamagochis an die Bürger auszugeben, um den privaten Konsum anzukurbeln. Wirtschaftstheoretiker mögen darin einigen Stoff zum Nachdenken finden; auch wenn es auf den ersten Blick keine dauerhafte Lösung zu sein scheint, die Leute dafür zu bezahlen, dass sie kaufen.
Seit die Blase der Grundstückpreise 1991 platzte und die japanischen Bankgiganten, namentlich in der Asienkrise, faule Kredite in der Höhe von Hunderten Milliarden Dollar abschreiben mussten, sind die Reichen etwas ärmer geworden, die Spesenbudgets der sararimen für feierabendliche Ausschweifungen wesentlich bescheidener, und erstmals seit den Nachkriegsjahren ist in den Städten ein japanisches Lumpenproletariat in Erscheinung getreten – das sich in seinen bemalten Kartonburgen freilich auch wieder mit Stil einrichtet.
Nichts wäre jedoch irriger als die Annahme, der Durchschnittsjapaner sei nun plötzlich zur Askese der Aufbaujahre zurückgekehrt oder übe sich in Konsumverweigerung, vielleicht weil er den Wert der Lebensweise seiner Altvorderen wiederentdeckt hätte. Gerade solche vorindustriellen rêveries sind längst Teil des kommerziellen Räderwerks selbst. So spielen die zahlreichen traditionellen Festtage des japanischen Kalenders, ergänzt durch aus dem Westen importierte wie Weihnachten und Sankt Valentin, in den Verkaufsstrategien der depato (kurz für department stores) eine herausragende Rolle und werden von ihnen als ein Reigen von Konsumorgien inszeniert. Einen alten Brauch wie den rituellen Besuch eines Shinto-Schreins zu Neujahr halten Sie in Ehren, indem Sie bei Seibu oder Mitsukoshi ein furusatu paku (ungefähr: assortierte Heimat-Geschenkpackung) auswählen, wobei der Helikopterflug zu dem Schrein gleich inbegriffen ist, ebenso wie die Putzfrau, die in der Zwischenzeit die obligate Neujahrsreinigung im Haus besorgt.
Ein gutes Warenhaus handelt nicht nur mit Waren, sondern auch mit Informationen und Dienstleistungen. Sie können dort ein Haus kaufen, einen Urlaub buchen, eine Versicherung abschließen, einen Kredit aufnehmen oder an der Börse investieren. Sie haben die Wahl zwischen mehreren Restaurants, die meist eine ganze Etage einnehmen. Sie werden in oft hochkarätige Kunstausstellungen gelockt – der Einzug der Kunst ins Warenhaus signalisierte schon in den sechziger Jahren das Ende der Trennung der Hochkultur von der Massenkultur. Sowie Sie den Aufzug in einem dieser mindestens acht-, mitunter aber auch zwanziggeschoßigen Warentempel betreten, werden Sie vom elevator girl (japanisch zur erega gekürzt) mit abgezirkelten Gesten und lieblicher Stimme dazu eingeladen, in der Anhäufung von Glückszeichen – als welche die auf allen Etagen ausgebreiteten, gewöhnlich viel großzügiger und sorgfältiger als bei uns präsentierten Luxusgüter zu betrachten sind – Ihren persönlichen Traum vom Glück zu verwirklichen. So gibt es in Japan nicht weniger als zwanzig Millionen Fischer, sprich Kunden für die ausgeklügeltsten Fischereiausrüstungen. Aber natürlich geht kaum jemand wirklich fischen. Wo auch? Dito für Golf, das vorwiegend auf den Übungsplätzen auf den Dächern der Kaufhäuser praktiziert wird. (Solche Beschränkung auf den immer gleichen, endlos perfektionierten Schlag hat freilich wieder eine eigene und sehr japanische Schönheit.) Notfalls kann die entbehrte Natur auch durch künstliche Landschaften, komplett mit Himmel und Brandung, ersetzt werden: etwa im Phoenix Seagaia in Kyushu. Ein anderes gigantisches Beispiel ist der Ski Dome mitten in Tokyo, wo Tokyoiten und Tokyoitinnen sich jahrein jahraus in ihren fabelhaften Wintersportausrüstungen darbieten.
Sind das lauter Verblendete? In sämtliche Fallen der Konsumgesellschaft Getappte? Erbärmliche Konformisten gar? Oder haben sie vielmehr das Know how, wie man sich, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, im Universal-Digest der Gegenwart sein Stück Welt abschneidet? Wirtschaftsflaute hin oder her steht außer Zweifel, dass uns die Japaner an Oberflächlichkeit, in Sachen Präsentationskunst und unverdrossener Ästhetisierung des Lebens, immer noch weit voraus sind.
TOKYO: EINE TRANCE, ein Taumel, in dem andere Metropolen etwas zurückgeblieben wirken. New York, eher schwerfällig. Paris, erstickend in seiner Geschichtlichkeit. Hässlich sogar, obwohl doch gerade Tokyo lange im Ruf einer unansehnlichen, chaotischen Stadt stand. Aber über dieses Bild hat sich seit den achtziger Jahren, und zunächst im Bewusstsein seiner Bewohner, ein anderes geschoben: das der vollkommensten urbanen Verkörperung der Gegenwart. Und diese Verkörperung besteht gerade in der Flüchtigkeit, dem Flirren, der Unfasslichkeit des Stadtkörpers: im fortwährenden Wandel, der sein Wesen ist. Annähernd die Hälfte der Bausubstanz stammt aus den letzten zwanzig Jahren (Tag für Tag werden hier 12’000 Quadratmeter abgerissen und 60’000 neu gebaut). Selbst einen zum modernen Mythos gewordenen Platz wie Shibuya eki-mae erkennen Sie auf einigen Jahre alten Photos nicht wieder. In Wirklichkeit ändert er sein Gesicht, das vorwiegend aus Reklamen besteht, fast täglich – sekündlich, wenn Sie auf die flimmernden Grossbildschirme an den Fassaden starren. »We have Fashionable Feelings all over the world!« lesen Sie dort, und irgendwie leuchtet Ihnen diese Botschaft trotz des kryptischen Englisch ohne weiteres ein.
MYRIADEN FREI ZIRKULIERENDER ANWANDLUNGEN, BEGIERDEN, VERRRÜCKTHEITEN sind in Tokyo Stadtgestalt geworden: genau das Gegenteil des klassisch geordneten, abendländischen, von der Zentralperspektive regierten Urbanismus, dessen Schwanengesang Le Corbusier vortrug, indem er die menschlichen Bedürfnisse auf die Heilige Dreifaltigkeit Licht, Luft und etwas Grün reduzierte. Wenn die westliche Moderne versucht hat, der Welt die angeblich universellen Gesetze eines Raumes aufzuzwingen, welchen die nichteuklidische Geometrie schon im letzten Jahrhundert als nur relativ erkannt hatte, so ist heute Tokyo in seiner Regellosigkeit, mit seiner fabelhaften Überlagerung verschiedener Verkehrssysteme, dessen eindrucksvollste Ausformung in der materiellen Welt. Wie in den uralten Strukturen der japanischen Gesellschaft erhalten auch in Japans heutigen Städten die Erscheinungen ihren Sinn erst aus dem Netz der Beziehungen, in das sie eingespannt sind. Nicht um eine Komposition von Objekten geht es, sondern um das Muster der Ereignisse. Den schönen Satz von Aldo Rossi: »Wo der Ort gut ist, ist auch das Geschehen gut«, können Sie in Tokyo umkehren. Es ist das Schauspiel, das Millionen tokyoitische Snobs in Szene setzen. Und der ewige Donner der Lastwagen auf dem erhöhten Expressway verwandelt sich in Meeresrauschen. Was nicht eine schale Metapher ist, sondern was Sie wirklich im ersten Moment, wenn Sie nachts in Ihrem Zimmer die Fenster öffnen, aus der Ferne zu hören glauben.
SIE GEHEN JETZT und fühlen sich dabei ein wenig plump, und doch zugleich als höheres Wesen, nämlich als ein Tokyoneur unter anderen, zwischen den Elegants auf Aoyama-dori Richtung Shibuya. Es gibt in dieser Gegend Bistrots, in denen Sie von den Kellnern auf französisch angesprochen werden. Comme des Garçons, Issey Miyake und Yohji Yamamoto haben hier ihre Läden. Bei der Metrostation Gaien-mae kniet ein Herr im Business Suit auf dem Trottoir: bei genauerem Hinsehen kappt er die Gräslein, die aus den Fugen zwischen den Steinplatten sprießen. Es scheint übrigens nicht genug Straßenaschenbecher zu geben, denn hie und da – höchster Verschmutzungsgrad – liegt tatsächlich eine einzelne Kippe auf dem Asphalt. (Einen unerwarteten Beitrag zum Thema Geldwäscherei lieferte die Japan Times unter dem Titel: »Problem: germs; solution: laundering your money«. Es ging um neue Geldautomaten, die die Scheine gewaschen und gebügelt expedieren. Soviel zum Sauberkeitsfimmel der Japaner.)
Die Straße ist das Wohnzimmer dieses Volkes, das im Verhältnis zu seinem Bruttosozialprodukt weiterhin mit minimalen Behausungen Vorlieb nimmt. Auch deshalb ist Tokyo eine Flanierstadt ersten Ranges. Der Verlauf der Straßen wird weitgehend durch die Topographie bestimmt. An Omote-sando, einer großartig quer durch eine Talsenke gelegten Allee, durchstreifen Sie die Dojunkai-Blöcke aus den Jahren nach dem letzten großen Erdbeben, 1923 – Markstein der japanischen Moderne, der sich erstaunlicherweise bis heute erhalten hat und in dem sich junge Künstler und experimentierfreudige Designer zuhauf eingemietet haben.
Nur einige Schritte von hier, in Harajuku, werden Sie plötzlich in ein Märchen versetzt. Rotkäppchen, Cyborgs, Techno-Elfen, bonbonfarbene Handy-Nymphchen, minderjährige Vampiresses und auf 20-Centimeter-Plateaus einherstaksende Pipimädchen: Milch und Blut, auf jedwede denkbare Weise verkleidet, geben sich vor dem Kaufhaus Laforet ein Stelldichein. Laforet ist eine Hochburg von Japans Cuties oder shôjo, wie die Zielgruppe der weiblichen Heranwachsenden heißt. (In einigen Jahren werden sie in die Gattung der OL oder office ladies transmutieren.) Soziologen sehen die shôjo mittlerweile nicht nur als »ein Geschlecht für sich«, sondern als eigentliche Leitbilder japanischen Konsumverhaltens. »Ich frage mich«, so der Kritiker Naoto Horikiri, »ob heute nicht auch wir Männer uns als shôjo betrachten sollten, zumal auch wir wie Schlafwandler dem Konsum verfallen sind.« Er ist nicht der einzige, der im fortgeschrittenen Kapitalismus Japans eine neue Spezies Mensch zu entdecken glaubt. »Diese Subjekte«, schreibt Norman Bryson, »mögen nach wie vor aufwachen und im Spiegel einer Kreatur aus Haut und Knochen begegnen. Aber sobald sie das großstädtische Territorium betreten, werden sie zu Bündeln (vectors) von Strömungen und Energien, von Körpern, Informationen und Waren. […] Die Bilderflut will vielleicht etwas mehr als uns mit Glamour blenden; sie will uns sagen, dass wir selbst heute schon Energieströme sind und uns in der bevorstehenden Phase des Kapitalismus so wendig und so vergeistigt fühlen werden wie Engel und Bodhisattvas.«
WIR SIND ALLE SHÔJO, und für shôjo muss alles kawaii sein: niedlich. So hat die Marotte einiger Schulmädchen, die japanische Kalligraphie mit plumpen, rundlichen Schriftzeichen zu konterkarieren – kawaii eben –, längst auch in der Werbung Einzug gehalten; vor allem natürlich für Produkte, die selbst kawaii sind. Diese liebreizenden Teufelchen haben eine erstaunliche Macht: Wenn sie ihr Geld plötzlich lieber für ihr DoCoMo (d.i. das Mobiltelephon) ausgeben anstatt für Jeans, dann lässt die Denimkrise nicht auf sich warten. Dass viele von ihnen, wenn das Taschengeld für ihre kostspieligen Kaprizen nicht ausreicht, Kontakte zu betuchten Herren pflegen, die ihre Väter sein könnten, hat selbst im freizügigen Japan einige Diskussionen ausgelöst. Es entbehrt aber zweifellos nicht der Folgerichtigkeit, dass früh schon auch ihre Körper in den Konsumkreislauf integriert werden.
GO ON, POWERFUL POSHBOY SPIRITS! Von Harajuku aus nähern Sie sich den Neonwürfeln auf den Dächern von Shibuya, das noch vor einigen Jahrzehnten nicht viel mehr als ein Verkehrsknotenpunkt in einem glanzlosen Randbezirk war. Im Großraum Tokyo mit seinen 30 Millionen Einwohnern fiel indessen gerade den Bahnhöfen die Rolle von Energiegeneratoren zu. Auch die Ginza, das klassische und bis heute prestigereichste Einkaufsviertel, liegt unweit eines wichtigen Bahnhofs (Tokyo-eki). Aber erst in Shibuya, Shinjuku und Ikebukuro – alle an der die zentralen Bezirke umkreisenden Yamanote-Linie gelegen und Endstationen privat betriebener Vorortbahnen mit guten Metroanschlüssen – schälte sich die Kommerzwelt direkt aus den an sich schon komplexen Bahnhoforganismen heraus. Um die Dynamik des Prozesses zu begreifen, genügt es, sich vor Augen zu halten, dass allein durch Shinjuku-eki täglich über drei Millionen Passagiere geschleust werden. Es waren die Bahnunternehmer selbst – Seibu in Ikebukuro, Tobu in Shinjuku und Tokyu in Shibuya –, die die heute selbstverständliche Symbiose von eki und depato schufen. »Ein Zug«, stellte Roland Barthes schon 1970 fest, »kann hier in eine Schuhauslage münden.«
Wenn Sie sich heute in Shibuya, das den konsumorientierten Lebensstil am reinsten repräsentiert, einen Lageplan der Seibu-Saison Group in die Hand drücken lassen, so ist das, als begäben Sie sich auf eine Sightseeing-Tour in einer alten Kulturstadt; nur mit viel Liftfahren statt Gassendurchstreifen, und mit Prada statt Prado. Seibu drang Ende der sechziger Jahre auf das Territorium seines Konkurrenten Tokyu vor. Schon das 1955 eröffnete depato in Ikebukuro, durch das anfangs noch überwiegend Kunden in verdreckten Holzschuhen und handgewebten Kimonos stapften, hatte den Erfolg mit neuartigen Produkten wie den Transistoren der kleinen Firma Sony gesucht, und seine Lebensmittelabteilung war grandioser als die von Harrod’s in London. Aber alles bisher in japanischen Warenhäusern Gesehene stellte die Seibu-Filiale in Shibuya in den Schatten. Die Geschäftsleitung umgab sich mit jungen kreativen Leuten – so den nachmals weltberühmten Modeschöpfern Yamamoto und Issey Miyake – und baute nach und nach ein ganzes Konglomerat acht- bis zehngeschoßiger, auf ein modeverrücktes und markenbewusstes Publikum zugeschnittener Boutiquentempel. Auf Parco folgten Parco Part 2 und Parco Part 3, hierauf das jungen Designern vorbehaltene Seed sowie Loft, der Laden für alle denkbaren nützlichen und überflüssigen Dinge. Und zumal auch die Konkurrenz nicht schlief – namentlich O1O1 wirkt heute frischer als Parco – ist Shibuya das Traumland der Jeunesse dorée geworden.
IM DACHGARTEN DER O1O1 CITY sitzen Sie vor einem Iced Capuccino und vertreiben sich die Zeit damit, so ein Shibuya-garu einmal genauer zu taxieren. Sonnenbrille, schätzungsweise von Ferragamo, 30’000 Yen. T-Shirt, eisblau, Katharine Hamnet, mindestens 20’000 Yen. Lederjacke, Costume National, 120’000 Yen. Ferner der Jupe, die auf Wadenhöhe in Strümpfe mutierenden Stöckelstiefel, die Tasche und was sie an Kosmetik und Chichi bergen mag, abgesehen von den vermutlich ebenso kostbaren Dessous: insgesamt trägt dieses Mädchen leicht 5000 Franken auf dem Leib. Nur um nicht als Paria angesehen zu werden. Jetzt steht sie auf und hätte beinahe die beiden exquisiten Tragtaschen mit den heutigen Einkäufen liegenlassen.
SEIT 1991 STAGNIEREN DIE UMSÄTZE DER DEPATO, obwohl sie ihre Verkaufsflächen in ganz Japan von damals sechs auf über acht Quadratkilometer ausgedehnt haben. Bessere Geschäfte machten in diesen flauen Jahren die sogenannten Convenience Stores. Heute gibt es über 20’000 davon, die täglich 24 Stunden geöffnet sind. Sie erzielen allerdings nur einen kleinen Teil ihres Umsatzes mit Kleidern.
Wenn es in den neunziger Jahren ein Beispiel für erfolgreiches Marketing auch auf der depato-Front gab, dann das zur Seibu-Saison Group gehörende, inzwischen hundertfach über Japan verbreitete »no brand label« Muji. Die Losung lautet hier: keine Etiketten, keine Kinkerlitzchen. Keine Farben außer Schwarz. Minimal-Design: »simple but sophisticated«. Natürlich belassene Oberflächen – auch Polyester kommt daher wie Bast. Und – nicht nur für japanische Verhältnisse – scharf kalkulierte Preise, so dass Muji mit bisher sieben Filialen in London und drei in Paris auch in Europa Fuss fassen konnte.
Als Sie aus dem Ur-Muji in Aoyama wieder herauskommen und im Café Anniversaire ihre Beute überprüfen, finden Sie: ein Shampoo, eine Nylontasche, mehrere Packungen Briefumschläge, ein weißes Hemd, einen Regenschirm, einen Taschenspiegel. Lauter Dinge, die Sie nicht eigentlich dringend brauchten. Sind Sie auf dem besten Weg, ein moderner Mensch zu werden?
Dann aber, als Sie an der gegenüberliegenden Fassade einen Reklamespruch in Form eines etwas holprigen Haiku lesen, glauben Sie unter all dem schönen Schein auf einmal das Rumoren der altjapanischen Seele herauszuhören. Er lautet:
VIVRE DANS LA NATURE ESPRIT INDÉPENDANT
VÊTEMENT QUI VA BIEN
SE COMPORTER AVEC NATUREL GESTE SPONTANÉ
[1999, unveröffentlicht: vom »Magazin« des TagesAnzeigers Zürich unter dem Chefredakteur Roger Köppel refüsierter Text]