ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Tabouret

[ca. 1984-1995]

 

Thema Themata

Würde man es einem Journalisten verargen, der sich darauf kaprizierte, über Fettsucht in Afrika zu schreiben? Es wäre ein thematischer Faux-pas, eine Pietätlosigkeit. Trotzdem gibt es den wohlbeleibten, verfressenen Afrikaner; und wenn man über ihn nicht unbekümmert sprechen kann, so doch über das Tabu, die Verfänglichkeit mancher Themen.

Einem Kollegen, der zufällig auf einem Sportplatz einer Schar teils blinder, teils lahmer oder sonstwie versehrter Athleten beim Training zusah, fiel ein: Der Behindertensport verdiente vielleicht einmal eine Berichterstattung ohne das obligate Gesäusel. Was bezweckte denn jener Tonfall, in dem das Thema gewöhnlich abgehandelt wurde, als wäre nichts dabei? Indem man das Schauerliche zu überspielen versuchte, eskamotierte man gleichzeitig das Wunderbare daran: die Differenz, das Verschiedenerlei der Körper und ihres Gebrauchs, die anarchische Individualität. Welch ein Unterschied zur Einförmigkeit gesunder Sportheroen, die in paramiltärischer Formation einherpreschen! Hier hatte ein jeder seine eigene, die seinem Gebrechen angemessene Fortbewegungsart. War es nicht ein Hohn, die fabelhaften Verrenkungen dieser armen Teufel als banalen Wettkampf hinzustellen? Außerdem waren sie lustig anzusehen. Aber Vorsicht: dies auszusprechen, gar in aller Unvoreingenommenheit darüber zu lachen, er wusste es, war nicht statthaft. Das Wort Krüppel selbst war tabu, ersetzt durch die Freak-Show der Euphemismen, die als politisch korrekt gelten. Ginge er mit der bedenkenlosen Begeisterung, mit der er dieser Parodie auf den Leistungssport zusah, ans Werk, so würde sein Artikel als diffamatorisches Machwerk bezichtigt. Lieber das heikle Thema fallenlassen, als lauter Empörung ernten.

Es gibt allerdings auch den umgekehrten Fall. Dass da einem, der etwa in Rio oder Bombay einen kleinen Ausschnitt aus dem Tohuwabohu, aus der Mischung von Anmut und Misere zu schildern sich anlässt, plötzlich das Schreckgespenst des europäischen Lesers in seinem komfortablen Fauteuil erscheint, bei dem sein Bericht genau das auslöst, was er nicht soll, nämlich Erheiterung: »Was sind die bekloppt, die dort unten!«

Erweist sich dann einer von dort unten als besonders schlau, so wird es noch verzwickter. Jener kerngesunde Somalier, Zimmergenosse eines Kollegen und Liebling aller Schwestern, war unbestreitbar ein Parasit der staatlichen Krankenfürsorge. Wir hätten diesem Tausendsassa, der im Krankenhaus nächtigte und sich dort verköstigte, im übrigen aber ein fideles Leben führte, gern ein liebevolles Portrait gewidmet, sahen aber nach einiger Überlegung davon ab: Es hätte nur die Vorurteile der stursten unserer Leser bestätigt, und von den Wohlmeinenden wäre es als verkappte Schmähschrift gegen Asylanten missverstanden worden.

Heute hatte ich einen kleinen Unfall. An einer Ampel krachte einer von hinten in mein Auto. Man stieg aus und besah sich den Schaden, die ersten Schaulustigen scharten sich um uns, ein Polizist mischte sich ein und der schuldige Fahrer wurde alsbald von allen Seiten bedroht und angepöbelt – es war ein dicker Neger. Soviel Beistand wäre nun nicht nötig gewesen. Eben hatte ich ihn noch selber angeschnauzt, jetzt musste ich ihn gegen das gesunde Volksempfinden in Schutz nehmen. Schön wäre es, einen Idioten ungestraft einen Idioten schimpfen zu dürfen, auch wenn er nebenbei dick, schwarz, schwul oder lahm ist.

 

Die Ordentlichen und die Unordentlichen

Wie kann man nur! denken die Ordentlichen von den Unordentlichen, und dasselbe sagen die Unordentlichen von den Ordentlichen, mit einem Unterton von Bewunderung, denn eigentlich beneiden sie die Ordentlichen um ihren Ordnungsgeist, ohne wohl zu ahnen, dass sie selbst von ihnen um ihre Schlampigkeit benieden werden. Ich werde tunlichst darauf achten, nicht etwa diese Abhandlung in Unordnung geraten zu lassen. Ordentliche treiben nämlich ihre Ordnungswut soweit, absichtlich ein wenig Unordnung in ihre Ordnung zu säen. Dabei sind solche mit Bedacht gegen ihr eigenes Ideal verübte Verstösse schiere Finten, mit denen sie, deren Ordnungssinn im Grunde nach nichts anderem trachtet, als die Spuren ihres Daseins umgehend zu verwischen, noch die Ordnung als solche unkenntlich machen möchten.

Damit auch Unordentliche diesen Gipfel der Ordnungsliebe apperzipieren und würdigen können, diene zur Veranschaulichung jener Barman, den zu beobachten ich eben Gelegenheit hatte, und der nebenbei periodisch aus dem in beinahe, aber eben nur beinah pefekter Formation aufgereihten Barbesteck einmal die Angostura-Flasche, dann den Salzstreuer, dann den Stapel postmoderner Kartonuntersätze jeweils um eine Spur verschob, damit nur nie der Eindruck übertriebener Pingeligkeit entstehen konnte, übrigens bloss für ihn selbst, denn diese fortgesetzte Neuordnung, Umordnung zwecks Scheinunordnung, spielte sich auf der Ablage hinter der Theke ab.

In Wirklichkeit ist der Spiritus rector in einem fortwährenden Kampf mit sich selbst begriffen, d.h. gegen die Ordnung, die ihn wohl ebenso beschämt, wie die Schlampigkeit sich ihrer selbst geniert, ohne dem Kuddelmuddel je abhelfen zu können. Der Unordentliche, der immer eine Schleifspur seiner Existenz hinterlässt, gemeinhin Saustall genannt, auf welchen der Sorgfältige mit gespielter Allergie reagiert, macht lediglich die Entropie offensichtlich, der auch der Ordnungsliebende unterworfen ist: man denke an die militärische Akkuratesse, die zuletzt die Welt in Schutt und Asche legt. Aber das sind nur, pêle-mêle, einige Denkanstöße.

 

Sonnen- und andere Untergänge

(…) ist wohl von kitschen ‘den Strassenschlamm mit der Kotkrücke zus.-scharren’ auszugehen. Der geglättete Schlamm, das Gekitschte oder der Kitsch, lieh die Schelte des schlechten Bilds im soßigbraunen Farbton der Ateliertunke. Kluge

Es gibt Leute, die haben einen so geläuterten, hoffnungslos raffinierten Geschmack, dass ein Sonnenuntergang am Meer für sie ungenießbar ist. Wahrscheinlich leiden wir alle gewissermaßen an dieser Abstumpfung, die eine Überfeinerung ist. Wir möchten ein Naturschauspiel sehen, und noch so gern etwas anderes dabei empfinden als die eigene Empfindungslosigkeit. Aber entweder der Sonnenuntergang erschlägt uns als Bombast, oder er wirkt einfach abgedroschen, ein Bild, das uns unablässig sagt: Ich bin Bild (das Abbild seiner selbst), rezipierbar vielleicht, niemals jedoch erlebbar als Wirklichkeit, wir würden uns denn – eine zu anstrengende geistige Heuchelei für die meisten – die eigene Ergriffenheit vorgaukeln.

Dieses Unbehagen an der Natur oder vielmehr am Abgrund, der uns von ihr trennt, rührt unter anderem daher, dass man es sich gern mit einem ganzheitlichen Naturbegriff bequem macht (»die erhabene«, »die grausame«, »die bedrohte Natur«); wir aber Genuss eher an konkreten Weltfragmenten haben (einem Windstoß im Straßengewühl, dem Anblick eines Spatzen, der in einer Pfütze badet, den Lachfältchen um deinen Mund). Was ist dagegen ein Sonnenuntergang am Meer: die Erhabenheit

selbst. Der platteste, abstrakte Naturbegriff, zum Bild geronnen, das uns nur hemmt, im Innersten beleidigt und nicht selten die Attitüde des wackeren Schwärmers annehmen lässt, der zu dem allzu Offensichtlichen doch nicht hinüberkann. Als hätte es ein vierschrötiger Gott darauf abgesehen, zu testen, was wir etwa an Pracht aushalten können.

So quält man sich ab mit einem Sonnenuntergang. Nicht viel anders verhält es sich mit dem – Weltuntergang: zu schön (oder zu garstig), um wahr zu sein. All die Endzeitsymptome, -szenarien – der Staub der Ereignisse, der aus den Medien auf uns niederrieselt und unsere Entsetzensbereitschaft kitzelt – führen uns nur die eigene

Stumpfnervigkeit vor Augen. Der Weltuntergang ist für unsereiner allenfalls ein Kitsch: mit der Kotkrücke der Information zusammengescharrter Abfall der Geschichte, der die Schelte der schlechten Welt in der Blindheit der hohen Auflösung – wem? es braucht schon gar kein Objekt mehr – leiht.

 

Kameraderie

Manchmal packt einen im schönsten Nachtlokal ein solcher Cafard, dass man sich, nur um zwischendurch wegzukommen, bei seiner Begleiterin entschuldigt: »Ich muss mal.«

In unserer Stadt haben sich die Innenarchitekten seit einiger Zeit auf die Veredelung der Toiletten kapriziert, und sie haben es nicht mit der Eliminierung der sogenannten Schamwändchen bewenden lassen. Mies’sche Boudoirs, Plexiglaskatarakte, verchromte Châteaux d’eau – an alle möglichen Spezialeffekte hat man sich umgehend gewöhnt, hat mit urbanem Achselzucken zur Kenntnis genommen, was aus den Latrinen von ehedem geworden ist. (Der Wahrheit zuliebe sei gesagt, dass der gestalterische Elan auf diesem Gebiet nicht nur der Behebung hygienischer Missstände, wie sie gerade hier notorisch gewesen waren, sondern nebenbei auch dem stilgerechten Genuss von Stimulantien diente, die zwar salonfähig geworden, aber illegal geblieben waren. Ihrer neuen Bedeutung gemäß wurden die Toiletten nun so sachgerecht, so publikumsfreundlich gestaltet, dass in der Folge wiederum uniformierte Wachmänner mit der Aufgabe betraut werden mussten, keine dem Betäubungsmittelgesetz allzu offensichtlich spottenden Menschenansammlungen in den Kabinetten zu dulden.)

Um nicht weiter abzuschweifen, berichte ich, dass ich mich aus dem frenetischen Leerlauf des neuesten Nachtclubs aufs Klo exiliert hatte. Es waren diesmal rund um ein gigantisches Waschbecken angeordnete Einzelkabinen, nicht geschlechtergetrennt. Als ich in meinem Reduit ein wenig aufgeatmet und immerhin, um meine Flucht auch vor mir selbst zu rechtfertigen, den Hosenschlitz geöffnet und wieder geschlossen hatte, stellte ich fest, dass ich in dieser neuesten aller Toiletten eingesperrt war. Ich war soweit bei Sinnen, um zu begreifen: es handelte sich um ein technisches Versagen. Es war nämlich keine gewöhnliche, mit Klinke und Riegel versehene Tür, sondern irgendein elektronisch oder photomechanisch gesteuerter Mechanismus, der letzte Schrei in Sachen Abort. Und nicht aufzukriegen.

Um Hilfe zu rufen war natürlich aussichtslos bei dem Radau, der von nebenan in meinen wandalensicheren, mit einem Architekturpreis, im übrigen aber nur mit einer WC-Schüssel geschmückten Kerker drang. Nicht gewillt, hadernd auf das Ende der Nacht und das Erscheinen einer Putzfrau zu warten, hangelte ich mich an der Tür hoch (ein Tabouret wäre nützlich gewesen) und es gelang auch, einen der Wachmänner herbeizuwinken, die für den geordneten Verlauf des Hygienerituals zu sorgen hatten. Augenblicklich und kommentarlos – ich war nicht das erste Opfer der Tücken der Technik – wurde mir die Tür geöffnet. In meiner lächerlichen Lage, mit der Nase knapp über der vermaledeiten Tür und mit baumelnden Füssen, hatte mich aber der Gedanke geschreckt: Und wenn das Ganze ein schlechter Scherz ist? eine Falle? Versteckte Kamera!

Heute handeln jene Leute weise, die die Flucht nach vorn ergreifen und sich in den Nachtprogrammen von Radio und Fernsehen bis auf die Seele und bis auf die Unterhose ausziehen: sie kommen dem Überraschungsangriff jener zuvor, die unsere Intimität und unsere Anonymität zu verletzen drohen. Ich, der ich einen Bogen mache, wenn ich nur von weitem ein Filmteam oder ein Mikrophon sehe, bin meiner Paranoia vor der Kameraderie der Kameras ausgeliefert. Dass ich mich übrigens nur unter dem Vorwand entschuldigt hatte, auf die Toilette zu gehen, und nicht weil ich wirklich »mal musste«, machte alles noch blamabler. Warum? Weil die Kamera, deren Nähe ich plötzlich geahnt und gefürchtet hatte, mich nicht nur physisch, sondern psychisch entblößt hätte. Dabei löscht sie auch noch diesen kleinen Unterschied aus.

 

Telenoia

Solange man immer weiterknipste, über die Kanäle weghüpfte und sich nirgends von den Bildern treideln liess, war man noch nicht als Bruchteil einer Einschaltquote erfassbar. Bis vor kurzem sah ich Fernsehen überhaupt nur aus der Ferne; dann als jungfräulicher Zuschauer, der es, Fußballspiele ausgenommen, nicht weiter als zum Bilderpetting kommen ließ. Nun sind wir aber – ich und meine junge Frau, die in diesen Belangen erfahrener ist – neulich in einer Reality Show auf TLT gelandet. Das sind von gewissenlosen Produzenten inszenierte Programme für Fortgeschrittene, für abgebrühte Gemüter, ergo mit der höchsten Einschaltquote. Es ging übrigens weder um Mord, noch um Sittenexzesse, noch um einen Penizid, sondern lediglich um Liebe. Die Moderatorin Judith Stöhn fuhr gerade in ihrem berühmten Herzmobil in einer kleinstädtischen Straße vor, klingelte an einer Tür und begann ohne langes Federlesen die junge Dame, die öffnete, über ihr Verhältnis zu einem gewissen Max auszuquetschen. Der Betreffende war offenbar von der interviewten Frauensperson verlassen worden und schmachtete nun via Reality Show danach, sie möge ihm noch einmal eine Chance geben. Dann wechselte die Szene und wir waren live dabei, wie das entzweite Paar seinen Hader vor der dankbaren Claque im Fernsehstudio – und, so am nächsten Tag nachzulesen, bei einer Einschaltquote von 24,6% – weiter auslebte. Meine Frau ergriff für die unerbittliche Frau Partei, während mich der geknickte Max fast zu Tränen rührte.

Indessen war die Stöhn schon beim nächsten Fall. Diesmal ging es glimpflicher ab, der Seitensprung einer Postbeamtin aus F. wurde von ihrem Verlobten coram publico verziehen, nachdem sie ihm im Studio einige versöhnliche Strophen zur Melodie von »Zwei blaue Augen« vorgetragen hatte. Das bisher Gebotene hatte mich schon einigermaßen erschüttert, als in der Folge eine junge Bosnierin, die kaum den Blick zu heben wagte, vor die Kamera geholt wurde, um der Einschaltquote darzutun, wie elend ihr Flüchtlingsdasein sei, solange ihr Mann in Sarajewo festsitze. Und siehe, da stolperte er auch schon auf die Bühne, TLT hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um es möglich zu machen; nur bitte, das Publikum hätte sich die Wiedersehensfreude ein wenig überschäumender vorgestellt. Meine Frau meinte, das sei nicht normal, dass diese Menschen kein bisschen aus sich herausgingen.

Bald hatten wir den schönsten Ehekrach. Die Bosnierin, so stellte sich heraus, war von einer wohlmeinenden Nachbarin an den Sender ausgeliefert worden, und die Stöhn stiftete zum Schluss ihr wertes Publikum an, es dieser herzensguten Frau gleichzutun. Auch wer nicht gerade seine eigenen Liebeshändel vor der Nation breitzuschlagen gedenke, kenne doch gewiss in seinem Familien- oder Bekanntenkreis einen geeigneten Fall. Im Anschluss die Telephonnummer und der Werbeblock.

Ich bin von meiner Naivität geheilt. Bisher hatte ich mich vor dem Fernsehen in Sicherheit gewähnt, solange ich, wo immer Kameras und Mikrophone auftauchten, einen großen Bogen machte. Jetzt sehe ich schon das Herzmobil von TLT in unserer Straße aufkreuzen, und mehr noch: wenn meine Frau und ich uns in die Wolle kriegen, drohe ich ihr selbst mit der Stöhn.

 

Soft ins neue Jahr

Gombrowicz bemerkt irgendwo in seinen Tagebüchern, ein Mann mit Blumenstrauß gebe eine unmögliche – gemeint ist wohl: unmännliche – Figur ab. Ihm wäre ein Kerl, der zwei festtagspralle Tragetaschen aus dem Aldi schleppt, vermutlich als Gipfel männlicher Selbstentwürdigung erschienen. Nur schon sich vorzustellen, dass oben noch ein Bund Stangensellerie aus der Tüte schlackert. Aber in Buenos Aires gab es ja damals keinen Aldi.

Vielleicht kommt es auf den Mann an. Der Sänger der Smiths beliebte mit einem echten Hyazinthenschweif aufzutreten, und die Mädchen kreischten vor Vergnügen. Wenn hingegen die staubfreie Gestalt meines Bekannten L. abends um die Ecke biegt, etwas Rotglänzendes in der Armbeuge, das er einem sogleich ungefragt vor die Nase hisst – »Marrons glacés! Bin nämlich mit einem Mädchen verabredet!« – so lässt allein die lächerliche Bonbonschachtel keinen Zweifel am fatalen Ausgang seines Rendezvous.

Nun zu meiner eigenen Weiblichkeit. Dieses Prosastück war ursprünglich dem Phänomen zugedacht, dass ich ganz gern Geschirr spüle und es mir selten nehmen lasse, selbst die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Wie komme ich auf die Idee, das seien eher dem Weibe gebührende Tätigkeiten? Ob Mann oder Frau, den meisten fallen sie einfach lästig. Aber das Bild der aus dem Fenster über die Wäscheleine sich vorbeugenden Gestalt ist doch auf immer weiblich (Tourismus!)

Jeder, der in südliche Gefilde gereist ist, kennt den Reiz des luftigen Flickenwerks, das noch die erbärmlichste Fassade über den hohläugigigen Verputz unserer Wohnquartiere erhebt. Ich nehme mich freilich nicht aus urbanem Verschönerungstrieb dieser Aufgabe an. Auch leer ist das Gestänge vor dem Fenster, mit Drahtseilen bespannt und hinreichend bestückt mit Wäscheklammern, genau betrachtet ein wunderbares Objekt. Was mich so herzerquickend dünkt, ist aber das ruhige Ausschütteln der nassen Fetzen, und sorgfältig sie dann festzuklammern, unter Feinberechnung des vorhandenen Platzes. In meiner Wohnung sieht es immer so aus, als wohne da keiner. Das rührt daher, dass hier gerade besonders intensiv gewohnt wird. Jeder schmutzige Teller wird nullkommaplötzlich gespült, zugegebenermaßen meist, um ernstere Pflichten noch einen Moment aufzuschieben. Ah! da sind ja noch zwei, lieber zwanzig Gläser von vorhin!

Ich verrichte auch diese Tätigkeit klaglos, sie wirkt entspannend, sofern man die Sache nicht übertreibt. Als meine Köchin, d.h. Freundin sich beklagte, die Töpfe seien außen nicht gut gescheuert, antwortete ich mit Gaston Chaissac: »Vous ne voudriez pas que j’aie l’amour des culs de casseroles bien récurés?« Das war noch letztes Jahr. Und nun softly, aber ungeknickt ins neue.

 

Im Namen der Architektur

Ich hatte seit jeher ein Faible für italienische Vorstadtlandschaften, aus denen die Gerippe halbfertiger Wohnblöcke in den Himmel ragen. Überhaupt kommt Architektur, ganz unabhängig von ihrer Qualität, im Rohzustand wohl der Vollkommenheit näher, als alles Vollendete es vermag. Fassaden zu entwerfen, ist guten Architekten möglicherweise eher lästig. Für eine solche Annahme spricht nebenbei, dass jene Grundregel der Moderne, die Anschaulichkeit der Strukturen und konstruktiven Prinzipien fordert, nie wirklich außer Kraft gesetzt wurde. Kaum ein Bau vermag indessen die lapidare Kraft, die von seinem Skelett ausgeht, auch später noch zu behaupten. Wenn doch, ist allemal ein Meisterwerk entstanden.

Es naht jedoch der Tag, an dem die Benützer davon Besitz ergreifen. Dann wird eilends ein Fotograf bestellt, um den Bau für die einschlägigen Zeitschriften abzulichten, ehe seine Verwüstung beginnt. Bei Wohnhäusern geht es noch insofern meist glimpflich ab, als ihre äußere Erscheinung nur unwesentlich, durch Gruselgardinen und anderlei missliebigen Fensterschmuck, wenn nicht durch Wandschmierereien – die Geranien der balkonmüden Flegeljahre – verunziert wird. Die Vermehrung individueller Ergänzungen und Eingriffe, unmerklich zuerst, kulminiert schließlich in einer mitunter interessanten baulichen Verwilderung.

Mag nun auch das gemeine Volk der Bastler, wenn es der Baukunst am Zeug flickt, vor Geschmacksverirrungen nicht gefeit sein, so sind diese doch harmlos im Vergleich zu jener ästhetischen Verluderung, die sich als Verlockung begreift und vor der Kaufkraft jener herumscharwenzelt, die sich gar leicht belämmern lassen. Die Wege des Kapitals sind wunderbar. Da hat man – reine Prestigefrage – einem renommierten Architekten freie Hand gelassen; und die Hand schuf lautere Form. Kaum ist aber die letzte Mulde Bauschutt weggeräumt, schon wuchern auch, wo sie daran nicht gehindert werden, die stümperhaften Wahrzeichen der Warenwelt: krüppelhafte Schriftzüge und Rieselmusik; Lämpchen, Leguane und – warum sie ausklammern? – die wunderhübschen Ravioli im chinesischen Restaurant. Bankomat, Bierdeckel, Blumengebinde: Désassemblage, Zusammenprall der Kontingente, wie zur vorsätzlichen Verhunzung jener räumlichen Ordnung geschaffen, die der Krämerverstand als schieres Aneinander von Verkaufsflächen auffasst. Die Rede ist von einem Einkaufszentrum – es könnte auch ein spannteppichverschandeltes Hotel, ein popcornverseuchtes Kino, ein plakatgeplagtes Postbüro, eine lausig gewartete Sporthalle sein. Hülle und Fülle: wo sie kann, treibt letztere die Gestalt aus.

Die Architekten, a priori selbst Sündenböcke, gehen verkniffenen Mundes darüber hinweg, was ihren Werken angetan wird. Je präziser, als desto verletzlicher erweisen sich diese. Stahl, roher Beton, Glas: anfällig auf jeden Fremdkörper – gerade jene Baustoffe, an denen die Ignoranz ihre ornamentale Wut am hemmungslosesten auslässt. Handelte Architektur weiser, die beschwichtigend, kompromissbereit die merkantilen Phantasmagorien zu steuern versuchte? Eine etwas ungemütliche Frage.

 

Der Anti-Michelin

Aus Reiseführern erfährt man, und darin liegt ihr großer Nutzen, welche Routen, welche Orte der kluge Tourist tunlichst meidet. »Lohnt einen Umweg«, wie es trefflicherweise heißt; denn um in den Genuss erholsamer und nervenschonender Ferien zu kommen, braucht man sich nur an die Regel halten, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten so weiträumig wie möglich zu umfahren. (Und was ist mit Bildung? Die kunstgeschichtlichen, landschaftlichen Höhepunkte schenkt man sich einfach? Allem hochgestirnten touristischen Blendwerk zu widerstehen, das überfordert die Widerstandskraft der meisten. Noch der kälteste Kunstverächter möchte wenigstens einen Seitenblick auf Vaux-le-Vicomte werfen. Unsere kulturelle Verführbarkeit ist stärker als alle Vernunft.)

Sicherer scheint es daher, überhaupt auf jegliche Literatur, auf alle Kartographie zu verzichten und allein seiner Intuition zu folgen. Wer einmal aufs Geratewohl, ungefähr über die einzuschlagende Richtung im Bilde, nach Huesca aufgebrochen ist, weiss um den Genuss, sich von schwarzgeschürzten, hellwachen Bäuerinnen über die Pyrenäen lotsen zu lassen. Bei Carcassonne lässt man die Silhouette der Schlossfestung an

sich vorbeiziehen, ohne auch nur zu ahnen, welche Menschenherden, denen drei Michelinsterne nicht Warnung genug waren, in dem mittelalterlichen Gemäuer herumtrampeln und sich gegenseitig den Tag mit albernen Belehrungen über die Katharer vergällen. Wäre aber das historische Objekt, dessenthalben sie angeblich da sind, wenigstens eine Fälschung! Wehe dem Ort, der von den Reiseführern mit ein, zwei, drei Sternchen ausgezeichnet wird. Denn von dem Stein, dem das Freizeitpublikum naherückt, fällt seine geschichtliche Aura ab wie Schorf, und ein paar Souvenirbuden genügen, um Jahrhunderte aus den Mauern zu vertreiben: als sei Disney der Baumeister.

Noch drastischer verhält es sich mit der Natur selbst. Wo die Bergflora gesetzlich geschützt ist, verschwindet sie allmählich. In Naturschutzgebieten wächst ein Gras, als ginge man bei einem Spengler durch Blechabschnitte. Nationalpärke sind dazu geschaffen, möglichst massive Menschenansammlungen aufzunehmen, denen anschließend Naturschützer mit verqueren Hüten das Auto nach Edelweiß durchwühlen, das nicht mehr gedeiht, seit es keinem Eingriff mehr zu trotzen, gegen keinen Raub mehr sich zu wehren hat. Es ist immer dasselbe: Das Objekt der Begierde entzieht sich, sei es, weil wir ihm zu rücksichtslos nachjagen, oder weil wir es zu zimperlich behandeln. Hätte man noch nie von Lourdes gehört, so wäre ein zufälliger Besuch dort wohl, was man ein Erlebnis nennt. Zumal wir aber nicht ganz ahnungslos sind, bleibt uns auch bei der Überquerung der Pyrenäen nur die Strategie des fortgesetzten Abstechers.

 

Faust III

Eine Künstlerfaust hat gestern zugeschlagen, und zwar so kräftig, dass mir mein Spiegelbild heute gespaltene Lippe und geschwollene Backe präsentiert. War ich dem Künstler zu nahe getreten? Im Gegenteil, ich hatte ihn eher ignoriert, unwillkürlich übergangen. War in eine Bar gekommen und von einer lang vermissten Freundin überschwänglich begrüßt worden. Neben ihr saß der Unbekannte und grämte, erbitterte sich im Stillen über unser herzliches Wiedersehen, unser ungesäumtes Geplapper, und wir hielten’s für Schüchternheit, wenn nicht für Takt. Er liebäugelte natürlich mit ihr, während mir nur ums Tratschen war. Auf einmal abseits zu schmachten, nahm er als Affront; und vielleicht – nenne man’s kalte Berechnung, nenne man’s weibliche Natur – missachtete sie ihn ja auch in der Absicht, seine Liebesglut weiter zu schüren.

Mit einem gewalttätigen Ausgang war freilich nicht zu rechnen gewesen. Zehn Minuten und er erhob sich: Er gehe jetzt. Und küsste sie mit törichter Emphase. Sie bat noch: Bleib! Doch nachzugeben, ließ das beleidigte Männchen in ihm nicht zu. Wir tratschten weiter, da tauchte er schon wieder auf. Ich glaube fast, ich lächelte ihm sogar entgegen, erheitert über seinen raschen Sinneswandel, als er mir schon seine Faust ins Gesicht geschnellt hatte. Kein Wort war gefallen. Er drosch auf mich ein, ich kippte vom Barhocker und betrachtete benommen das Handgemenge über mir, bei dem die wackere Freundin in vorderster Front kämpfte und am Ende ebenso zerbeult aus dem Gefecht hervorging wie ich. Worauf sie dann auch mächtig stolz war. Manieren haben die Leute.

In der Toilette wischte ich mir das Blut vom Mund und überlegte: Ist es eine Schande, nicht zurückzuschlagen? Aber dafür sind doch, wie ich von meinem privilegierten Platz am Boden aus gesehen hatte, stets genug Streitlustige da. Etwas anderes beunruhigte mich mehr: Es war nun das dritte Mal binnen einiger Monate, dass ich mir nichts dir nichts eine Faust zu schmecken bekam. Früher lachte ich meine Freunde aus, wenn sie mich warnten, meine Art lade manchmal nachgerade zum Denkzettel-Verpassen ein. Was war es, was mich jahrelang davor bewahrt hatte? Den ersten Hieb landete ein ordinärer Straßenräuber, den zweiten ein entnervter Schuldner, den dritten ein verliebter Künstler. Sie alle scheinen erkannt zu haben, dass mir etwas fehlt: Widerstandswille oder auch nur, Wehleidslosigkeit. Zumindest ist es ein Zeichen von Schwäche. Oder werden einfach die Sitten immer rüder?

 

Die Hose

Der Stupor vor einem Paar Hosen, die Bestürzung angesichts einer Nagelfeile oder die überraschende Erkenntnis, dass es so etwas wie Baumrinde gibt: das setzt eine bestimmte geistige Verfassung, eine innere Wehrlosigkeit gegenüber den Dingen voraus. Vielleicht war es weniger die Hohlheit der Wörter als die ungeheure Präsenz der berühmten Gießkanne, die Lord Chandos’ Wahrnehmung, und letztlich sein ganzes Lebensgefüge zerriss? Im vorliegenden Fall verwandelte sich mir in morgendlicher Mattigkeit die erstbeste vorbeigehende Hose in ein Phänomen. – Was ist ein Phänomen? Die Beine meiner Nachbarin sind eines. Schöne Beine für einen Spätsommer. Wer etwas nicht ganz fassen kann, der schnalzt mit der Zunge und sagt: phänomenal.

Ich trat auf die Straße, ein grau behoster Mensch schob sich in mein Blickfeld. Ich sah es: meine Neuronen feuerten, aber gleichsam mit blinder Munition. Ein Betriebsunfall in meinem Wahrnehmungssystem. Da sah ich es auf einmal zu gut: wie eine Vision. Anstatt mich im nächsten Sekundenbruchteil von der nächsten Nichtigkeit absorbieren zu lassen, wunderte ich mich über das Geschlacker zweier über einen Zwickel verbundener Stoffröhren, als wäre mir auf dem Trottoir eine, sagen wir, leibhaftige Picasso-Figur entgegengekommen. Oder vielmehr: eine Hose an sich, tel quel um die Ecke biegend, wie es jeden Tag millionenfach geschieht, nur eben: gewöhnlich ist es eine Hose mit Inhalt. Diese hier hatte sich selbständig gemacht. Wären es die Panties meiner Nachbarin gewesen, so wäre mein Abstraktionsvermögen vermutlich zu keiner solchen Höchstleistung fähig gewesen. Ich hätte zunächst jene Sache apperzipiert, die man Beine nennt, und gedacht: phänomenal, um dann der Nachbarin noch schnell in die Augen zu blicken. Die Augen sind bekanntlich der Spiegel der Lust, d.h. in letzter Konsequenz der Beine. »Etre amoureux, c’est les fesses«, wie kürzlich ein kleiner Schokoladebär am französischen Fernsehen erklärt hat.

Es war aber nur irgendein Frühaufsteher – vielleicht einer der Lkw-Fahrer, die da immer vor dem Café Schnotz herumgrölen –, und er trug gewöhnliche, ziemlich hässliche graue Beinkleider. Ich sah dennoch nur mehr Hose. Das Faszinosum Hose. Hose, Hosum, Hosianna. Sie war schon vorbei, aber das Phänomen haftete noch im Zwickel meiner Neuronen, und im Weitergehen hatte ich nur noch Augen für Hosen. In einigen davon steckten Frauen, wobei ich sah, dass der Schriftsteller Paul Nizon wohl recht hat, wenn er dem Weibe empfiehlt, dieses abscheuliche Kleidungsstück, genannt Blue Jeans, möglichst umgehend abzustreifen. Was nicht in Widerspruch dazu steht, dass sie an gewissen Frauen sexy wirken.

Im allgemeinen gab ich allerdings auf Entrejambes und Hüftgegend weniger acht als auf das wilde Mienenspiel der Region oberhalb des Knies. In dieser Höhe befindet sich bei der Hose die Stirn. Sie wird bei jedem Schritt in vieldeutige, teils ironisch teils bösartig anmutende Runzeln gelegt, während sich an den Schößen oft ein an Epillepsie grenzendes Zucken beobachten lässt. Ich  bin überzeugt, jeder Couturier kennt diese Erscheinungen aus dem ff. Vielleicht geht es überhaupt bei der Kunst des Schneiders nur darum, der Hose richtig nette Lachfältchen zu verpassen, sie womöglich zum Schmunzeln zu bringen.

 

Von Frühling zu Frühling

Ich grüße von hier aus den Kunsthändler Stöberle in München, sofern er nicht frühlingshalber bereits auf seinen Landsitz unweit jener Stadt retiriert ist, die in seinem Mund ungefähr wie Hund auf Latein lautet; gemeint ist Cannes, wo wir von ihm anlässlich eines Barbecues letzten Herbst erfuhren, etwas anderes als die S-Klasse komme für ihn nicht in Betracht, solange ihm der deutsche Staat seinen Mercedes mit Steuervergünstigungen finanziere. Stöberle erwies sich als ein Mann, der den gewesenen Parteivorsitzenden auch im vertraulichen Umgang stets als seinen Landesvater angesprochen hatte. Aber was ihm nun zwischen Eisenach und der Wartburg, teils auf Eselsrücken, alles begegnet war! Auf seinen Anrainer im südfranzösischen Behagen, einen sozialistischen Künstler aus der Schweiz, wirkte das Raunen aus den Weiten deutscher Geistesgeschichte so beseelend, dass er in der Aussicht, gelegentlich ein eigenes Werk im Skulpturengarten des Kunsthändlers unterzubringen, vorübergehend in schranzenhafte Andacht verfiel. Beim Nachtisch ließ er sich mit der Bemerkung vernehmen, das Museum von Antibes leiste sich das Toupet, eine Picasso-Zeichnung für Blinde auszustellen; auch Stöberle erklärte die reliefartige Nachbildung für ein Machwerk, für Anti-Kunst, und keinem der Anwesenden leuchtete, auf den Picasso in Braille bezogen, der Einwand einer Malerin aus Spanien ein: Kunst lasse das Unwirkliche wirklich werden.

Dieser Art verliefen die Abende an der Côte d’Azur; Zikaden schrillten, es war ihr Abgesang, zwei Tage später waren sie verstummt. Denn es war Nachsommer. Inzwischen ist März und ich grüße die Künstler dort in ihrer parfümierten Luft; bei uns riecht der Frühling nach frisch gebügelter Wäsche. Ich habe zu berichten, dass ich heute wieder einmal Löschpapier gekauft habe, drei Blatt, rosa diesmal. Meinen letzten Löschblattkauf vor einigen Jahren habe ich auch schon schriftlich gewürdigt, aufmerksame Leser müssen es für eine Marotte von mir halten; es vermöchte denn einer nachzuempfinden, was der besondere Genuss dabei ist, in einer Papeterie Löschpapier zu verlangen. Anschließend betrat ich eine Buchhandlung und verliess sie wieder mit der Ausgabe in Klein Oktav, erschienen bei José Corti, von Villiers de l’Isle-Adams Eve future, obwohl ich eigentlich die Démoniaques von Barbey d’Aurevilly gesucht hatte. Man verwechselt diese Autoren gern, beide übrigens als katholische Dandies verschrien und beide 1889 in Paris verschieden.

Womit ich auf den Münchener Kunsthändler zurückkomme, der zweifellos auch Katholik, aber ein Ignorant des französischen Geisteslebens ist, wenn ich mir diesen Schluss erlauben darf. Wie sollte auch jemand, der sich damit brüstet, seine Speisevorräte jeweils aus Deutschland mitzubringen, weil er der französischen Esskultur misstraut, zwischen Villiers de l’Isle-Adam und Barbey d’Aurevilly unterscheiden? Vielleicht steuert Stöberle gerade zu dieser Stunde mit seinem Mercedes der S-Klasse zwanzig Kilo tiefgefrorene Kartoffelpuffer über Schweizer Autobahnen Richtung Cann-es.

 

Ein Lückenbüßer

Ein fliegender Teppich vielleicht, oder sonst ein riesig nettes, nein fabelhaftes Objekt, ein um eine Spur zu modester Anfang vielleicht, muss man die Platitüden doch immer ein wenig ins Schräge wenden. Seit das Universum in Stücke zersplittert ist, das heißt eine Ewigkeit schon, setze ich manchmal mit einem Sprung auf eine der Scherben und segele nach dem Vorbild willkürlicherer Piloten einen Moment durch widerstandslosen Raum – was ich so Seelenzustände nenne. Gestern noch, durch eine Barbekanntschaft in Trance versetzt, da wir uns fortwährend, auf geradezu erschreckende Weise im Rede-Befühlen gegenseitig überholten, dann vielleicht ungeduldig, vielleicht auch mit der nötigen Gelassenheit warteten, dass der andere aufschlösse, der jedoch auf überraschenden Schwingen über den Harrenden weg- und vorausflog, gestern noch erklärte ich mir dieses Phänomen so: Als die Liebenden sich trennten, war es in Wirklichkeit der Boden unter ihnen, der sich spaltete, der zunächst aufknackte, bis die beiden, Fingerspitzen zuletzt, auf getrennten Gründen weitertrieben, die denn auch mit jeder Geschichte, die ihnen widerfuhr, geringfügiger wurden. Ich drücke mich da vielleicht zu wenig konkret, zu unzusammenhängend aus. Was ist aus der Geschichte mit dem Titel »A Terrible Disease« geworden? Hatte ich mich geirrt, als ich dachte, die Geliebte betröge ihren Bräutigam, indem sie ihm eine schreckliche Krankheit vorgaukelte, um kurzerhand zum Liebhaber zu entschwinden, den sie alsbald verließ, um die Wunden ihres Gewissens zu lecken und zu salben? Man kann nicht immer nur Niedlichkeiten begehen. Die Tatsachen mögen gegen mich sprechen (immer wieder stoße ich auf tückische Indizien…), aber den göttlichen Oktober habe ich doch recht flott durchkreuzt!

 

Konfessionelle Abschweifung

Der Würden und Pflichten, die uns hienieden zuwachsen, ist die des Taufpaten nicht die geringste. Heisse er »Götti« oder »Gevatter«, das Alberne des Namens tut seiner Verantwortung als pater spiritualis keinen Abbruch, und das Ritual selbst, nahm ich an, würde eines feierlichen Anstrichs nicht entbehren. Standesgemäß ausstaffiert, machte ich mich in das Dorf W. im Emmental auf, wo das Sakrament gespendet werden sollte, und wo ich in meinem reputierlichsten Anzug, das Gilet noch schlaftrunken, aber korrekt geknöpft, der Patenrolle zumindest äußerlich gewachsen zu sein hoffte. Mein letzter Besuch eines reformierten Gotteshauses lag ja nun schon einige Jahre zurück. Bei solchen Gelegenheiten fällt einem erst auf, dass man sich immer in konfessionellem Feindesland bewegt.

Zwischen Krakau und Compostela und von Tours bis Tucumán war ich in allerhand Sakralbauten herumgekommen: römisch-katholischen allerdings, ausnahmslos. An wievielen Messen und Metten hatte ich mich nicht ergötzt, hatte Chorälen gelauscht und Aves mitgebrummt, durch Brautschleier gespäht und einmal sogar einer Erstkommunion beigewohnt, wo jedes Kind einzeln und im Wortlaut dem Höllenfürst und seinen Versuchungen abschwor, angesichts dessen ich fast in Ekstase verfiel. Selbst Katholiken hielten mich, wenn ich ihnen mein Erlebnis schilderte, für einen Phantasten oder für Schlimmeres, und als ich die Beobachtung in einem Artikel erwähnte, wurde der Satz vom verantwortlichen Redakteur ersatzlos gestrichen, mit der Begründung, den Seitenhieb gegen den Katholizismus hätte ich mir sparen können.

Es war aber gar kein Seitenhieb, sondern vielmehr Ausdruck einer Neigung, einer Neugier, ja der Bewunderung des Unbegreiflichen, und wer weiß, sogar der Ungeheuerlichkeit mancher vatikanischer Doktrin, die dazu einlädt, sich selber zuwider zu denken, abgesehen von der Faszination der Dreifaltigkeit, usw. Wenn ich mit dem Katholizismus liebäugelte, so liebäugelte er zurück, und auch meinerseits war Frivolität im Spiel, denn zum wahren Konvertiten fehlte mir ja der Glaube. Aber das Hochamt war mir sozusagen als touristischer Nebeneffekt in Fleisch und Blut übergegangen. Wie sehr, das merkte ich, als ich nun das weiß getünchte Kirchlein zu W. betrat. Ein Kulturschock! verschärft dadurch, dass mir die Atmosphäre nur allzu vertraut war. Diese dünne protestantische Luft hatte ich von klein auf geatmet, in dieser überheizten Sprödigkeit hatte man uns den Glauben einzutrichtern versucht.

Ich möchte niemandem zu nahe treten, und zuletzt meinem Patenkind, aber das Schauspiel dieser Taufe war, gelinde gesagt, desolat. Nicht weil es katholische Ostentation missen liess: das Gegenteil von prunkvoll wäre ja schlicht, nicht burschikos und bar aller Anmut. Der Pastor selbst schien zwar einem Fontane-Roman entsprungen, und er waltete seines Amtes insofern, als er von der Kanzel herab mit reichlich dialektischem Geknirsch das Gleichnis vom verlorenen Sohn in ein Gleichnis vom verlorenen Vater umkrempelte. Das restliche Programm war ein Mischmasch aus Taufe, Theater und Vaterunser, als hätte es nie eine Liturgie gegeben. Zum Ausklang irgendein Schlager, und der passte zu der Posse wesentlich besser als mein bäuerischer Anzug. Es war ja auf seine Art herzergreifend, wie andächtig, wenn nicht belämmert oder einfach konsterniert, die Gemeinde das Popgedröhn über sich ergehen ließ.

 

Gnade

Jeden September gerät die Stadt in den Zustand der Gnade. Von einem Zustand zu sprechen, ist allerdings irreführend, handelt es sich doch um die Epiphanie der Bewegung, um ein Wimmeln, Tummeln und Trippeln, die Summe aller Schritte der in den Straßen sich ergehenden Einwohnerschaft: Herbstes Erwachen. Der mediterrane Sommer, der sich im April mit einzelnen Hitzestacheln ankündigt, hebt anfang Juli in einen nackten Taumel ab, dessen Süße erst allmählich dickflüssig wird, karamelisiert, verkrustet. Dann fegt das erstbeste Gewitter die Schlacke, zu der alles Leben erstarrt ist, prasselnd und wetterleuchtend weg, und in der Morgenfrische geben sich die geläuterten Städter der Straße hin: das ist der Gnadenzustand.

Wochenlang war man durch schattige Gassen geschlichen, nun schritt man auf breiter, sonniger Avenue aus. Noch dazu war Montag, Erlösung vom Fluch des Sonntags, der nur eine vulgäre Spielart des hundstäglichen Schmachtens ist. Heute tagte nicht mehr das Gericht der Sonne, heute war wirklich Gerichtstag. Vor dem Justizpalast war bereits ein allgemeines Händeschütteln und Köpferecken im Gang. Trauben dunkel gekleideter Herren standen beim Eingang, und von der Metro her stöckelten ihre Sekretärinnen herbei. Man sah aber auch gewöhnliche Sünder, die sich gesenkten Hauptes mit ihren Anwälten besprachen, bevor sie zu ihrem Termin erschienen.

Da wurde mir wieder einmal bewusst, welch ein Trottel ich bin, d.h., was man im Leben so alles verpasst. Wohnt keine fünf Minuten vom Amtsgericht und hat noch nie einen Blick in seine notgedrungen muffigen Korridore geworfen, wo die Säfte der Unglücksfälle und Verbrechen, der Lebensgefahren und missglückten Rettungen  zu Kanzleipapier gerinnen. Diese Schwelle allein, dachte ich, hätte mir Stoff für tausend Geschichten geliefert.

Und schlenderte dennoch weiter, kaufte eine Zeitung und setzte mich in ein Café. Als ich mich zum Wirtschaftsteil durchgeblättert hatte, klärte sich auf, worum es sich bei dem merkwürdigen Aufzug vor dem Justizpalast gehandelt hatte: Hundert Unternehmer und leitende Beamte wurden – elf Jahre nach verübter Tat – vor Gericht gezogen, weil sie hunderttausend Sozialhilfempfänger um so und soviele Millionen geprellt hatten. Da standen sie nun, all die Halsabschneider und Glücksritter in ihren maßgeschneiderten Anzügen, schwarzer Fleck im Septembermorgen, umschwärmt von hochhackigen Sekretärinnen und – immer dem Lokalblatt zufolge –, vierundvierzig Anwälten der Verteidigung und warteten, wie wir alle, und nicht zu Unrecht, sollte sich herausstellen, auf herbstliche Gnade.

 

Handy/Unhandy oder Die Fortschritte des Fernmeldewesens

Einer, dessen Telefon oft tagelang stumm blieb, kaufte immer neue Apparate hinzu, bis so ziemlich jede Ecke seiner Wohnung damit ausgerüstet war; es rief trotzdem niemand an. Gab das Telefon zufällig doch einmal Laut, so nahm er es schon gar nicht mehr ab – ganz gebannt von der Symphonie, die ihm seine Sammlung vorspielte.

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Ich setzte mich mit dem Hotel Tsentralnaya in Moskau in Verbindung, um mich nach den Zimmerpreisen zu erkundigen. Die Telefonistin sprach nur russisch, und ich hängte, mein bestes Esperanto murmelnd, entmutigt auf. Versuchte es dann doch noch einmal, das »Russian Phrase Book« vor mir aufgeschlagen: »Skol’ka sto-eet nomyer zanach’?« Und siehe: sie verstand mich! Nur verstand leider ich von der Antwort nichts als das Wort »too-alyet«. Was nun? Mit oder ohne Bad?

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Ist es nicht erstaunlich, und ist nicht alles Erstaunliche an sich erfreulich, dass wir heute, während wir an der Ampel stehen, durch unseren Mitmenschen zur Linken beiläufig in die Geschäftsgeheimnisse der Firma Quail eingeweiht werden? Er hat gerade einen Anruf von seinem Chef erhalten, und das muss nun die halbe Stadt erfahren! So wie jedes Medium, das Privates an die Öffentlichkeit zerrt, hat auch das Handy zumindest den Vorteil, dass es die menschliche Blödigkeit bloßstellt.

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 Vorkämpfer haben es bekanntlich schwer. Nicht genug damit, dass sie sich über den Kleinmut ihrer Zeitgenossen emporschwingen müssen; erst noch sind sie dem Gespött der Zurückgebliebenen ausgesetzt. Das hat sich einmal mehr anhand unserer drahtlosen Pioniere gezeigt, der unerschrockenen ersten Anwender des Handies. Was haben sie nicht einstecken müssen an kopfschüttelnder Herablassung, an ätzender Verständnislosigkeit. Und dies, man staune, gerade von Seiten der sogenannten Intelligenz. Es waren Feingeister, die sich als Wortführer der Ewiggestrigen aufspielten. Dabei war ihnen, als sie selbst scharenweise von der Schreibmaschine zum PC überliefen, nicht eben viel Zwerchfellerschütterndes eingefallen, was die lächerlichen Seiten ihrer technologischen Aufrüstung betraf. Hingegen über den Normalverbraucher herziehen, der an seinem Handy Freude hat! Nicht umsonst liest man im Konversationslexikon unter dem betreffenden Stichwort: »Handy, William, Vater des Blues.« Mit dem Finger zeigte man auf jene, die ihrem Laster jahrelang, apparätchenhaltend, wie Onanisten in zwielichtigen Winkeln frönten. Der Zyniker Umberto Eco glaubte, sie in ihrer Ehre kränken zu können, indem er bemerkte, eine bedeutende Persönlichkeit erkenne man gerade daran, dass sie telefonisch perfekt abgeschirmt, d.h. sicher nicht immer und überall erreichbar sei. Nichts jedoch, auch nicht solche Verleumdungskampagnen der Obskurantisten, vermochte den Fortschritt aufzuhalten. Heute gibt es keinen Vorortszug, in dem nicht ein Adept der drahtlosen Telefonie seine Mitpassagiere terrorisiert, und keine Straßenecke, an der nicht ein Cowboy der Kommunikation sein Handy aus dem Halfter zieht und die neunstellige Welt anbrüllt: »Schieß los!«

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Unser Haushalt hat, wie jeder Haushalt, der auf sich hält, einen Elektroboom erlebt. Es rauscht das Modem, es schnurrt die Orangenpresse. Zwischen dem Computer und dem drahtlosen Telephon kommt es zuweilen zu peinlichen Missverständnissen. Solche Interferenzen sind nur ein weiteres Argument für das Handy: nach und nach muss dieser ganze Kram auf die Straße hinausverlegt werden: sonst piept’s zuletzt bei uns selbst.

 

Rarezza

Indem ich einleitend über die Frage hinweggehe, ob das Wort Schnürsenkel dem Wort Schuhbändel vorzuziehen ist, oder ob eher Schuhbändeln der Vorrang vor Schnürsenkeln gebührt, berichte ich, dass sich auf meinem Morgenspaziergang nach und nach der Knoten an einem meiner Schuhe löste. Ich ging weiter, bis ich einen Sims in der angemessenen Höhe entdeckte, auf dem sich das Malheur beheben liess, ohne mein altehrwürdiges Knochengerüst über die Maßen zu strapazieren. Sowie der Bändel frisch gebunden war, wurde mein Blick durch die Geschäftsauslage hinter dem erwähnten Sims gefesselt. Warum nur geschieht mir immer dergleichen? Warum gerade mir, und immer so kauziges Zeug? Heute beim Erwachen bemerkte meine Frau zu mir, ich sehe aus wie der liebe Gott, und es war keineswegs als Kompliment gemeint. Aber wäre ich auch ein komischer Kauz geworden, so war es doch nicht mein Fehler, dass der Laden, vor dessen Schaufenster ich meine Schuhe gebunden hatte, ausschließlich Präservative und Sonnenbrillen feilbot. Die Auslage war einfach sensationell. Irgendwie, je länger man es bedenkt, leuchtet die Paarung ja ein: Sonnenbrillen und Präservative. Und da die Sonne sich vorläufig rar machte, kaufte ich eben eine Schachtel Pariser. Unter etwa fünfundzwanzig Marken fiel meine Wahl auf jene mit dem Aufdruck Heartbreak Hotel – Rapid City, South Dakota.

Darauf heiterte sich der Himmel doch noch auf und ich setzte mich auf eine Bank im Stadtgarten. Sah mir die bewusste Schachtel näher an und stellte fest, dass das Verfallsdatum – bedenkt man, wie rar heutzutage die Gelegenheiten zum Ehebruch sind – wohl eher knapp bemessen war. In diesem Augenblick piepte etwas in der Nähe: es war ein Telephon, das verlassen auf der nächsten Parkbank lag. Ich wunderte mich nicht lange, sondern behändigte flinkerhand das Handy, das dort jemand liegengelassen hatte: »Hallo?« Eine Frauenstimme meldete sich. »Bist du wieder bei ihr? Ich weiß, dass du mich mit ihr betrügst«, sagte sie und schluchzte auf. »I wo!« erwiderte ich instinktiv. »Ich komme doch gerade von der Sitzung!« Sie erwiderte: »Lügner! Wie kannst du nur!« Und hängte auf.

Ich steckte das Handy ein und ging weiter. Die Stimme, so aufgewühlt die Frau auch geklungen hatte, ebbte weich in mir nach. Ich war gerade in die Metro gestiegen, als es wieder klingelte. »Hallo?« Mir war es ein wenig peinlich, der andern Fahrgäste wegen. »Wo bist du? Ich mache eine Dummheit, wenn du es je wieder tust! Sag mir, wo du bist.« Ich murmelte: »In der Metro«, und nannte die Linie, die Station, in die wir eben einfuhren. Sie überlegte kurz. »Steig aus. Steig aus und warte auf mich. In zwanzig Minuten beim Nordausgang!« Ich tat wie geheißen. Am Kiosk beim Ausgang kaufte ich eine Sonnenbrille, setzte sie auf und zog die Schuhbändel straff. Vielleicht bin ich wirklich der liebe, schlecht rasierte Gott, den meine Frau heute morgen in mir gesehen hat? Aber ob es das Heartbreak Hotel in Rapid City überhaupt gibt?