ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
En vrac

[ca. 1994-1996]

 

Konditorei Seelgen

Im Zeitungsraster sehen sie ganz appetitlich aus, die menschlichen Chromosomen: wie Spitzbuben, nein wie Lebkuchen in der Auslage beim Bäcker. Das Bild illustriert einen Artikel über die Händel zweier Forschungsunternehmen, die um das Eigentum an einem bestimmten Gen – BCRA2 – gegeneinander prozessieren. Für manche dürfte es eine Neuigkeit sein, zu vernehmen, dass eine Firma in Salt Lake City einen Teil unserer Erbanlagen zu patentieren sich berechtigt fühlt, um daraus Kapital zu schlagen. Jeder hält sich gern selbst für den Eigentümer seiner persönlichen Genkarte und bildet sich ein, er könne davon beliebigen Gebrauch machen: so wie man etwa jeden Morgen aus der entsprechenden Schublade die passenden Socken wählt. Unsere Gene verhelfen uns ja nicht nur zu einem Körper, der bei moderatem Gebrauch seitens des Insassen mehr oder weniger ein Leben lang hält, sondern obendrein zu unseren Verzückungen, zu unserem Seelengeschlepp, allenfalls zu einer Weltanschauung – zu der ganzen Mitgift eben, die uns zu Individuen stempelt. Mitglied des Initiativvereins »Tempo Teufel«? Siehe negative Q-Banden im Chromosom 15. Nun müssen wir uns jedoch an den Gedanken gewöhnen, dass wildfremde Menschen in uns neue Gene, deren Ausbeutung wir bisher unserer auch nicht so weisen Natur überließen, nicht nur entdecken, sondern damit erst noch Wucher treiben. Ein harter Schlag für all die verbissenen Selbstsucher, die ein Leben lang ihrer Identität nachgrübeln, um ihrem Wesenskern auf die Spur zu kommen. Der aber besteht eben aus den allgemeinsten Zutaten: sagen wir, einer Portion handelsüblicher Wurstigkeit plus einer Prise Malice. So wie ja auch ein Lebkuchen aus Honig, Mehl und Mandeln gebacken wird. Aber es gibt natürlich Leute, die schmoren im eigenen Saft, bis sie schwarz werden.

 

Ablenkungsmanöverbericht

In mir wohnt ein Mörder, der es darauf abgesehen hat, meine Zeit abzuservieren. Bei Schlechtwetter benützt er als Tatwaffe jeden erdenklichen häuslichen Krimskrams, und das Opfer weist denn auch alle Merkmale einer langsamen und stümperhaften Erdrosselung auf. Geschickter geht er bei Sonnenschein vor: so perfid, dass meist nicht einmal eine Leiche beigebracht werden kann. In den seltenen Fällen, da sie doch aufgefunden wurde, spielte ein seliges Lächeln um ihren Mund. Dieses perfekte Verbrechen wird gemeinhin Spazierengehen genannt. Für die Angehörigen des Opfers ist es in diesem Zusammenhang vielleicht tröstlich, zu vernehmen, dass uns hier statistisch 282 Sonnentage im Jahr beschieden sind.

Jetzt zu etwas anderem; aber nicht ohne vorher die Frage zu klären, um wen es sich bei den erwähnten Angehörigen der Zeit eigentlich handelt. Da ist einmal ihre wehmütige Stieftochter, die Erinnerung. Sogleich erinnern wir uns auch an jenen unausstehlichen Gevatter, den Überdruss, dem man am besten entkommt, indem man sich hin und wieder einen kleinen Spaziergang gestattet. Und nun können wir uns meinem Kollegen in L.A. zuwenden, der mir neuerdings den @-Briefkasten füllt.

»ab sofort wirst du mit junk mail beschossen, und zwar gnadenlos.« Mit diesen Worten leitete der Mail-Junker unseren buchstabierernsten transatlantischen Austausch (von Erinnerungen, von Überdruss…) ein. Wahrscheinlich kann er mit seiner Zeit, sage ich mir nach Empfang seiner sechzehnten Botschaft innerhalb einer Woche, so verschwenderisch umgehen, weil in Los Angeles trotz guter Besonnung nur Unbesonnene ihr Leben spazierenderweise aufs Spiel setzen. Ob es überhaupt je jemand versucht hat?

Da klingelt das Telephon und ich hebe ab, zumal ich gerade weder mit E-Korrespondenzen noch mit U-Spaziergängen ausgelastet bin. Ich habe nämlich meine Neigung zum Krimskrams, die mir sonst den Rest gibt, vorübergehend auf das Verfassen des vorliegenden Berichts gelenkt. Meine Liebste ist am Apparat und seufzt so etwas wie: »Der Alk sitzt mir im Nacken.« Von ihr lasse ich mich ja noch so gern ablenken: »Dann gehen wir am besten sofort etwas trinken.«

 

In den Qualm gesprochen

Ein Herr, der raucht, gleicht einem Knopf, der in einem Misthaufen verscharrt ist, eine Dame, die raucht, reizt alle Anwesenden ständig mit ihrer verdammten Papyrosa. Und deshalb, meine Herrschaften, hören wir auf zu rauchen. Daniil Charms

 

Es gibt Dinge im Leben, die ohne Zigarette nicht denkbar sind – zu viele schöne, angenehme Dinge, als dass man das Rauchen einfach so aufgeben könnte. Wenn es stimmt, dass Blinde nicht rauchen, dann gewiss deshalb, weil sie den blauen Dunst nicht sehen. Vom Mythos der Zigarette bleibt für sie nur beißender Qualm. Gäbe es ein Mittel gegen das Rauchen, das sich mit dem Glamour eines Glimmstengels messen könnte, so würden wir bedenkenlos zu Nikotinkaugummi, Entgiftungsglobuli und Akupunkturnadeln greifen. Dem Ästheten aber, auf den schon Light-Raucher leicht anrüchig wirken, sind solch tugendsame Notbehelfe ein Graus; zu schweigen von jenen piependen Schachteln, durch die man sich darauf abrichten lässt, sein Pensum allmählich auf null zu reduzieren. Die sicherste Methode, das Rauchen aufzugeben, besteht nach wie vor darin, nicht zu rauchen. Sooft man Lust hat, sich eine Zigarette anzuzünden, verwendet man die folgenden Minuten dazu, die Zigarette nicht zu rauchen. Lässt sie Zug für Zug in seiner Vorstellung verglimmen, und sollte einem zwischendurch die Phantasie ausgehen, so hebe man den Blick und starre in die Rauchkringel, die aus dem Sinnbild des sich verzehrenden Genusses aufsteigen, das man sich in seiner Geistesabwesenheit schon wieder zwischen die Lippen gesteckt hat.

Amerika, das am meisten für die Glorifizierung des Rauchers getan hat, macht ihm nun folgerichtig als erstes Land den Garaus. Schade um uns, und schade um den Hauch von sündiger Lust, der jeden einzelnen Lungenzug – Billionen, Billiarden von Lungenzügen – begleitet hat. Mit der Abschaffung des Rauchens ist zweifellos auch eine gewisse Lebensart vom Aussterben bedroht, ein Lebensgefühl, das eine ganze Gattung von Lustbarkeiten und Liederlichkeiten kultiviert hat, für die es sich zu leben (und zu sterben) lohnte. Nicht auszuschließen, dass es schon bald, wenn erst das Ritual der »Zigarette danach« sich verliert, auch um die Liebe selbst geschehen ist.

Trotzdem ist jeder Raucher ein potentieller Überläufer. Erst noch kann er sich nachher mit seiner Willenskraft brüsten! Daniil Charms schrieb am 4. Oktober 1933 in sein Tagebuch: »Es ist angenehm, wenn du eine Woche lang nicht geraucht hast […], in der Gesellschaft von Lipavskij, Olejnikov und Zabolockij zu erscheinen und sie von selbst merken zu lassen, dass du den ganzen Abend nicht rauchst. […] Es ist gut und praktisch, um sich vom Laster des Rauchens zu befreien, Zuflucht beim Laster der Prahlerei zu nehmen.« Zwei Tage vorher der Eintrag: »Kindern schenken soll man Klingeldraht, Bindfaden und Stöcke.«

 

Big Brother’s Brötchen

Ich wollte Brot holen gehen, aber auf der Schwelle der Bäckerei machte ich abrupt kehrt und schlich ganz verschüchtert von dannen. Warum dieses seltsame Verhalten? Brötchen haben doch nichts Einschüchterndes. Auch die Verkäuferinnen dort sind, wenn nicht delikate, so jedenfalls gemütvolle, im Verein mit den Gerüchen aus der Backstube eine geradezu humane Note verbreitende Wesen, beinahe hätte ich gesagt Jungfern. Eine hat mir einmal anvertraut, dass sie in den Ferien jeweils meditieren geht. Ich gebe zu, dass meine Verblüffung über diesen Zeitvertreib einer Ladentochter nur meine eigene Weltfremdheit bloßlegt. Wahrscheinlich hat sie auch einen prima Masseur für ihren dienstgeschundenen Leib. Zunehmend hat man das Gefühl, dass einem in Sachen praktischer Lebensgestaltung, d.h. betreffs einer gewissen unentbehrlichen Nonchalance dem Dasein gegenüber, jeder Backfisch etwas voraushat.

Treten nicht diese aus einfachen Verhältnissen stammenden Frauenspersonen überhaupt den Phänomenen der Zeit natürlich und ungeziert, mit bewundernswertem Gleichmut entgegen? Ganz im Gegensatz zu mir. Was mich nämlich auf der Schwelle der Bäckerei hatte zurückweichen lassen, war die Präsenz einer Kamera, mit der sich eine andere junge Frau zu schaffen machte. Sie schien gerade den tief menschlichen, wiewohl alltäglichen Prozess ins Bild zu bannen, den der Tausch von Baguettes, Mohnbrötchen und gelegentlich einem Liebesknochen (Eclair) gegen klingende Münze darstellt. Schwer zu sagen, warum sie sich dieser Mühe unterzog. Vielleicht eben wegen der Menschlichkeit. Weder war kürzlich der Brotpreis explodiert, noch hatte sich unser Semmelweis meines Wissens sonst etwas zuschulden kommen lassen. Nicht auszuschliessen allerdings, dass eine Forschergruppe an einer Universität im Mittleren Westen eben entdeckt hatte, dass die Brioche doch kein Killer ist. Aber wahrscheinlich war es einfach eine Studentin oder eine Privatperson, die gern Bäckereien filmte.

All diese tröstlichen Gedanken hatte ich mir noch nicht gemacht, als ich auf mein täglich Brot verzichtete (bzw. es in einer andern Bäckerei holte), nur um nicht gefilmt zu werden. Meine Kameraphobie macht mir bald selber Angst. Warum will ich nicht an der Reality Show teilnehmen, die das Leben nun einmal ist? Am schlimmsten sind die anonymen Kameraaugen, die angeblich den Verkehr überwachen. Da ist vielleicht noch nicht einmal ein Film eingelegt. Aber ich meide auch Premièren, gehe an keine Vernissagen, keine Pressekonferenzen mehr. Selbst um Reklame- und Spielfilmaufnahmen, obwohl man da als Passant höchstens weggescheucht wird, mache ich einen Bogen. Und Straßenumfragen – mir diese Situation nur schon vorzustellen. Da müsste ich mir ja eine einfache, allgemeinverständliche Antwort wochenlang im voraus überlegen. Am wenigsten fürchte ich die japanischen Touristen, weil die wirklich nur die Oberfläche der Dinge filmen: ihre Rinde.

 

Café Niedertracht

»Leg dieses Gedudel in die Abwaschmaschine und dafür lieber ein schmutziges Bierglas in den CD-Player.« Der Gast, der sich so barsch über die Musik beschwert, ist melankoholischer Stimmung. Ihm würde vermutlich Leonard Cohens gesammelter Trübsinn besser bekommen. »Elektronisches Leitungswasser«, legt er seine Gedanken zurecht, »Musik, die nie richtig anfängt. Immer wartet man darauf, dass es endlich losgeht.« Stimmt, überlege ich; aber das ist gerade das Schöne daran. Und die Barmaid, schnippisch: »Allemal besser als deine Schlappies, die überhaupt nie fertig werden.«

*

Sperrstunde. Eine Frau und zwei Typen, beide gleichermaßen auf sie erpicht, hängen noch vor dem Eingang der Bar herum. A., der sich praktisch für ihren Freund hält, steht mit dem Motorradhelm in der Hand da; die Frau hat auch schon eingewilligt, sich von ihm »heimfahren« zu lassen. Aber da ist dieses kleine Problem: er hat keinen Helm für sie. B. sagt beiläufig, er habe einen bei sich zu Hause, wohne nur einige Schritte von hier und leihe ihn gern aus. Überhaupt lade er die beiden noch zu einem Whisky ein. Man einigt sich auf diese provisorische Lösung, A. wirft seine Maschine an, B. und die Frau gehen zu Fuß weg, verkrallen sich schon unterwegs ineinander, und als sie sich dem Haus nähern, wo A. ihnen neben seiner Honda wartend entgegenlächelt, erkundigt sich B., was man jetzt mit dem anfange. »Gib ihm den Helm, dafür ist er ja gekommen.«

*

Der Maler, der in diesem Café ausstellt – erigierte Schwänze mit Spiegeleiern und solche Sachen – »ekelhaft«, sage ich; »langweilig«, meint die Barmaid –, habe in Italien mit seinen Bildern eine Ätz-Kampagne gestartet. »Wie bitte?… Ach so, eine Aids-Kampagne.«

*

Leutselig, der Mann am Nebentisch. Palavert, gestikuliert zu uns herüber. Wir sitzen im Freien, und wie es von Santa Maria her zwölf schlägt, ist der Liter Wein vor ihm schon halb geleert, gleich darauf wird das Menu serviert, Bratwurst mit Fisolen. Ihm ist freilich gar nicht danach zumute. »Bedienung!« Er denke nicht daran, diesen Teller, der noch nicht einmal richtig warm sei, anzurühren. Der Kellner bringt ihn zur Mikrowelle zurück, und als er ihn wenig später mit säuerlichem Lächeln wieder aufträgt, rückt der andere angewidert vom Tisch ab: Wie man es wage, ihm einen solchen Fraß hinzustellen! Ob man noch bei Trost sei! Man möge ihn verschonen mit Wurst und Bohnen… Und da seine anhaltende Entrüstung ebenso ausdauernd überhört wird, schleudert er die ganze dampfende Portion aufs Pflaster, auf die Fahrbahn hinaus. Keinerlei Aufhebens. Man nimmt es mit einem Achselzucken zur Kenntnis. Der linke Vorderreifen eines Nissan Patrol bereitet der Bratwurst ein unrühmliches Ende. Wenig später erscheint der Kellner erneut, diesmal mit der Rechnung – und siehe: sie wird anstandslos beglichen. Abgeräumt ist schon, da säuselt ihm der rüde Gast nach: »Lecker war das wieder einmal! Schon lange nicht so wohl gespeist!«

 

Plädoyer für einen säumigen Briefträger

Selbst in Ländern, wo die Post überall, nur nicht auf der Post abgeht, dürften die meisten Festtagsgrüße inzwischen ihre Adressaten erreicht haben. Das ist, genau bedacht, eher bedauerlich. Erstens finden Neujahrsglückwünsche, je später sie eintreffen, desto mehr Beachtung; und zweitens sind sie – was für Postkarten überhaupt und ganzjährlich gilt – fast immer so beschaffen, dass ein Postbeamter gnädigerweise nichts Besseres damit anfangen kann, als sie auf dem Dachboden seines Reihenhauses säckeweise zum Verschwinden zu bringen. Bis die Schlamperei eines Tages aufgedeckt und der Mann wegen fortgesetzter Verletzung der Beförderungspflicht vor Gericht gezogen wird.

Eine Ansichtskarte ist eine Ansichtskarte ist eine Ansichtskarte – dieser Ansicht scheint mehr oder weniger alle Welt zu sein. Ich teile sie nicht. Eine Postkarte ist an sich etwas Vollkommenes, und Kartenschreiben gerade daher, bis zur Auswahl und Placierung der Briefmarke, eine äusserst delikate Angelegenheit. Es sind Briefe in Pillenform. Das Postkartenformat ist ideal, insofern es kein Ausufern gestattet, dafür höchste Kondensierung verlangt. Zwei oder drei Karten zu schreiben, das ist für mich ein halbes Tagewerk. Freilich, darauf hat man dann keinen Einfluss mehr, wenn ein leidiger Poststempel das Ergebnis verunstaltet, oder der Briefträger die Sendung in seinem Estrich verschimmeln lässt.

Zu welchen Höhen der Kunst sich ein Kartengruß emporschwingen kann, zeigen die »Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg«, Komposition von Alban Berg aus dem Jahr 1913. Der heutige gewöhnliche Mensch ist sich hingegen nicht zu schade dafür, zwanzigmal sich selbst, d.h. denselben Blödsinn auf zwanzig ebenso blöde Karten zu kopieren. Hält man sich das vor Augen, so wird man im Fall des angeklagten Briefträgers unbedingt auf Freispruch plädieren. Viele Kartenschreiber stellen leider nicht einmal mehr bei der Bildwahl die geringsten Ansprüche. Es ist ja auch nicht einfach. Man muss schon etliche Postkartenstände abklappern, wenn man irgendwo eine Stadtansicht finden will, die auf sensiblere Naturen nicht abgeschmackt wirkt. Nicht einmal das Postkartenformat ist mehr Postkartenformat, sondern wird mit einem zollbreiten weissen Rand aufgebläht, darin ein um so erbärmlicher geschrumpftes Bild, und oft noch durch den Ortsnamen in unsäglicher Typographie verunziert. Wer verlangt noch nach den schönen, ausgezackten Rändern von früher, im Fachjargon déchiqueté genannt?

 

Frühstückwerk

Meine Vormittage haben die bemerkenswerte Gewohnheit, sich dünne zu machen, bevor ich überhaupt Gelegenheit habe, sie auf ihre kreative Nutzbarkeit zu prüfen. Das kommt daher, dass ich, nachdem ich wieder sträflich verschlafen habe, zunächst in der Badewanne Buße tue bzw. mein Heil suche. Zumal die Wasserversorgung hier etwas dürftig ist, verplätschern schon einmal zwanzig Minuten, bis ich auf das inzwischen herangewachsene Schaumgebirge, als wäre ich der liebe Gott auf einem Alpenrundflug, einen befriedigten Blick werfe und das Frühstückstablett neben diese parfümierte Landschaft placiere, um endlich einzutauchen, mich auszustrecken, zu reinigen und in den Tag zu schicken. Ich bin allein, meine Mitmenschen sind mit der Hebung, vielmehr Wahrung des allgemeinen Lebensstandards beschäftigt. Nur die ewige Katze leistet mir Gesellschaft und springt mit einem enigmatischen Raunen auf den Wannenrand.

Es wäre eine unverzeihliche Liederlichkeit von mir, dieser Tageszeit nachzusinnen, ohne des griechischen Joghurts zu gedenken, das für mich eine Art Religionsersatz ist. Originalgriechische Joghurts findet man nicht an jeder Ecke und es kommt vor, dass mich meine Joghurthändlerin ganz zerknirscht empfängt, weil sie keines mehr vorrätig hat. Sie kennt meine Sucht. Als die Versorgungslage einmal besonders kritisch war, hielt sie mich mit täglich frisch fabulierten Bulletins bei Laune, betreffend die Fortschritte bei der Reparatur des Camions, der mir das gewisse Becherchen quer durch Europa praktisch an die Badewanne bringen sollte, aber angeblich irgendwo zwischen Metamorfossi und Triest liegengeblieben war.

Bin ich denn ein Herrensöhnchen oder sonst so ein Rentier (bitte ohne Geweih auszusprechen), dass ich mir griechische Joghurts und verplemperte Vormittage à discrétion leisten kann? Mitnichten. Ich bin nur ein kleiner Nachtarbeiter.

Ungeachtet eventuell vorhandenen oder inzwischen völlig erlahmten Interesses an der Schilderung, was weiter geschieht, bitte ich nun aus der Badewanne steigen zu dürfen, um mir nichts, dir nichts in einer Espressobar wieder aufzutauchen. Glücklicherweise befinden wir uns ja mitten in einem Prosastück, und dessen Gesetz verlangt hier von mir ultimativ einen Beschleunigungunseffekt, einen kleinen Zeitsprung, mit dem ich mich abfinde und mein zwischenzeitliches Getrödel Getrödel sein lasse. Von mir aus, bittesehr, können Sie auch gleich den ganzen Abschnitt streichen.

In der Espressobar spielt sich der dritte Akt meines Frühstückwerks ab. Er dürfte um so gehaltvoller ausfallen, als ich jetzt die Figur meines alten Bekannten F. einführe, den ich hier zufällig antreffe. Er sitzt ganz gebrochen über seiner Zeitung, und wie ich mich erkundige, wo der Schuh drückt, lässt er seinem Unmut über die Hirnrissigkeit des Weltgeschehens, über nationale Wirrsal und lokale Willkür freien Lauf. Da hat man sie wieder, die Unbekömmlichkeit der Welt im allgemeinen, der Zeitungslektüre im besonderen.

 

Dichters Erwachen

Erwachen ist ein so angenehmer Zeitvertreib, dass ich es jeden Morgen mehrmals praktiziere. Voraussetzung ist natürlich, dass man dazwischen wieder entschlummert. Solche Schlaftätigkeit, die einem nicht mehr vom Körper abgefordert wird, ist gewissermaßen das Dessert der Nachtruhe. Zwischen Erwachen und Erwachen jagen mein Ich und mein Es, in die aberwitzigsten Bestandteile zerlegt, durch meine Träume. Nie bin ich sosehr ich selbst wie in dieser morgendlichen Aufgelöstheit. Es ist, als reite man mit lockeren Zügeln seinen inneren Hengst durch Szenerien, die ebenso durch das gelebte wie das nicht gelebte Leben modelliert wurden. Heute hatte ich mich mit Tante Alice in einem renommierten Pariser Café verabredet. Als ich eintrat, erblickte ich zunächst nur einen zerschlissenen, einsam am Ende einer langen Galerie stehenden Fauteuil. Der Chef de Service, der herbeieilte und mir meine Desorientierung vom Gesicht ablas, geleitete mich liebenswürdigerweise in den Garten des Etablissements. Dort räkelten sich in Liegestühlen ungefähr fünfzig Odalisken, und da es weiter keine Sitzgelegenheit gab, durchschritt ich ihre Reihen, möglichst ohne mir meine Verzagtheit anmerken zu lassen, als auf einmal ein gigantischer Kranarm aus der Halle in den Garten schwenkte und ein Schiff dort ablud. Hier griff der Regisseur in mir in den Traum ein, vielleicht in der Meinung, ein Schiff zwischen fünfzig Odalisken in einem Traum in einem Pariser Garten, in dem ich auf meine längst verblichene Tante wartete, das sei nun doch ein starkes Stück. Ich erwachte also und freute mich über die gebotene Unterhaltung, indem ich mich auf die andere Seite drehte und gleichzeitig, denn ich bin ein verantwortungsbewusster Mensch, all der Missliebigkeiten gedachte, die mein einer Sackgasse ähnelndes Leben heute für mich bereithalten würde; andererseits überzeugt davon, dass jemand, der so schön und interessant träumt, auch tagsüber sein Pensum erfüllen wird.

 

Kunst oder Anything Goes

Man setzt sich in ein Restaurant, schlägt die Karte auf, und dann ist es die Preisliste für die Bilder. Für welche Bilder, bitte? Ich sah mich um: der artistische Putz des Lokals war bisher unter meiner visuellen Wahrnehmungsschwelle geblieben. Würde man allen Darbietungen, die sich als Kunst verstehen und denen man im Lauf eines Tages begegnet, die im Namen der Kunst erheischte Aufmerksamkeit schenken, man traute sich bald nicht mehr aus dem Haus. Die Straßen wären leergefegt, die Kunst hätte über das Leben gesiegt. Im erwähnten Fall schwand angesichts der künstlerischen Urteilskraft unseres Gastwirts auch das Vertrauen in seine Küche. »Soviel Geld haben wir nicht«, erklärte ich dem verdutzten Kellner unseren jähen Aufbruch. Nun tauchte die Frage auf, ob jemand ein kunstfreies Restaurant kennt.

Wir sahen ohne weiteres ein: Das gibt es nicht. Hat es vielleicht nie gegeben. Überall sind irgendwelche Bildwerke im Verzehr inbegriffen. Nirgends manifestiert sich der Horror vacui deutlicher als an den Wänden aller Gasthäuser, Bars und Cafés dieser Welt, und dies seit jeher. Es ist nun aber nicht dasselbe, ob ein Gastwirt einige persönliche Ikonen – gewöhnlich nebst weiteren Ziergegenständen – über Jahre dem Qualm und den Küchendünsten seines Lokals aussetzt, sie also gleichsam der Atmosphäre des Hauses zum Opfer bringt, oder ob er seinen Aufgabenkreis mit dem eines Galeristen verwechselt. Der zum Essen und Trinken erschienenen Kundschaft periodisch neue Beispiele seiner Unbedarftheit in Dingen der Kunst anzudienen, ist zumindest eine Zumutung. Als würden wir über das Elend, über die Fußangeln heutiger Kunstproduktion nicht von einzelnen Künstlern und sogar vom feuilletongängigen Kunstmarkt hinreichend orientiert. Aber es passt natürlich zu dem ewig munteren Gehächel, zu unserer omnivoren neuzeitlichen Kulturseligkeit, die sich dann auf der Speisekarte der betreffenden Lokale in einer kulinarischen Melange aus Miso Soup, Tajine und Tiramisu niederschlägt. Diesen verquasten Worldwide-Häppchen, dazu das Popgedröhn aus den Lautsprechern, und noch das Auge wird mit Blödwerken unterspült.

Künstler gehören sehr wohl ins Wirtshaus – aber bitte an die Tische, nicht als Ziermeier an die Wände. Das verlangt schon die Künstlerehre. Wir sind alle für das Durcheinander, für Verwirrung und unentzifferbare Mixturen. Aber die Domäne der Durchmischung ist meines Erachtens die Straße, nicht das Innere der Häuser. Und noch auf der Straße, ehrlich gesagt, à propos »Kunst im öffentlichen Raum«… Ach so, Kunst soll stören? Das Paradox ist insofern keines, als heute gerade an die »Künstler« die geringsten, nämlich gemeinhin überhaupt keine Ansprüche gestellt werden.

 

La cacophonie contemporaine

Nein, beileibe, »it wasn’t God who made honky tonk angels«. Aber dieser bonbonfarben sich bauschende Abendhimmel über dem Häusermeer…  und ölig schwarz davor das richtige, Metaphern verschlingende Meer… endlich die Dünung deiner Haare im Fahrtwind: das war urbane Urwelt, war wieder einmal die Stadt Eden. Wäre man sich nicht gram gewesen! Dass dann aus dem Autoradio, als wir in die lichternden Mäander der Strandavenue einschwenkten, gerade Dolly Parton in unsere Zerknischrung plärrte, konnte eigentlich nur als göttliche Fügung angesehen werden.

Tags darauf, die »Honky Tonk Angels« verfolgten mich schon, wurde ich im ersten Schallplattengeschäft fündig. Wobei allerdings zu meiner Beschämung 99 zusätzliche Klamotten in Kauf zu nehmen waren, ein Los von »100 Country Classics«. Der Schleuderpreis ließ zarte Bedenken, kulturellen Dünkel schwinden. Überhaupt, auf den vier Scherben würde sich vielleicht noch die eine oder andere Perle finden.

Das Haus erhob sich: Dolly Parton, von keiner Götterdämmerung begleitet, nahm hiermit bei mir Quartier. Und wie es mit Liedern, ist man ihnen erst verfallen, so geht, kam ich von diesen Ludern, sprich »Honky Tonk Angels«, so leicht nicht wieder los. Inzwischen tauchten sie auf jeder zweiten jener Kassetten auf, die man von Zeit zu Zeit für sich oder seine Freunde aufnimmt, nicht ohne anschliessend noch liebevoll aus einer herumliegenden Zeitschrift ein Bild herauszuschneiden, als Cover für das Sammelsurium. Einmal traf’s ein delikat angewinkeltes, zur Rasur eingeseiftes Frauenbein; ein andermal eine Penderezki-Partitur, und nach der »Verlobung der Arnolfini« nun diese äsenden gläsernen Hirschkühe aus einem Versandhauskatalog – stets ein in den schwindelerregenden Gefilden unserer Kultiviertheit freischwebendes und, à propos Kunst, bittesehr möglichst abgefeimtes Motiv; so wie ja schon die Assemblage der Klänge eine ätherische Befindlichkeit bekundet, inbegriffen gewisse Wehleidigkeiten (jenes herzzerreissende russische Ständchen) und mentale Turbulenzen (der Hang zum Akkordeon) des Tonmeisters, dem dafür zuletzt noch ein solider Titel für sein musikalisches Haché einfällt: »Dideldum dei«, »Dezember«, »Gainsboro County« , »El Primitivismo«.

P.J. Harvey, hierauf Biber; Pascal Comelades Piano-Haikus als Präludium zu Sun Ra, und Juliette Gréco neben Cheb Hasni: der verzückte Eklektiker kann sich des angenehmen Gefühls nicht erwehren, ein moderner Mensch zu sein. Je wirrseliger jedoch die Mischung, je koketter die Dissonanzen, desto eintöniger wirkt seltsamerweise das Ergebnis. Es schleichen sich sowieso immer einige Nieten ein: Kitsch wird wieder Kitsch, wenn erst der sentimentale Firnis abblättert. So betrachtet, hätte ich den radiophonischen Glücksfall »Honky Tonk Angels« vielleicht besser in mein Gedächtnis, und nur in mein Gedächtnis aufgenommen.

 

Der Ruf der Stöckel

Stöckelabsätze sind in Verruf gekommen. Der feministischen Vorhut waren sie schon lange ein Dorn im Auge. Heute gehört es zum guten Ton, sich dagegen zu ereifern, und niemand wundert sich, wenn ein junger Mann gegen Stöckelschuhe vom Leder zieht und treuherzig versichert, es würden dadurch die Rechte des weiblichen Fußes beschnitten. Dabei ist unbestreitbar: durch den Stöckel wird die Frau erhöht. Je prekärer die Lage, in der sie ihre Glieder balanciert, desto umwerfender wirkt sie: maximaler Effekt durch minimalen Bodenkontakt. Stiletto heels: dressed to kill. Es war einer der Irrtümer des Feminismus, eine solche Wunderwaffe zu verschmähen.

Aber Stöckel sind passé. Ihre Vorzüge zu preisen, heißt einen Nachruf auf sie zu verfassen, und erst noch gerät man damit in den Verdacht des Fetischismus. Nicht ganz zu Unrecht, denn als Objekt sind sie nun einmal attraktiver als, sagen wir, Plateauschuhe oder ein stinkiger Reebok. Auf den Trottoirs von Bukarest kann man noch – Archäologie der Eleganz – die Abdrücke studieren, die der Metallstift der talons bobine im von der Sonne aufgeweichten Asphalt hinterlassen hat. Hüte, bemerkte kürzlich eine Berlinerin, trage sie nur noch in Budapest: im Westen hat sie sich mit der Ausrottung des Femininen durch den Feminismus abgefunden.

In kurzfristiger tiefer ideologischer Zerknirschung bitte ich dieses Wortspiel nicht ganz wörtlich zu nehmen und fahre mit der Bemerkung fort, dass Mannequins weiterhin auf hohe Absätze angewiesen sind, weil auf dem Laufsteg nichts das ganze Weib – seine Geschmeidigkeit, das Anwinkeln der Beine, das Wippen der Hüften – so gut zur Geltung bringt, synchronisiert, auch den Schwung der Haare in den Bewegungsablauf einbezieht, kurz: der Natur nachhilft, wie ein Paar Stöckelschuhe. Dennoch ist diese Mode gewöhnlichen jungen Frauen heute nicht weniger fremd als etwa die Krinoline. War es Gina Lollobridgida, die einst aus ihren Pumps, als wär’s ein Kelch, Champagner schlürfte? Derlei weltfremde Bilder, von perlendem Gelächter untermalt, bleiben heutigen Generationen vom Mythos des Stöckels. Sie ahnen nicht einmal, dass Damen, die auf sich hielten, notfalls auch hochhackig zu Gebirg stiegen: das Stockhorn, wenn nicht den Wildstrubel – 3243 Meter über Meer – in Sandaletten erklommen. Und öfter noch unsere Treppenhäuser. »I hear the clip-clap from your shoes on the stairs«, besangen die Rolling Stones die reizende Ankündigung eines zerkratzten Rückens. Fingernägel, noch so ein edles Attribut von damals. Almodóvar fand den schönen Filmtitel »Tacones lejanos« – wenn es dann auch mit dem Film nicht so weit her war, wie eben mit den Stöckeln.

Halt mal: es geht hier immerhin um die Gesundheit unserer Frauen, warnte neulich nicht etwa ein Bulletin der World Health Organisation, sondern ein moderner Jugendlicher. Wie dauerten ihn die Füße, die von solchem Schuhwerk gezwickt und malträtiert würden. Von verstümmelten Zehen, entzündeten Sehnen, verkrümmten Knochen wusste er – woher eigentlich? – zu berichten, in seine Blue Jeans gezwängt und unbekümmert darum, dass diese eventuell noch delikatere Teile seines Körpers zerquetschten. Aber Blue Jeans – so unbequem wie zeitlos hässlich – passen dafür zu den Turnschuhen, die jetzt en vogue sind. Man trägt darunter schweißabsorbierende Socken, und irgendwie erinnert das Ganze an die Reformkleidung, die um 1900 dem Übel des Schnürkorsetts abhelfen sollte: je schlampiger und je wulstiger, desto besser. Ach ja, die Zeitläufte. Der Ruf der Stöckel war unwiderstehlich, doch er verhallte irgendwo im Wildstrubelmassiv.

 

Wohnhaftigkeit

Hat man einmal zehn Jahre im selben Haus gelebt, so muss auf Sesshaftigkeit geschlossen, es darf von Wohnhaftigkeit gesprochen werden. Im nachhinein mutet die Wohnungssuche, die mich damals zu dieser begehrten Adresse führte (und es war tatsächlich etwas frei: etwas Hohes, Weitläufiges, Aussichtsreiches), wie ein Fatum an: wird man hier nie mehr wegkommen? Schrecknis des Endgültigen! Sollte es – abgesehen von dem vielen Treppensteigen – etwas bedeuten, dass man im 4. Stock zu Hause ist? Inwiefern lässt sich von der Einrichtung auf die Möblierung der Seele schließen? Schlagen sich Grundrisse auf den Charakter der Bewohner nieder? Die auf rigide großbürgerliche Familienverhältnisse zugeschnittenen Säle empfand ich als angenehm fremde Hülle und ließ sie möglichst leerstehen. Geräumig genug ist die Wohnung, um innerhalb der eigenen vierzig Wände – Kabuff und Korridor mitgerechnet – periodisch umzuziehen. Dann wird man selber vierzig. Und Wohnen gleicht, zumal das Haus noch um einiges älter ist – Baujahr 1872 –, immer mehr einem Métier: denn immer ist irgendein Rohr leck, bricht ein morscher Fensterladen, droht ein Kabelbrand.

Mein Schwiegervater (in spe: von mir aus auf alle Zeiten) hat es mit Fleiß und Gesittung zum Filialleiter einer Vorstadt-Sparkasse gebracht. Was ihn jedoch (ungeachtet der Aussicht, dass er mir, sollte ich ihm dazu Motive liefern, eines Tages den Schädel spalten wird) geradezu sympathisch macht, ist seine andere Natur, sein bäuerischer Wesenskern: eben jener impulsive Hauruck-Mensch in ihm, der seine spießige Borniertheit so herzhaft an den Mann bringt, dass jeder Einwand sich automatisch als schöngeistige Pirouette blamiert. Man sehe nur, wie es ihn, kaum hat er seine Bücher zugeklappt, zu seinem Ölbaum, zu seinen Zitronen zieht: Stau hin, Stau her. Was sind ihm schon zweieinhalb Stunden Fahrzeit für 50 Kilometer, in der Aussicht, einen Tag lang zu ackern, auf seiner Scholle zu rackern.

Zu Neujahr ist Familiengeist gefragt: da ziemt es sich, seine persönlichen Bedürfnisse, z.B. Ausschlafen, hintanzustellen. Und also erschienen wir mittags frisch gebadet und ausgelaugt zum Essen in dem besagten Ferienhaus. Das fünfgängige Mahl, mit dem die sonst so grämliche Mutter aufwartete, wäre gewiss bekömmlicher gewesen, hätte man es nicht, seinem Ungestüm entsprechend, binnen zwanzig Minuten herunterschlingen müssen. Genüsslicher wurden hierauf zehnerlei Nüsse – das auf einer Etagère präsentierte Schalenobst – gekostet, es wurde Liqueur gereicht, sogar gewissermaßen Konversation gemacht. Man kam auf unsere Wohnung zu sprechen, namentlich auf das gravierende Problem, dass da einige Keramikfliesen wackeln, weil sich der Zement gelöst hat.

Ach! Wie charmant kündigte einst schon im Treppenhaus das Klappern einer losen Fliese gar manchen stöckelnden Besuch an! Dem vermeintlichen Missstand hat der Vermieter längst abgeholfen. Dann blieb auch das Gestöckel aus. Nur in der Wohnung klapperten weiterhin traulich einige dieser Lotterfliesen. Bis der Schwiegervater heute, wie zu Neujahr angedroht, mit Kelle und Zement anrückte: zwei 25-Kilo-Säcke für vier oder fünf wackelige Fliesen. Für eine staubige Neujahrswoche ist gesorgt! Er opfert dabei erst noch wer weiß wieviele Stunden, die er seiner Scholle schuldet.

 

Ein Nachruf auf die Leuchtstoffröhre

Neonlampen gelten nicht gerade als das Nonplusultra moderner Beleuchtungstechnik; doch liebte ich von jeher Bars, die uns in deren unverhofftes, unverfrorenes Gleissen tauchen. Solche Orte werden immer rarer. Für uns heißt es einstweilen die Casa Alfonso abschreiben, einen jener Klassiker des Aperitifs, Fortsetzung der Straße mit anderen Mitteln. Dabei ist alles beim alten, beinahe jedenfalls. Eingangs links der Ladentisch mit den Comestibles, darüber der phänomenale Schinkenhimmel: Keule an Keule, eine jede an ihrem Haken, mit einer kleinen Schutzkappe versehen, damit das köstliche Fett – ich grüße dich, Pamela – nicht auf die Kundschaft tropft. Nach wie vor nickt eintretenden Kunden die mürbe Blondine zu, die dort seit Urzeiten als Bedienung fungiert. (Ich hatte mich einmal an der Vorstellung ergötzt, in diesem Haus seien überhaupt nur blondierte Damen zugelassen: so dominant leuchteten ihre hellen Tollen im Neonschein, so silly-sixties-haft wirkte der ganze Gästekreis.) Rechterhand die stattliche, polierte Theke: mit hölzernem Handlauf. Die Wände über den mit Batterien staubiger Flaschen gefüllten Vitrinen zieren mehrere Fresken in Camaïeu-Manier sowie ein Emailgemälde, darstellend ein reinliches Fabrikchen auf kleegrüner Weide: als Reklame für die geschätzten Wurstwaren aus jenem geplagten Städtchen, das Nacht für Nacht von Flotten pestilenzialisch stinkender Camions heimgesucht wird. Von dem Gequieke zu schweigen. Hinten im Salon der Casa Alfonso hast du mich einst mit Tränen benetzt, Pamela; doch tut auch das hier nichts zur Sache.

Neulich sind wir wieder dort eingekehrt. Und alles stimmte, bis auf die Stimmung: die war hin, denn das Lokal hatte eine sanfte Renovation erlitten. Die Wände aufgefrischt, und gleichwohl irgndwie schal: geradezu dämmerhaft der Effekt. Vorbei war’s mit der eisigen Fluoreszenz; statt ihrer hatte man eine Lichtschiene mit ordinären Spotlampen montiert, und das mochte noch angehen. Zusätzlich baumelte nämlich von der hohen Decke ein ganzes Regiment pergamentener, raumhalbierender Lampenschirme. Mochten sich dadurch auch die Verschleißerscheinungen jener Stücke der Ausstattung, die als werte Kunden anzusprechen sind, in ein gnädigeres Licht rücken lassen, so werden doch diese infamen Funzeln niemals – weder auf noch so doldiges Altblond noch auf ein noch so schönes verweintes Gesicht – jenen neutralen Glanz werfen, wie vordem die grellen, quecksilbrigen Röhren. Hier war ein angesehener Gestalter engagiert, dem Stil des Hauses verpflichtet worden: es scheint indessen seiner sorglichen Voraussicht entgangen zu sein, dass ohne Neon von der Casa Alfonso ein etwas altbackenes Dekor übrigbleibt. Denn nichts hat je, wie jenes schlanke Sinnbild des Triumphs der Stadt über die Nacht, unsere Augen so elektrisiert.

Man verstehe: es handelt sich keineswegs nur darum, einigen Leuchtstoffröhren nachzutrauern, sondern um ein ästhetisches Dilemma. Neben der Beleuchtung war übrigens lediglich die Wandverkleidung bis zur Höhe der Vitrinen erneuert worden; und zwar mit Holz. Erst hatte ich meine Zweifel, ob diese Täfelung auch wirklich neu war, und fragte den Kellner. Gewiss, versetzte der: vorher habe da so ein plastikbeschichtetes, Sie wissen schon, so ein ganz mieses Zeug mit Similimaserung geklebt. Und jetzt: echt Teak. Er konnte sich nicht enthalten, es mit einem Klopfen zu unterstreichen.

Es gefiel mir trotzdem nicht, das gediegene Tafelwerk; vielmehr, erst recht nicht. Wer aber würde mich begreifen, den es beelendet, Plastik durch edle Hölzer ersetzt zu sehen, und Neonröhren durch geschmackvolle Lampenschirme? Sogar Freunde, die wohl im Grunde wie ich empfinden, halten meine Aversionen für intellektualoide Koketterie und geben mir zu verstehen, ich würde meinen Grimm besser für weltbewegendere Greuel aufsparen. Überhaupt Geschmacksurteile! Sich über Dinge aufzuhalten, die vielleicht, wer weiß, gar nicht so missraten sind, abgesehen davon, dass sich in vierzehn Tagen kein Mensch mehr daran erinnert! Um zuletzt an solchen Lappalien irre zu werden: nein danke. Es gibt Ärgeres als ein paar Schlampen, pardon: Schirmlampen in einer Bar, in der man gelegentlich einen Campari trinkt oder sich von einem Mädchen beweinen lässt. Andererseits, man gestatte mir den Einwand, ist es ebenso uninteressant, zufällig immer auch gerade der Ansicht zu sein: z.B. Treue sei problematisch, der Neonazi von nebenan zum Kotzen, und zu viele Meringues machten Bauchweh, ergo: seien auch problematisch, letztlich zum Kotzen, usw. Zum Glück bleibt es jedem Einzelnen überlassen, welche Nuancen er sieht, und wo er Einspruch erhebt: an dieser unscheinbaren Kante etwa, an der die Welt verplüscht, wo Neon erlischt.