ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Repertoire

[ca. 1987-1995]

 

Tati Parking

Im »Renoir« läuft ein Tati. Ich habe den Film zwar schon x-mal gesehen, aber wenn man das Kinoprogramm überblickt und zugleich sein geistiges Wohlergehen in Betracht zieht, ist Tati in der Tat die plausible Wahl.

Ich steige ins Auto. Ja, ich bekenne mich noch immer zum Individualverkehr, wenn auch gewöhnlich nur, um Freunde vom Flughafen abzuholen, oder um das Auto umzuparken, oder um mir einen Tati anzusehen. Tati und das Auto, zwei Symptome meiner anachronistischen Veranlagung. Immerhin verhalte ich mich wie ein moderner Mensch, indem ich schon gar nicht mehr nach einer Parklücke Ausschau halte, sondern instinktiv das nächst dem Kino gelegene Parkhaus ansteuere. Noch zwanzig Minuten bis Vorstellungsbeginn. Aber dann steht bei der Einfahrt ultimativ in digitalem Rot: »komplett«. Das nächste Parking, zwei Straßen weiter – ebenfalls ausgebucht! Wer geht denn auch an einem Samstag abend mit dem Auto aus! Falls wir jetzt noch einen Parkplatz finden, ist wahrscheinlich inzwischen der Film ausverkauft. Wer geht auch am Samstag abend ins Kino!

Tati können wir abschreiben, aber Parkhäuser gibt es noch genug in dieser Stadt. Ist es nicht schön, vorläufig einfach herumzukurven, in die Lichterpulks zu tauchen – Spurwechsel, Ausrollen, Anbandeln mit ephemeren Ampelvisagen? »Fortgesetztes sinnloses Herumfahren in Quartieren«, nennt es ein schweizerischer Gesetzparagraph, obwohl es in Wirklichkeit die innigste Verbindung mit der großen Stadtgemeinschaft ist, ein Musterfall sozialer Assimilation. Jede Nacht geht hier das automobile Nervengedudel in einen polyphonen Hiphop über – ist das nicht besser als Kino? Im Parkhaus bei der Bar Ideal ist noch ein Platz frei…

Morphologisch gesehen, gibt es hier vier Parkhaustypen. Bei der Bar Ideal haben wir einen fünften entdeckt: die Garage, die nach Rosen duftet. Nichts gegen Benzinausdünstungen. Wir verdanken ihnen seit jeher gewisse urbane Rauschzustände, mag das auch auf Naturfreunde so befremdlich wirken, wie auf mich die Charlottesche Vorliebe für eine ordentliche Bierfahne beim Küssen. Es gibt Parkhäuser, die sich unter den Avenuen hinschlauchen, zwei Meter sechzig hoch und einen halben Kilometer lang. Andere winden sich oberirdisch auf engstem Raum bis ins Dachgeschoß, Mietskasernen für Zweiachser. Beim dritten Typ, neueren Zuschnitts, überlässt man sein Auto einem Roboter (vielleicht kommt ein Maserati retour?) Die ältesten, lieblichsten und häufigsten Garagen aber findet man hinter jenen rot-weiss umrandeten Löchern im Blockrand, in denen ein jovialer Parkwächter in einem knapp bemessenen Parterre oder Soussol nächtelang Autos verschiebt, bis keine Handbreit mehr freibleibt. Dieser Art war auch das Parkhaus bei der Bar Ideal. Ich hatte dem Parkwächter gerade den Schlüssel gereicht, als A. sagte: »Da riecht es nach Rosen!« Vielleicht haben nebenan die bangalischen Blumenverkäufer ihr Lager?

Der Parkwächter sah aus wie von Tati inszeniert. Es gibt irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Parkwächter und Tati, zwischen Tati und meinem tattrigen Auto, zwischen meinem Auto und dem tattrigen Parkwächter. Als wir zurückkamen, begrüßte er mich schon vertraulich bei meinem Autonamen. Es handelt sich um ein Modell, aus dem mitunter Hippies, die damit halb Europa durchrattert haben, ihre Habe laden und nach der Jugendherberge fragen. Ich fragte nach dem Autoschlüssel und fühlte, dass gewisse Minderwertigkeitsgefühle gegenüber Metro- und Taxibenützern dadurch immerhin gemildert werden, dass ich dieses schrottreife, rosenumduftete Vehikel fahre.

 

Itinéraire bis

Ich sehe manchmal die Bilder, die unsere Brüder, die Maler, wenn alles nichts mehr hilft, bei Nacht und Nebel auf die Straße hinausschaffen. In der Assemblage des Sperrmülls sticht hier eine aufgegebene Leinwand, da eine verworfene Gouache heraus, und wartet auf die Abfuhr. Zwischen Kunst und Kehricht gibt es eine enge, gemeinhin ignorierte Beziehung. Ein Maler kann nicht wie unsereiner einfach die Delete-Taste drücken. Der Künstler weiß, dass der Müllmann seine letzte Hoffnung auf Kundschaft darstellt. Vor Jahren fuhren wir einmal in eine übel beleumdete Vorstadt, wo lauter Müllwerker wohnen, und siehe: in eines jeden noch so schäbiger Stube hingen einige hochinteressante Gemälde.

Aus Madrid wurde neulich gemeldet, ein erfolgloser Maler habe es andersherum versucht. Am hellichten Tag hatte er ein kleines, selbstgepinseltes Stillleben in den Prado geschmuggelt und es kurzerhand mit Superglue an eine Wand des Rembrandt-Saals geklebt, wo es erst nach einigen Tagen als nicht den Sammlungsbeständen zuzurechnendes Werk entlarvt und schleunigst entfernt wurde. Einerseits hatte der Maler sein Ziel erreicht: er war – für die berühmte Viertelstunde, die uns allen zusteht – eine Berühmtheit. Anderseits überboten sich die Journalisten gegenseitig in Beteuerungen, es handle sich um eine erbärmliche, künstlerisch minderwertige Arbeit, und sie zitierten genüsslich eine Expertin, die das Bild einen »abscheulichen Ramsch« nannte. Ob der Urheber nach diesem vehementen Urteil über seinen Coup noch besonders glücklich war, sei dahingestellt.

Man begreift indessen, dass die Verunglimpfung für den Effekt der Story unerlässlich war. Da der Künstler dem Prado ein Bild nicht etwa weggenommen, sondern ihm eines geschenkt hatte, konnten nicht gut mangelnde Sicherheitsvorkehrungen des Museums den Aufhänger bilden. Der Skandal bestand vielmehr darin, dass ein so plumpes Machwerk tagelang mitten unter den alten Meistern prangte, und keinem Besucher, keinem Aufseher, keinem Kurator war etwas aufgefallen. Folgt man der Argumentation der Medien, so liegt der Verdacht nahe, manch ein Meisterwerk sei selbst nur Trug und Schwindel – Müll letztlich, der gelegentlich entsorgt gehört.

Zumal die Geschichte in Madrid spielt, darf man vielleicht daran erinnern, dass einst Joseph Beuys die Madrider Müllmänner als grosse Genies gepriesen hat. Es seien »größere Dichter als manche Dichter«, und zweifellos auch größere Künstler als manche Künstler. »Man sieht, dass es Vertreter der künftigen Menschheit sind.« Als solche sind sie mit ihrem allnächtlich am Unrat geschulten Blick wie niemand sonst geeignet, das künstlerisch Wertvolle vom Wertlosen zu unterscheiden und zu retten, was der Rettung würdig ist. Nennen wir es des Künstlers Ausweichroute zum ewigen Ruhm.

 

Beim Wiederhören von »If I Had a Hammer«

Der Stern des Sängers Trini Lopez ist so tief gesunken, dass seine Platten heute zu Spottpreisen verramscht werden. Das ist vielleicht bedauernswert, aber ich habe sofort zugegriffen. Eine ganze Sammlung seiner Schlager auf CD, zum Preis einer Single um 1960, schien mir ein sicherer Wert: als mnemotechnische Investition.

Für die mémoire involontaire sind Geruchs- und Geschmackseindrücke ein besonders reicher Nährboden, und ich hatte meinem Gedächtnis schon durch gelegentliche Versuchsreihen in der Küche nachgeholfen, um qua Milkenpastetchen, auch gewisse großmütterliche Käsekrapfen oder Quittenkompott in meine Vergangenheit zu tauchen. Als ich nun Trini Lopez auflegte, hätte der akustische Sturz in die Kindheit nicht erhebender ausgehen können. Das war Mürbeteig fürs Ohr. Sofort begriff ich, was mich vor dreißig und mehr Jahren, an unserem »Piggöpp« – für Pick-up – genannten Plattenspieler hantierend, dann vor dem Lautsprechermöbel wie vor einem Götzen kniend, so in Trance versetzt hatte: begeisternder als die Musik waren die Hintergrundgeräusche auf Trinis Liveaufnahmen. Das klatschende, schnalzende, trillernde und trampelnde Publikum, die mannhaften Zwischenrufe und das Geklirr der Gläser wirkten auf mich wie eine Verheissung der ausschweifenden Genüsse, die das Leben der Erwachsenen bot, bieten würde. Die Zukunft, das waren Gelage in einem Nachtlokal in New York, und für die allgemeine Hochstimmung waren die schrammenden Gitarren, das Gerassel und Beckengezisch des Schlagzeugers nur ein Vorwand. Nie ist Bernsteins America glaubwürdiger gespielt worden, und auch der Schweizerknabe wäre gern dort gewesen, im Amerika der Weltraumfahrer, der Kennedys und der Clubs, in denen man sich zu Lopez’schem Singsang so göttlich amüsierte.

Das Gedächtnis gibt Antworten auf bestimmte Fragen, die damals anklangen, und heute darf man wohlgemut feststellen, dass das Leben wirklich dieses brüderliche Fest ist, das in If I Had a Hammer beschworen wird. If I Had a Hammer ist der Hammer unter Trini Lopez’ Livenummern. Nach ihm übernahmen bald und für viele Jahre die Rolling Stones mein musikalisches Regiment, und mit ihnen erlernte man genug Englisch, um heute auch Trinis simple Texte zu verstehen, die man als Kind gläubig nachlallte: »Lá-la-la-lá in America«.

 

Último Round

Diese Bar heisst Pow-Wow. Wenn sich anderwärts die Köche schon die Kelle hinter die Löffel gesteckt haben, kann man hier noch ein Stück Pizza ergattern. Außerdem ist der Pizzabäcker ein Ausbund von Charme. Er liebt das Leben. Das wiederum lockt schöne, wiewohl schlecht ernährte Frauen herbei, die durch ihre Gegenwart den Umsatz in die Höhe treiben. Was Dekoration, Getränkeauswahl usw. betrifft, ist Pow-Wow weit und breit die erbärmlichste Spelunke. Der Whisky wird in kleinen gläsernen Cowboystiefeln serviert, und à propos Pizza bin ich, wenn ich nur schon daran denke, satt. Es ist halt so ein Ort. Ein Ort, an dem sich die Welt trifft. Und die Welt ist eine Pizza Quattro Stagioni.

Mitten im Monat Mai habe ich hier ein wenig vom Herbst des Lebens gekostet. Auch das Leben ist eine Pizza Quattro Stagioni. Die Erotik des Alters wird dabei durch die Anchovis versinnbildlicht, durch deren köstliche, salzige, mürbe Textur. Und sind doch, ja eben, Fleisch. Es trat unter dem Namen Marie an mich heran. Marie zählt siebzig Lenze und führt ihre Habseligkeiten auf einem Handkarren durch die Nächte. Sie hatte angeblich seit zwei Tagen nichts gegessen, so gelüstete es sie nun nach einem Stück Pizza. Links an der Theke saßen zwei fidele Japanerinnen und gossen staccato eisgekühlte Obstler über ihre bemalten Lippen. Rechts von mir erklomm Marie den Barhocker. Ich lud sie offiziell zu einer Pizza ein. Würde es eine Quattro Stagioni sein? Nein, sagte sie und schmiegte sich über den von Zigarettenkippen strotzenden Abgrund zwischen den Hockern an mich, sie nehme eine Pizza Tropical. Mit Ananas, aber bitte doch in meiner anatomischen Obhut. Ihre Nähe war mir sofort so angenehm, dass ich noch ein Stiefelchen J&B orderte.

Was gibt es Schöneres als eine Frau, die ihren Hunger stillt. Und doch ließ ich mich, als Marie sich über ihre Pizza hermachte, mit den Japanerinnen auf eines jener Wortgeplänkel ein, die sich ungefähr wie folgt resümieren lassen: »Osaka, soso. Via Anchorage, aha. Dann Madrid, hm.« Alsbald kuschelte sich die Gesättigte wieder an mich und wandte sich energisch selbst an die beiden mit den Worten: »No money, no honey!« Es war die Quintessenz ihrer Englischkenntnisse, und wenn auch unsere Osakatas nichts kapierten, nenne ich es gleichwohl Weltmusik, unter Ausschluss der zuständigen Kulturministerien. Der Pizzabäcker schenkte Liqueur nach, und zur Tür herein trat in diesem Augenblick die wunderschöne Rosanna. Pow-Wow! Sie war zweifellos der Champignon auf meiner imaginären Pizza.

Erst verließ mich Marie, von dem sympathischen Pizzabäcker sanft zum Aufbruch gemahnt. Dann bezahlten die beiden Japanerinnen ihre gesüßten Eiswürfel und schickten sich zum Gehen an. Küsschen, Lichterlöschen, der Rolladen schepperte herunter. Man war jetzt unter sich. Der Pizzabäcker drehte einen Joint, und Rosanna massierte emphatisch den Rücken einer Freundin aus – schätzungsweise – Dänemark. Nach einer Weile kam eine der Japanerinnen zurück, klopfte an die verschlossene Tür: sie konnte sich nicht von dem Pizzabäcker trennen. Rosanna erzählte, wie sie einmal auf den Philippinen eine Massage von einem 17-jährigen Jüngling erhalten, und welche Lüsternheit sich dabei zwischen den beiden Körpern aufgeladen hatte. Es kam mir etwas hippiehaft vor. Ich dachte an die greise Stadtstreicherin und ihre hochgradige erotische Ausstrahlung. Etwas später ging jeder seiner Wege.

 

Phänomene des Körpers

Ich errege keinen Anstoß, ich nehme keinen Anstoß, ich stoße einfach an. Es geschieht mir, dass ich mit der Hüfte oder einer Schulter gegen Menschen, Ampeln, Fassadenteile ramme oder sie streife, mit deren Begegnung ich nicht gerechnet habe. Oder ich erhebe mich von einem Wirtshausstuhl, und obgleich ich es mit der größten und jedenfalls angemessener Behutsamkeit tue, ecke ich an einer Tischkante an. Nicht dass ich betrunken wäre; ließen sich mein Anstoßen, mein Taumeln, meine möglichen Gleichgewichtsstörungen auf Trunkenheit zurückführen, ich sähe keinen Grund zur Beunruhigung. Die Stadt wird mir stocknüchtern eng. Bisweilen ist es, als trage ich übergroße Schuhe oder habe das Gefühl für meine Füße verloren, insofern ich auf dem Trottoir, wo gar kein Hindernis ist, eine Delle allenfalls, ins Straucheln gerate. Der Körper, dessen Reflexe wir staunend und bewundernd zur Kenntnis nehmen, wenn wir uns ihrer ausnahmsweise bewusst werden, birgt ungeahnte Möglichkeiten des Versagens. Zusätzlich scheint sich die Betriebsamkeit der Straße selbst gegen mich verschworden zu haben. Hinter einem Lieferwagen schießt ein Postgehilfe hervor, und wenig fehlt, dass er, der hinter seinem Paketstapel nichts sieht, mir seine Ladung in den Leib rammt. Heute bin ich vor einem geparkten Auto vorbeispaziert, als dessen Schnauze unvermittelt auf mich zu ruckte und ich mich mit einem Sprung retten musste; die Fahrerin hatte im ersten Gang, ohne auszukuppeln, die Zündung betätigt. Solche Gefahren häufen sich, ohne dass ich mir erklären könnte, weshalb. Bin ich den einfachsten Anforderungen des Stadtlebens nicht mehr gewachsen? Mein Kopf schmerzt mich letzthin öfter, als züngelten kalte Flämmchen über die Schädeldecke. Als medizinischem Laien fiel mir das entsetzliche Wort Hirnhautentzündung ein, und dieser vollkommen aus der Luft gegriffene Befund ließ mich die lächerlichsten, erniedrigendsten Tröstungskombinationen durchspielen. Besser als mit Krankheit zu liebäugeln würde ich mir einen Hut kaufen, nur wirken Hutträger heute leicht exzentrisch, und gerade diesen Eindruck möchte ich, eingedenk der genannten Ausfallerscheinungen, nach Möglichkeit vermeiden. Wären vielleicht Turnübungen geeignet, den sporadischen Störungen abzuhelfen?

 

Echo des Banalen

Man wird einwenden, das Banale habe gerade keinen Nachhall. Augenblicklich zu versacken, von der nächstbesten Nichtigkeit verschluckt zu werden, sei eben seine Bestimmung. Dennoch stockt uns der Atem, wenn ein beliebiger Blick, der uns in der Menge kaum gestreift hat, in dem Moment unwiderbringlich wird, da die Metro im Tunnel verschwindet. Und wie ist es zu erklären, dass Katastrophen manchmal mit so belanglosen Dingen wie einer Haarspange oder Gorgonzola verknüpft sind?

Hören wir Tadeusz zu, der uns seine Begleiterin vorstellt: »Mariska, Sängerin. Eine wunderschöne, freilich unerhört dünne Stimme. Unerhört dünne Stimme…« Und der Herr, der etwas verloren dabeisteht? »Piotr, von Beruf Tonsetzer, ein ziemlich schlechter Komponist übrigens. Übrigens ein ziemlich schlechter Komponist!«

Alle lachen, besonders der Komponist. Tadeusz’ Verleumdungstaktik ist überaus erfolgreich, fortwährend kriegt er neue Drinks zugesteckt, damit er noch weiter lästert. Was aber hat es mit der Manie auf sich, dieser zugegeben musikalischen Manie, stets und nicht ohne Selbstgefallen zu wiederholen, was er eben gesagt hat?

»Die Wiederholung ist die Mutter der Ästhetik. Verwandle deine Rede in ein Ornament. Und wenn du traurig bist, schaff dir einen Affen an. Einen Affen schaff dir an…«

Tadeusz hat diesen inneren Affen, der ihm jeweils nachträgt, was er eben fallengelassen hat. Was heißt denn Sprechen? Ist man dabei nicht immer Absender und Empfänger zugleich und entschlüsselt, während man artikuliert, die Lautfolgen, die scheinbar an den andern gerichtet sind? Bloß rezipieren wir uns selbst überhastet und schlecht.

Ein Satz kommt mir über die Lippen, irgendeine anmutige Belanglosigkeit, wollen wir annehmen, und taucht in mein Vergessen. Später wird man zitiert und wundert sich: Das soll ich gesagt haben? Die Wiederholung erst entlarvt das Geasagte vor einem selbst, sie ist der Seziertisch der Signale, der Resonanzboden des Sinns, auf dem Piedestal der Wiederholung nimmt der gewöhnlichste Satz abgründige Bedeutungen an.

Gewiss wird, wer wie Tadeusz seinen internen Funkverkehr laut überträgt, für einen Wortgeck gehalten. Ihm aber verwandelt sich jede Banalität in einen ironischen Zirkelschluss. Der eigene Ton wird dämonisch hinter ihm hergetragen. Unter der verdoppelten Behauptung federt der Boden der Sprachgewohnheiten und gibt nach… Um den Glauben an die Wörter zu verlieren, ist der Sprung in der Platte eine große Hilfe.

 

Tribunal der Schrift

Andrew hat sich in Modefragen nie hervorgetan, aber heute stolperte er in Pantoffeln, mit zweierlei Socken und aus der Hose quellendem Hemd um die Ecke: nur eine aufgewühlte Seele lässt sich in solchem Aufzug blicken. »Was ist geschehen?« erkundigte ich mich teilnahmsvoll, worauf er mit gespielter Heiterkeit erklärte: »Mein Squatter hat mich aus der Wohnung vertrieben.« Ich sah ihn verdutzt an. Sollte der einsiedlerische Belletrist einen Gast bei sich aufgenommen haben? »Ich meine meinen word processor«, stammelte er auf meine stumme Frage. Einer jener Apparate, mit denen bekanntlich den Wörtern der Prozess gemacht wird. »Damit dürfte sich die Stadt um ein Talent ärmer schätzen«, sagte ich dunkel. Er ging auf meinen Einwand nicht ein, sondern schwafelte bekümmert weiter: »Vorläufig nötigt mich das Ding noch Tag für Tag, irgend ein fehlendes Teil kaufen zu gehen. Warum sich die entsprechenden Geschäfte immer in den entlegensten Vierteln befinden, ist mir schleierhaft. Vielleicht um uns bewusst zu machen, was für Randexistenzen wir sind.«

Er delirierte. Ich habe die Wirkungen des Computers auf die Hersteller dessen, was einst schöngeistige Literatur hieß, stets für unheilvoll gehalten. Haben Sie je zugesehen, wie ein schreibender Mensch als sein eigenes Gespenst vor dem Bildschirm sitzt, hin und wieder wie im Traum eine Taste drückt, dann wartet, bis die Maschine sich zu einer Antwort bequemt hat, und wie der ihr ausgelieferte Autor so vor sich hin döst in der eitlen Hoffnung, aus seinem Gestocher möge irgendein zusammenhängender Text hervorgehen? Arbeitende Menschen sehen so nicht aus!

Nun will ich ja auch nicht zum Federkiel zurück; frage mich bloß, wo liegt eigentlich der Vorteil einer solchen Apparatur, wenn es darum geht, Sätze zu bilden, wenn sie einen durch ihre Vielseitigkeit gerade davon abhält? Allenfalls ließe sich anführen, es sei damit einer gewissen Philologenplage ein für allemal abgeholfen, weil die Maschine nun selber zählen kann, wie oft welcher Schriftsteller welchen Wortmarotten verfallen ist, die gemeinhin als Stil durchgehen. Ich meinerseits will ihrer, durch den erschreckenden Anblick Andrews gewarnt, weiterhin auf meiner alten Underwood pflegen, auf der sich’s ohne Verdruss und mit vertraulichem Geratter schreibmaschinert.

 

Stichproben einer Stadt

Vom ersten Besuch ist mir erinnerlich, dass wir in ein Wirtshaus in einer ziemlich ramponierten Gegend einkehrten und vom Kellner beinahe hinausgeworfen wurden, weil wir als Beilage Pommes Frites bestellten. Pommes Frites, verwahrte er sich, seien bei ihnen verpönt. (Die Religion dieser Stadt ist die Küche. Die Speisekarten sind ein für Uneingeweihte kaum entschlüsselbarer Schwulst, der stets meine Neugier und meinen Appetit geweckt hat. Es ist zwar nicht die feine Art, aber wenn man nicht alle Sorten dem Namen nach kennt, lohnt es sich, mit dem Zeigefinger über der Käseplatte zu kreisen.)

Der normale Weg, eine Stadt kennenzulernen, führt von einem bestimmten Punkt, zum Beispiel einem Hotel aus in immer weiteren Kreisen in alle wesentlichen Stadtteile, die man so in ihrem Zusammenhang wahrnimmt und nebenbei den Ortsgeist atmet. In einer mittelgroßen Stadt hat man in zehn Tagen neunzig Prozent dessen gesehen, was einem ein lebenslanger Aufenthalt bieten könnte. Später kehrt man vielleicht zurück, bestätigt und korrigiert seine Eindrücke.

In dieser Stadt hingegen sammelte ich Eindrücke sporadisch, lasch, zusammenhanglos. Einmal waren drei Monate vergangen, dann wieder drei Jahre. Nie blieb ich länger als eine Nacht, schlief jedesmal in einem andern Bett. Kein Wiedererkennen; Stadtpläne ersetzten mir nicht, was Spaziergänge anschaulich gemacht hätten. Ein Durchgangsort, in dem ich stets aus neuem Anlass, mit anderen Leuten, in andern Stadtteilen zwischenlandete. Wenn ich die Bilder verglich, die ich allmählich von der Stadt aufgenommen hatte, erinnerten sie in ihrer Ungereimtheit an die Gegenstände auf einer Auktionsbühne, auf der unter dem wachsamen Auge der Buchführerinnen zwei grau bekittelte Gehilfen u.a. 1 Stapel alte Paris-Match, 1 Stempel (nein: Siegel, korrigierte der Versteigerer) und 1 Laute (nein, was ist denn das: mit Schildkrötenpanzer?) vors Publikum trugen. Viele Gewohnheitssteigerer.

Einige Anbieter nahmen ihre Objekte zurück, wenn sie nicht zu ihrer Zufriedenheit gehandelt wurden.

Die mich an diesen sonderbaren Ort führte, war die Tochter des Hauses, in dem eine meiner Übernachtungen in der Stadt stattgehabt hatte. Die Wohnung war ein Schlachtfeld bürgerlichen Geschmacks. Hätten sie wenigstens ausgestopfte Echsen oder Ähnliches an ihren barbarisch tapezierten Wänden gehabt. Aber nein: schiere Hirschgeweihe über Batterien verstaubter Lederbände. Am nächsten Morgen schob mich das Mädchen auf der Straße plötzlich durch eine unscheinbare angelehnte Tür in den Auktionssaal. Sie verkehrte an solchen Orten vielleicht in Voraussicht des Erbes, das sie erwartete.

Einmal kam ich mit deutschen Freunden von einem Weingut in der Umgebung. Es war Hochsommer und sie wollten unbedingt Sauerkraut essen.

Ich habe auch gesehen: Gigantische Autobahnzubringer. Dachlandschaften von einer Studentenmansarde aus. Ein namenloses Hotel, das man durch eine Spelunke betrat, aus der uns das hilare Echo der Trinker folgte, als wir geschwind die knarrende Treppe emporstiegen. Überhaupt wurde man hier leicht paranoid. Mein vorläufig letzter Aufenthalt war einer der kürzesten und der unglücklichste. Schon bei den Schließfächern wurde ich von Gesindel belauert, das es auf meinen Code abgesehen hatte. Dann wählte ich vergeblich mehrmals die selben zwei Telephonnummern. Ging ratlos durch öde Straßen. Ließ mich in einem grossen Kaffeehaus nieder, schlenderte weiter und als ich zurückkehrte, fingen die Kellner schon an, sich zuzuzwinkern. In einer Bar wählte ich wieder meine Nummern, bis ich das Gefühl bekam, demnächst von den Stammgästen vermöbelt zu werden. Erreichte schließlich ziemlich angetrunken den Nachtzug, um weiterzufahren. (Notierte: Nachtzugpassagiere – die kein besseres Bett gefunden haben.)

 

Taedium exilii

Der Vietnamese im 96er, der seine Einkäufe begutachtet: 1.) ein sehr kurzlebig wirkendes Paar Schuhe, 2.) den chinesischen Playboy, den er aus seiner Plastic-Hülle wickelt und sich die rue Oberkampf lang darein vertieft: schrägköpfig, und noch dazu das Heft drehend – bald stehen sie beide kopf –, um das Schamdreieck (das logischerweise kein unten noch oben kennt), zu begutachten. 3.) einen Diktionär voll diakritischer Zeichen.

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 Interessanter Gegenstand: ein eingepackter Koffer.

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 Das Zigeunermädchen in der Vorstadt, schon ganz die Verführung im Leib, mit Seitenblick auf mich zu A.: »Muss eine finstere Nacht gewesen sein, als du dich in den verliebt hast.«

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 Der Exilierte lümmelt sich hin, in einer Zwischenstellung, in der er weder seine Bagage einfach vor sich hin und seine erzgleichgültige neue Umgebung stellen kann, noch sein Danebensein wenigstens höhnisch an die Aufgegebenen zurückspedieren.

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 Der Überlegenheitssinn (wenn er mir fehlt, bin ich verloren).

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 In der Zeichensprache der Taubstummen, die sich so lebhaft unterhielten, ließen sich ihre sich einschleichenden Gebärden der Erregung leicht unterscheiden.

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 Die Wohnungen der Ausländer, in denen immer Diktionäre herumliegen.

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 Das Mädchen aus Südafrika, das sich nur noch von Äpfeln ernährte (vorher, versicherte es, monatelang nur von Orangen, bis seine Mundhöhle so verätzt war, dass es eine Alternative finden musste).

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 In Berlin verlas ich mich leicht. Wo »Einrichtungen« stand, las ich »Hinrichtungen«, aus »Pooltischen« wurden »Politische«, und bei »Achtung! Autotausch!« las ich unerklärlicherweise »Achtung! Amoklauf!«

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 Der Mann Müller (Heiner) hat leicht reden, da er wie ein Hammerwerfer oder Zirkuspferd in den Westen reisen darf. Da sitzt er nachts um drei vor einer Flasche Sancerre in der Paris Bar und wird doch nicht müde, sich entrüstet als Ostmenschen zu begreifen. Pionierpendler, der an der Mauer noch eine Pirouette einlegt.

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 Anruf aus Sevilla, wir haben uns lange nicht gesprochen. Sie arbeite jetzt beim Radio, rufe mich übrigens vom Sendepult an – »¡Ay! Dios mío, ich hab das Mikrophon gar nicht ausgeschlatet!« Meine Befriedigung, dort unten mit meinem Getuschel on the air gewesen zu sein.

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 Bei zunehmender Kontrolle fortschreitender Verlust von… Verlust einfach.

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 »Was soll man mit dem Leben anderes beginnen, als es möglichst ungelebt, unberührt vorbeistreichen zu lassen?« (Robert Walser)

 

Die alten Nummern

Aus einem Adressbuch, in das ich einst gewissenhaft die Nummern frischer Bekannter eintrug, sind mir ihre Namen als gespenstisches Vexierbild meiner Vergangenheit entgegengeschnellt. Ich hatte das Büchlein in einer Schublade aufgestöbert, wo es zwischen abgelaufenen Reisepässen und einem vergilbten Elektrokardiogramm lagerte, das mir seinerzeit zum Beweis einer Herzensneigung gedient hatte. Ganz verstört durchblätterte ich die Seiten und fragte mich: wer sind diese Leute, die meinen früheren Bekanntenkreis bilden? Wer ist Mathilde, wer war Anhilde? Was haben sie in meinem Leben verloren? Um welche Stadt handelt es sich, in der an der Impasse de l’Autoroute ein gewisser Basuk wohnt? Wie konnte ich vergessen, wer je den schönen Namen Geneviève trug? Ich traue mich nicht, die Nummer jetzt zu wählen, nur um das Verhältnis zu klären, in dem wir vielleicht zueinander standen.

Beunruhigender als die Namen, zu denen schon gar kein Gesicht mehr passt, sind jene, an deren Besitzer ich mich sehr wohl erinnere. Verkümmerte Freundschaften, vorzeitig abgebrochene Liaisons, missratene Geschäfte werden nun durch ein paar hingekritzelte Buchstaben jäh aus der Vergessenheit gerissen. Seite auf Seite ein unwiderlegliches ABC der Zerfaserung meines Lebens: lauter schillernde Anfänge, lauter blinde Enden. Welch ein Verschleiß an Köpfen und Seelen für das bisschen Geselligkeit, das man sich gönnt. Yumi‚ sie hatte mich einst mit der Zutraulichkeit ihres japanischen Wesens überrascht. Jener Herr U. wollte vor Jahren ein Pornomagazin lancieren und erachtete mich für geeignet, den ganzen redaktionellen Teil der ersten Nummer zu übernehmen, bei der es denn auch blieb. Ach, und Kim, der Barinhaber, der für Cowboylieder und Caspar David Friedrich schwärmte…

Wenn mir auch jeder Einzelne von ihnen nichts mehr bedeutet und vielleicht nie bedeutet hat, so ist doch ihre Gesamtheit Ausdruck eines fortwährenden innerlichen Skandals, will sagen meines hilflosen Gezappels in den zwischenmenschlichen Fallstricken. Gewiss hatte ich seinerzeit ein neues Adressbuch angelegt, um nicht weiter mit den Phantomen meines gesellschaftlichen Missgeschicks konfrontiert zu werden, mit dem fortgesetzten Verlust. Aber wie ich nun das neue Verzeichnis daraufhin prüfte, war es schon wieder voller Verschollener, Verstummter oder Vergessener. Und abgesehen von flüchtigen Reisebekanntschaften und belanglos gewordenen Geschäftsnummern: viele sind hier in der Stadt ansäßig und theoretisch könnten wir uns in einer halben Stunde im Café Z. zum Aperitif treffen. Aber mich schaudert geradezu vor der Aussicht: wir sind uns so gleichgültig geworden, dass wir es nicht einmal bemerkt haben.

 

Hausleute

Wie ungefähr in jedem Haus, wohnen auch in diesem Haus lauter unwahrscheinliche Subjekte. Meine Frau sagt manchmal, wir sollten hier wegziehen, in ein Haus mit normalen Leuten. Ich bin jedoch der Auffassung, dass es keine normalen Leute gibt. Nicht in einem Haus. Sie weiß das bloß nicht, weil sie noch nicht in so vielen Häusern gelebt hat.

Die Mieter über uns hausen in engen Verhältnissen. Daher jeweils dieses Möbelrücken, als werde nachts der ganze Dachstock mit Matratzen ausgelegt, und am nächsten Morgen frisch möbliert. Wer sie sind, wissen wir nicht. Einer von ihnen macht sich einen Sport daraus, bei offenen Fenstern lauthals zu rülpsen. Meiner Frau sind deswegen schon die Nerven durchgegangen, und anstatt sie zu beschwichtigen, habe ich sie angebrüllt. Gleichzeitig leitete der Nachbar unten eine seiner tosenden Phil-Collins-Sessions ein. In solchen Momenten wird einem klar: genau das ist sie doch, die freundnachbarliche Normalität, nach der es uns sosehr verlangt.

In der andern Dachwohnung ist die Hauswirtin mit Familie daheim. Einer der Söhne ist heroinabhängig. Zur Zeit steckt er wieder in der Phase, in der er alles, was nicht niet- und nagelfest ist, mitlaufen lässt. Unter anderem ist er im Boccia-Club (1. Stock rechts) eingestiegen und hat dort das chinesische Porzellan sowie einige Pokale entsorgt. Natürlich hat er allseits nur Undank geerntet. Als er sich tags darauf am Zweitvideo der Rück- und Rülpsgesellschaft vergriff, hat seine eigene Mutter in ihrer Verzweiflung heimlich die Polizei gerufen. Das Aufgebot an Streifenwagen war hollywoodianisch. Kurz vor Mitternacht wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Man hörte ihn tobend die Treppe heraufkommen, und gleich danach ging er mit dem Messer auf den Ehrenpräsidenten des Boccia-Clubs los, der zufällig um diese Zeit noch das Liqueurregal polierte. Großaufgebot der Streifenwagen, take 2.

Im 3. Stock links wohnen Blitz und seine Freunde. Blitz heißt wirklich Blitz, James Blitz, und ist von Haus aus Archäologe, schlägt sich aber als lebende Statue vor einem Kaufhaus durch, wo ich ihn fast täglich sehe. Leider kann ich ihn nicht freundnachbarlich grüßen, aus Rücksicht darauf, dass er als Bronze-Gladiator nicht gut zurückgrüßen kann. Aus seiner Wohnung haben wir bisher lediglich vernommen: Klarinettentonleitern (täglich von neun bis elf) und das ebenso disziplinierte Liebesgestöhn einer Mitmietse (auf portugiesisch).

Unlängst sind im Mezzanin frische Nachbarn eingezogen. Ich sah es am Briefkasten: Czyzewski-Tenor. »Polen!« dachte ich und freute mich, denn bei Polen denke ich immer: sicher nette, gebildete Leute. Aber welcher nette, gebildete Mensch hat eine so krakelige Schrift wie dieser Czyzewski-Tenor?

Der Doyen von uns Mietsleuten, nennen wir ihn einfachheitshalber Phil Collins, nimmt fortlaufend Untermieter bei sich auf, die er einige Monate später unter gewaltigem stimmlichem Aufwand – Ehre seinem Lieblingssänger – wieder hinauswirft. Der letzte war ein französischer Buchhalter, der als Teenager in Tahiti gelebt und dort Jacques Brel kennengelernt hat. Abgesehen davon hinterließ er den Eindruck einer sehr normalen Normalität. Netter Mensch. Dank ihm habe ich erkannt, dass es nichts Unglaublicheres gibt als das Stinknormalste. Eines Tages stand er vor unserer Tür und bat mich, die deutsche Übersetzung eines Buchhaltungsplans für ihn durchzusehen. Nach drei Seiten war mir schwindlig, nach fünf machte sich eine leichte Nausea bemerkbar, in der Mitte des Manuskripts hatte ich das Gefühl, schon jahrelang in einem Irrenhaus zu leben, und auf Seite 39 – der letzten – begriff ich, dass die Bilanz irgendwie aufgehen muss. Was für Gehirne! Wie unwahrscheinlich wir selbst sind, wage ich nicht abzuschätzen.

 

Seifchen und Selena

Selena nimmt jeden Morgen um acht Uhr dreißig die Metro, fährt in unwirtliche Gegenden, graust sich ein wenig vor der Menschheit, die da in vollen Zügen stadteinwärts, stadtauswärts verschoben wird. Vapeurs und vorzeitige Ermattung. Selena hat höhere Bildung, muss aber seit jeher mit Anstellungen vorliebnehmen, die diesem zarten Pflänzchen Hohn sprechen. Hungerlöhne, sofortlösliche Verträge. »Die Chefetage lässt melden, dass Ihre Dienste ab sofort nicht mehr beansprucht werden.« Kommt Selena eben woanders unter. Neuerdings befährt sie täglich zweimal die blaue Linie, steigt – falls sich nicht gerade wieder ein Lebensmüder vor den Konvoi geworfen hat – punkt acht Uhr fünfundfünfzig in einer jener Vorstädte aus, die alle auf et enden. Vom U-Bahnhof sind es fünf Minuten bis zur Seifenfabrik.

»Der besondere Charme eurer Seifchen«, sage ich ihr, »liegt zweifellos in ihrer Überflüssigkeit.« Von welchem andern Produkt lässt sich schon behaupten, dass es zu 95 Prozent unverwendet bleibt? Es handelt sich um jene zierlichen, im plissierten Papierröckchen steckenden Savonettes, die der solvente Hotelgast in seinem Badezimmer vorfindet und die er im Normalfall unberührt liegenlässt, sich damit allenfalls einmal die Hände wäscht. Es gibt natürlich auch die Habgierigen, die die milde Gabe umgehend in ihrem Necessaire verschwinden lassen, um nach zehntägigem Aufenthalt mit ebensovielen Seifchen im Gepäck nach Hause zu reisen, wo sie ihre Beute einer Sammlung inkorporieren, die durch weiteren, with compliments von der Direktion gestifteten und nie seiner Bestimmung zugeführten Hygienekrimskrams – Shampoobeutelchen, Zahnbürstchen, Schuhputztüchlein, Nähsets und Präservative – ergänzt wird, zierlichen Zeugen ihrer Weltläufigkeit.

Tritt indessen Selena punkt neun Uhr durch das Fabriktor, so schlägt ihr keineswegs der Duft der weiten Welt entgegen, sondern allenfalls eine Staubwolke, die ein eben mit einigen hunderttausend Seifchen beladener Camion aufwirbelt: das Aroma der Zulieferer. Gleich darauf begrüsst der Herr der Seifen, Selenas Chef, die neue Tipse mit einem herzhaften Klaps auf einen ihrer weniger vergeistigten Körperteile sowie mit einem Bündel handschriftlicher Briefentwürfe, bitte wahlweise auf englisch, französisch oder spanisch zu übersetzen. Im Kontor brummt die Klimaanlage, brummt eine Fliege und zwischendurch der joviale Chef, und es brummt Selenens Schädel, wenn sie abends um sechs ihre Korrespondenz mit den ersten Häusern von Singapur, Dubai und Paris, betreffend Parfümierung, Plissierung und Preislage des sanitären Zubehörs, erledigt hat. Sollte Selena jedoch selber einmal in einem Hotel absteigen, so würde in der Dusche bestenfalls ein mickriges rechteckiges Seifenriegelchen für sie bereitliegen. Höhere Bildung hin oder her, nur den höheren Einkommensklassen stehen runde, in Papier plissé gewickelte Seifchen zu.

 

Die Hölle

 

1.) Kann man Höllen durchwandern, ohne davon berührt zu werden? »Das Eigene des Menschen ist die Hölle bei ihm«, heißt es bei Swedenborg (der es wissen muss), und dennoch betrachtet er in der größten Unbefangenheit die »Gestalten des Hasses und vielfältiger Rachgier«, nimmt Einblick in die höllische Geographie. Diesen Grad an Selbstentfremdung möchte man erreichen! Aber ach, für uns ist die Hölle gerade die Emotion, die aller Analyse standhält und Hölle bleibt.

2.) Daher dieses Missverhältnis, das uns empört, zwischen der Plattheit des Sachverhalts und dem Abgrund der Empfindung.

3.) Die Vernunft belagert die Höllensphäre und prallt daran ab. Der Stoff der Trauer verdichtet sich, von keiner geistigen Bewegung aufgerührt, zu einem Punkt (=Schmerz). Der Hölleninsaße sieht seine Hände zittern, fühlt das Blut in sich rauschen, das Stechen in der Brust, fast wünscht er es herbei. Ja, wenn er wirklich erkranken würde!

4.) Wenn ich auch seit Jahren ein zerstörerisches Werk fast methodisch an meinem Körper treibe, sind doch einige Stunden exzessiv schlechter Einbildungen verheerender als der ganze Schindluder. Und was diese Einbildungen auslöst, macht das Menschlein noch dazu vor sich selbst lächerlich.

5.) Ist nicht seit Dante der Himmel der Ort der Dichter, wo sie zwischen jubilierenden Engelsscharen ihre Stimme erheben? Swedenborg schickt den geistig Armen in die Wüste. Der Verstummende, der stupid sein Leid Stammelnde, ihm bleibt der Himmel verschlossen und seine Blödigkeit eben wird ihm zur Hölle.

6.) Man muss sich schon manchmal freuen können an dem ganzen Krempel, sonst ist es aus; und nun dieses herzbeklemmende Phänomen: Ich darf nicht froh sein. Sowie sie uns irgendwie anziehen, werden die Gegenstände selbst von der Schwermut beleckt, und wir verlieren jegliches Interesse daran.

7.) Unmöglich, es in der Hölle allein auszuhalten. Man sucht und meidet zugleich Gesellschaft. Aber wie zum ursprünglichen Schmerz der Schmerz über den Schmerz kommt, die Scham über die Scham, die Untröstlichkeit darüber, untröstlich zu sein, verdoppelt sich auch hier die Not. Man wird äußerlich das Abbild seiner Hölle, fürchtet beim Kauf einer Schachtel Zigaretten das Gesicht zu verlieren und fühlt sich unter jenen Leuten als Verstoßener, die einen nun mehr denn je anöden. Momentweise wenigstens diese Herausforderung: den Gleichgültigen zu mimen. Nur vor sich selbst gibt es nichts zu dissimulieren.

8.) Die Hölle ist Sache religiöser Verirrung. Da hat sich einer eine Göttin erfunden, und weil sie in Wirklichkeit eine kleine Kunststudentin ist, lässt sie ihn schmoren. Alle unglücklichen Liebhaber sind Dr. Frankenstein, der sich ein Liebesmonstre erschaffen hat.

9.) In der Melancholie erleiden wir verschiedene »Bosheiten und verruchte Kunstgriffe der höllischen Geister«. Einer davon ist der Untergang der Zeit. Die Zeit stürzt ins Nichts. Unsere eigene Geschichtlichkeit war das Paradies, aus dem wir vertrieben wurden, und seither bezieht sich alles auf den Moment der Vertreibung. Heute sind es, rechnet man sich vor, so und so viele Tage, seit diese Mühle in mir mahlt. Aber wo keine Zeit ist, kann auch keine Zeit Wunden heilen; und im übrigen gehört mir ja meine Melancholie nicht einmal: jeder kennt sie, nichts wäre gewöhnlicher und abgeschmackter. Die Hölle sind die andern – nein, die Hölle sind wir selbst, insofern wir die andern sind.

10.) Die Hölle – hin und wieder macht man sie durch.

 

Klappertext

 

Na bitte. Die heißen Würstchen, die in der Louis-Bar zum Dry Martini gereicht werden, sind wieder einmal exquisit zu nennen. Welches Genie hat übrigens bemerkt, zur Erlangung eines wirklich trockenen Martini sei es ratsam, die Noilly-Prat-Flasche nur kurz anzuschauen, keinesfalls jedoch anzufassen? Ich glaube, es war Winston Churchill, der das scheinparadoxe Wort aussprach. Ein Wunder, dass Madame S., die mich gestern mit Erinnerungen an ihre Zeiten als Pferdestrieglerin bei Prinz Charles langweilte, und was ihrer mondänen Verbindungen mehr sind, auf die sie sich, Nobelpreisträger eingeschlossen, mit den jeweiligen Kosenamen berief – ein Wunder, sage ich, dass ihr nicht auch noch etwas über den Mann einfiel, der die Trinkkultur mit jenem nützlichen Hinweis zu verbessern trachtete. Alt genug wäre sie, um auf Churchills Schoß geschaukelt worden zu sein. Meine mit den Großen dieser Welt auf so vertrautem Fuß stehende Gastgeberin hatte die Stirn, mir gleich zur Begrüßung mitzuteilen, ich sehe missvergnügt aus. Dies immerhin, beim Abschied sparte sie sich – aus Takt? aus Ernüchterung? – einen Kommentar über mein Gesicht. Selbiges war nämlich immer länger und verdrießlicher geworden. Madame war ja einfach über jedes Thema auf der Höhe außer vielleicht einem, das auch mich interessiert hätte. Sie wollte mich in hiesige künstlerische Kreise einführen, mir auf die Sprünge helfen, mich mit der Nase auf was weiß ich stoßen und wirkte daher auf mich ausgesprochen niederschmetternd. Nun hält sie mich für einen Stock, für einen mundfaulen Miesepeter, darüber helfen auch die Blumen nicht hinweg, die ich mitbrachte, denn als Buddhistin ist sie gegen die Vernichtung pflanzlichen Lebens, aber hätten ihr nicht meine bürgerlichen Umgangsformen die Vermutung nahelegen können, dass ich auch Seele habe? Diese Seele hat die missliche Eigenheit, in Gesellschaft kunstsinniger und belangvoller Persönlichkeiten zu verkümmern, zu verdorren, hingegen aufzublühen, wenn so uninteressante Menschen wie Krankenschwestern, Kassierinnen und Kellnerinnen sich ihr nähern. Heute habe ich mich in der Hoffnung auf eventuelle derartige Begegnungen allen gesellschaftlichen Verpflichtungen entzogen. Ich nehme allein meinen Aperitif, anschließend werde ich mich in ein gutes Restaurant setzen und wie ein geheimnisumwitterter Herr speisen. Ich kenne die magische Kraft, die ein einsam, aber stilgerecht genossenes Mahl einem Mann verleiht.