ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Findelbilder

[ca. 1992-1997 unter dem Pseudonym Francesca Drexler]

 

Die zweischläfrige Frau

Er scheint zu schlafen, aber ob er wirklich schläft? Vielleicht weiß er es selber nicht, sondern sein Gehirn webt zwischen den Kettfäden des wachen und des träumenden Verstandes hin und her: die dumpf  kalkulierten Gespinste des Halbschlafs. Es sieht danach aus, als möchte er sich in meinem Bett verewigen, während ich längst gefrühstückt habe und die Küchenuhr gegen Mittag rückt. Ich habe Spargeln geschält. In Südafrika wird Spargel als Zierpflanze an Ampeln verwendet, laut Konversationslexikon. Ich trat ins Zimmer und teilte besagten Umstand ohne weiteres dem Schlummernden mit, versuchshalber, aber der schmatzte nur mit den Lippen und ich blätterte missmutig noch eine Weile in meinem Wälzer. Man könnte wehmütig werden beim Gedanken, wie rührend, wie besänftigend ein atmender Mann in der stillen Wohnung bei besserer Gelegenheit auf einen wirkt. Nicht auf mich, nicht heute, nicht er, dessen fortgesetzte reglose Anwesenheit mich vielmehr nachgerade erbittert. Da liegt er, der Kindmann, halb rücklings, das Gesicht zur Wand gedreht, und schläft oder stellt sich vielleicht auch nur schlafend. Damit ich mich erweichen lasse und ihn nicht fortschicke? Eine Blüte aus dem Strauß auf dem Nachttisch ist aufs Laken neben sein schroffes Haupt gefallen und mein Marterhirn summt ein Wiegenlied, zum Hohn meiner Nerven. Er tut so als ob und ich, als ob nicht, denn was mich im Grunde zappeln lässt, ist nicht sosehr der Langschläfer als die Gefahr, dass plötzlich früher als angemeldet ein anderer kommt, auf den sein Anblick allerdings noch viel weniger besänftigend als auf mich wirken müsste. Der Mime seines Schlafs indessen wartet insgeheim nur darauf, dass ich mich schnell wieder zu ihm lege. Er spielt den Ermatteten, und ich vor mir selbst die Wankelmütige.

 

Das Gedächtnis der Möbel

Faslers Mobiliar ist vielleicht nur ein spätes Aufbegehren gegen seine Herkunft: insgesamt an Verwahrlosung grenzend, aus dem Müll gefischt oder sonstwie extemporiert. Kartonschachteln dienen als Bettstatt, eine ausrangierte Wäschetrommel wurde zum Tischfuss, ein von mir weggeworfenes Aquarell traf ich als Lampenschirm wieder. Assemblage eher als Meublement; dazwischen einige wenige Edelstücke aus dem väterlichen Geschäft. Fasler erwähnte einmal, es habe ihn halb gelächert, halb gekränkt, als ihn vor Jahren ein Polizist auf der Strasse kontrolliert und mit den Worten laufengelassen habe: »Ah, dr Suhn vom Möbuhändler.«

Warum gelächert, warum gekränkt? Schwer zu sagen, antwortete er. »Möbelhändler« habe für das moderne Einrichtungshaus ein wenig despektierlich geklungen, andererseits habe er sich nie als Stammhalter gefühlt. Er sei damals übrigens schon ausgezogen und im Begriff gewesen, die von Papa gespendete Ausstattung nach und nach, bei finanziellen Engpässen, abzustossen. Eines Tages habe er konstatiert, dass er im Sperrgut lebe. Was andere Leute kauften, sei ja oft a priori Schrott, und ihm sei es nie eingefallen, dafür auch noch Geld auszugeben.

So spricht Fasler, dem angeblich ein Leben im Hotel, à la Nabokov, als Ideal vorschwebt. Und doch verrät seine Möblierung, so notdürftig sie ist, gestalterische Neigungen, unprätentiös zwar, aber nicht bar der Koketterie. Einmal neckte ich ihn mit der Bemerkung, sein selbstgebautes Nachttischchen möchte wohl ein Rietveld sein; überhaupt erkenne man an jedem Detail den Junior des angesehenen Möbelhauses Fasler. Er rümpfte die Nase: »Ich bekämpfe meinen guten Geschmack«, brüstete er sich und verwies auf den bequemen Drehsessel, den ihm ein türkischer Tankwart überlassen habe. »Mit Benzindämpfen vollgesogen, zeitlos hässlich, wenn auch nicht unverwüstlich.« An den weißen Plasticwülsten hatte nämlich auch seine Katze Gefallen gefunden und daran ihre Krallen gewetzt, bis der Schaumgummi hervorquoll. Fasler hatte ihn behelfsmässig mit Klebefolie wieder zurückgedämmt.

Er sah das lädierte Stück, das ursprünglich in der Wartehalle irgendeines Flughafens gestanden haben mochte, mit Genugtuung an. Auf dieser grauenhaften Missbildung, sagte Fasler, habe er jahrelang seine Frauen bezirzt. Hätte ich ihn nicht schon früher gekannt, so wäre mir das Prozedere wohl auch nicht erspart geblieben. Als er dann geheiratet habe, sei dem Sessel eine neue Rolle als Austragungsort von Ehegezänk zugefallen. Jetzt, nach der Scheidung, habe er darauf oft stundenlang mit seinem Missgeschick gehadert, so dass er mir anhand dieses Möbels eine ganze Moral der Liebe exemplifiziern könnte. – »Ein andermal«, bat ich.

 

Sippschaft Welt

Ahnenkult, Familienbande, Erbauung an Schwägern, Tanten und Basen dritten Grades sind mein Fall nicht. Zufällig habe ich nun entdeckt, dass ich von allgemeinstem Geblüt bin; dass mein Stammbaum weltweit wurzelt, Raimundus Lullus einer meiner möglichen Vorfahren und ohnehin die ganze Erde eine Sippschaft ist. Die schlichte Logik erweist es. Wir stammen von unseren Eltern ab. Großeltern haben wir vier, Urgroßeltern acht, Ururgroßeltern demnach sechzehn; und nun rechne man die Reihe einmal weiter zurück, ausgehend von dreißig Jahren je Generation. Als Velázquez und Spinoza ihre Werke schufen, lebten 2048 direkte Vorfahren von mir. Die Million war zur Zeit des abendländischen Schismas erreicht, und bereits fürs Jahr 1099, als die Kreuzritter Jerusalem erstürmten, errechne ich – Irrtum, Inzucht und Vielweiberei vorbehalten – die Zahl von 1 073 741 824 Altvorderen, vermutlich mehr als die gesamte damalige Weltbevölkerung. Lässt sich daraus schließen, dass ich teils abstrakter, rein algebraischer Deszendenz bin? Ich will es gern glauben. Die Aussicht, einem Zahl gewordenen Paradox zu entstammen, einem desto vielstelligeren Nichts, je weiter ich ins Mittelalter zurückrechne, befriedigt mich ebenso wie eine Herkunft, an der mit mathematischer Unfehlbarkeit alle Individuen, Geschlechter und Rassen der damaligen Menschheit beteiligt waren. Ich ahne freilich schon, dass man meine Ahnentheorie als dynastische Schaumschlägerei und Milchmädchenrechnung abtun wird. Gegenbeweise, bitte.

 

Spleen der Dinge

Meine Seife ist lebensmüde. Heute unter der Dusche entglitt sie meinen Händen, um sich in den schwindelerregenden Abgrund, die weiß emaillierte Wanne, zu stürzen. Woher dieser selbstmörderische Impuls, dieser Lebensüberdruss mancher Gebrauchsgegenstände? Ein alltägliches Phänomen, und trotzdem hat ihm der Mensch bisher nicht die gebührende Beachtung geschenkt. Es gibt dazu keine Statistiken, keine Psychologie. Zu den am meisten suizidgefährdeten Dingen scheinen Wäscheklammern zu gehören. Auch Reklamebeilagen von Zeitungen, bei denen man immerhin verstehen kann, dass sie an sich selbst irre werden, sowie Geldstücke, die einem oft in dem Moment aus der Hand springen, wenn man sie weiterreichen will, gerade als ob sie des ewigen Umlaufs müde wären. Und jeder kennt die unappetitliche Art der Eier, sich ein Leids zu tun. Jetzt, im Sommer, bei offenen Fenstern, genügt ein Windhauch, schon lösen sich von den Wänden die Photos unserer Lieben, segeln zu Boden, »auf’d Erd«, wie der Wiener sagt, handelte es sich auch um einen ehrwürdigen Parkettboden, der in andern Zeiten schon den klirrenden Selbstmord einer wertvollen Porzellanvase erlitten hat, aus dem Besitz der Gräfin Urikow, deren Betrübnis entsprechend war.

Die meisten Verzweiflungstaten der Materie lassen uns ungerührt, einige haben indessen weitreichende Folgen. So entschloss sich neulich einer meiner Ohrringe, im Bett meines Liebhabers Schluss zu machen. Als ich am selben Abend des Verlustes inne wurde, war bereits die Gattin von Monsieur auf den entleibten Smaragd gestoßen und hatte Rechenschaft über seine Herkunft gefordert. Monsieur versprach Besserung und hat unsere Liebesnachmittage vorläufig suspendiert.

 

Geschichte der drei Geschichten

                                                                                           …une qui ne bouge, une qui respire et une qui s’agite.

Es waren einmal drei Geschichten, die wollten Gestalt werden, suchten sich eine jede ihr Element; aber so grausam wurden sie verheert, dass nur die Schatten einiger Metaphern von ihnen übrigblieben.

Die erste war ihm Feuer, vermottend, verröchelnd: »Ich wollte Fanale setzen. Verharrte dort, wo meine Empörung Glut geworden war, griff das Feuer auf, sengte um mich, bis ich von den Flammen verzehrt wurde, die ich meinem blinden Eifer angefacht hatte.«

Die zweite war im Wasser. Ihre Moleküle, aus denen sie sinnvolle Ketten hatte bilden wollen, waren zuletzt nur noch Spielbälle der Wogen. Ihr Plan hatte darin bestanden, das Glitzern der Sonne auf der Wasseroberfläche nachzuahmen, doch vermochte sie dem Sog der Tiefe nicht zu widerstehen, tauchte entkräftet wieder auf und zerschäumte im Gischt an den Klippen eines ungewissen Ufers.

Die dritte war in der Luft. Im Taumeln der Vögel sah sie eine Richtungslosigkeit, die immer zum Ziel führt. Für sie zählte nur die Vollkommenheit der Syntax, denn diese ist gewichtlos, so dass auch der Wind sie nicht davontragen kann. Beim ersten Zögern aber wurde sie von ihm erfasst und zerstob, und als er sich legte, war sie ebenso spurlos verschwunden.

Vielleicht muss eine Geschichte, um solchem Ende vorzubeugen, vom einen Element ins andere wechseln, der Reinheit entsagen und die Flucht vor ihrem eigenen Anspruch zum ersten Gebot machen.

 

Aleatoria

Die Dinge sind dazu bestimmt, einander zu begegnen, wäre da nicht der gemeine Zufall, der sie trennt und ihr natürliches Zueinandertrachten durchkreuzt. In der Geschichte eines Blicks fungieren die Stadt, ein Passant und ein Mädel, das von der Arbeit im Kleiderladen kam und gerade dem Metroeingang zustrebte. Man braucht kein Baudelaire zu sein, um in der Begegnung ihrer Blicke eine Kraft am Werk zu sehen, die den Atem der Zeit einen Moment lang stocken ließ. Das Trottoir spielte dabei die Rolle der Gottheit, die diesen Blicktausch dem trennenden Zufall entriss, freilich nur für die flüchtige Registratur im Buch des Ungeschehenen, denn während sich noch das Auge des Passanten mit lauterer Möglichkeit vollsog, war die junge Frau leichten Schrittes daran vorbeigehuscht und auf der Treppe zur Linie 4 verschwunden, wo sie kurz stehenblieb, um in ein Croissant zu beißen, das sie eben in einer Konditorei gekauft hatte. Schon spürte sie den Blick in ihrem Rücken nicht mehr, nicht das Zögern, als der Passant den Zufall herausfordern und der Ordnung zu ihrem Recht verhelfen wollte.

 

Testing Testing

Laut einer Langzeituntersuchung der University of W. sind medizinische Langzeituntersuchungen nicht so harmlos wie bisher angenommen. Die im reputierten Gay Scientific veröffentlichte Studie spricht von einer »Korrelation zwischen statistischer Flaumacherei und Erkrankungsgefahr. Letztere sei desto größer, je gläubiger die Ergebnisse wissenschaftlicher Abklärungen aufgenommen würden. Deshalb wirke sich auch die Flut von Warnungen und Ermahnungen, in die der Forschungsbetrieb für den Normalverbraucher münde, letztlich unheilvoll auf die Volksgesundheit aus. Als besonders anfällig hätten sich jene Versuchspersonen erwiesen, die sich vorwiegend mit ernährungswissenschaftlichen Hiobsbotschaften alimentieren. Das Erkrankungsrisiko der gewohnheitsmäßigen Biscuitesser in Galleta (Nebraska), die aus einer einschlägigen Untersuchung zur Kenntnis nehmen mussten, dass sie um 0,06 Prozent anfälliger für Herz- und Kreislaufstörungen sind als der Durchschnittsamerikaner, war drei Jahre später trotz schreckbedingter Abstinenz in Sachen Crackers auf 0,28 Prozent hochgeschnellt. Hingegen sollen jene Prüflinge, die von der betreffenden Studie nie etwas erfuhren, einstweilen sogar um 0,04 Prozent wohlbehaltener als der gesunde Rest dastehen, obwohl sie weiterhin unbekümmert Kekse, Waffeln und eine Art Schwarzwäldertorte – Hillbilly Creampuff – zu sich nahmen.

Seit immer weitere Bevölkerungskreise dem sogenannten Gesundheitsfimmel erlägen, sei die Nachfrage nach Horrormeldungen auf dem Gebiet der Ernährung sprunghaft angestiegen, stellt der Gay Scientific in seiner August-Nummer stirnrunzelnd fest. Und wirft abschließend, zumal inzwischen für so gut wie alle Substanzen der Nachweis ihrer langfristigen Unbekömmlichkeit erbracht sei, die Frage nach dem Sinn der fortgesetzten Verteufelung aller Genüsse auf. Der amerikanische Kongress will übrigens schon nächste Woche darüber beraten, ob und mit welchen legislativen Massnahmen die Veröffentlichung volkspsychopathologisch relevanter, d.h. potentiell gesundheitsschädlicher wissenschaftlicher Untersuchungen eingedämmt werden kann.

 

24 Stunden Mattscheibe

Was sind das wohl für Leute, die The Weather Channel schauen? Vermutlich solche, die barometrische Schwankungen in Guayaquil für eine Form von Kurzweil halten. Keinesfalls wollen wir den Belämmerungswert von ostwärts ziehenden Wolkenfeldern unterschätzen.

Irgendwie ist es schon witzig: die einen holen mit Trompetengeschmetter ihre Madonnen aus den Kirchen, um den Himmelsvater um etwas Regen anzuflehen, während die andern grandiose Sandsackprozessionen bilden, weil ihnen das Wasser bis zum Halse steht. Auch solcher momentane Überfluss wird allerdings künftige Kriege um das kostbare Nass nicht verhindern. Und dabei werden treue Zuschauer des Wetterkanals zweifellos einen Informationsvorsprung haben. Einen unvoreingenommenen Blickwinkel außerdem: so wie ja auch ein Wettersatellit zwischen Flüchtlingsströmen in Rwanda und touristischen Zusammenrottungen an der Costa del Sol nicht unterscheidet. Für ihn sind es lediglich Pixel, als horrende Menschenverbände in bewölkungsfreien Gebieten erkennbar.

Ich bin zur Zeit eines dieser Pixel an der Mittelmeerküste und ich freue mich darüber, dass es hier noch Menschen gibt, die an einem heißen Tag nicht müde werden, festzustellen, wie heiß es ist, ¡ay qué caló!, ohne sich deshalb ständig zu klimatologischen Verschwörungstheorien und Weltuntergangsszenarien bemüßigt zu fühlen. Die stabile Wetterlage lässt jeden in seiner eigenen süßen Apokalypse versinken. Wir brauchen hier keinen Wettermann, auch nicht den von The Weather Channel, to know which way the wind blows. Zumal gewöhnlich gerade gar kein Lüftchen weht. Geläutert im Sud, schlurfen wir gegen Abend in matten Scharen, mit geröteten Armen, mühselig und beladen mit unsäglichen Souvenirs, durch die Gassen; und werden dabei zusätzlich, mit stupender Regelmäßigkeit, von oben betropft. Unverbesserliche Romantiker unter den Feriengästen stellen sich dann jeweils eine greise, schwarzbestrumpfte Andalusierin vor, die eben die Kräuter auf ihrem Balkon gegossen hat. In Wirklichkeit sind es natürlich die Air-Conditioner, die mit der Luftfeuchtigkeit kämpfen, und mit denen sich die Eingeborenen vor ihrem gesegneten Klima schützen.

An einem solchen Hundstag ebnet die Hitze die üblichen Holprigkeiten des Tagesverlaufs gänzlich ein: alle Spitzen gebrochen. Von früh bis spät wie beduselt, darum spricht man ja auch von Traumferien. Eine Pizza zu essen, ist mindestens so anstrengend wie Volleyball am Strand oder ein Latin Lover. Selbst wenn man den Tag nur so verträufeln lässt, und dabei selber vergehen könnte, ist das immer noch eine unglaubliche Leistung. Einschlafen: eine Sisyphusarbeit. Genau wie The Weather Channel, ist man 24 Stunden mit dem Wetter beschäftigt. Daher bietet dieser Sender, der immer auch ein paar Kaltfronten auf Lager hat, im Grunde ein prima Kontrastprogramm.

 

Komm gib mir deine Hand

Ich hatte die Ehre und die Kühnheit, der deutschen Lebenskunst unter die Arme zu greifen. Eine haarige Angelegenheit. Dabei handelte sich lediglich um einen Artikel für die Zeitschrift Die Fettecke, die das leibliche Wohl der Bundesbürger auf ihre Fahnen geschrieben hat. Gibt es dieses Organ des Savoir-vivre zwischen Kiel und Koblenz wirklich? Nein, ich erfinde es hier frisch, fromm und fröhlich von der Leber weg, um mich nicht zuletzt noch in Rechtshändel mit der Redaktion zu verstricken. In Wirklichkeit war die Beleidigte ich, freischaffende Autorin und Verfasserin eines Beitrags, den ich selbst lieber nie mehr vor Augen bekommen hätte. Daher war ich ja auch zunächst dankbar dafür, dass ich nie ein Belegexemplar erhielt. Der Tag wird kommen, an dem ich an meinen Briefkasten schreibe: Bitte keine Werbung und keine Belegexemplare. Was zudem den Vorteil hätte, dass ich nicht sehen müsste, wie der jeweils zuständige Redakteur dem Text mitgespielt hat.

Nun erhielt ich einen Fax von der Redaktion der Fettecke und es stellte sich heraus: vorläufig gar nicht. Mein Beitrag war liegengeblieben. Dies obwohl es sich die Ressortleiterin Frau Dr. Kraut seinerzeit – vor mittlerweile zehn Monaten – nicht hatte nehmen lassen, die Entstehung der Reportage vor Ort, nämlich an den milden Gestaden des Mittelmeers, persönlich mitzuverfolgen. Unvergessen ist mir das Essen mit ihr und dem Fotografen F., als die Fachfrau für das gehobene deutsche Lebensgefühl sich doch tatsächlich für Lammrücken mit Himbeermarmelade entschied. Und als wir uns mitleidig erkundigten, ob sie auch schmecke, die Schmiere, erwiderte sie ungerührt: »Hervorragend!«

Aus dem Fax ging nun hervor, dass man sich bei der Fettecke endlich doch zur Veröffentlichung unserer Reportage entschlossen hatte. Aber irgendwie war mein Text für den deutschen Feinschmecker noch zu wenig sämig, bzw. er hatte nicht die erwünschte Schlabbrigkeit. »Wäre es nicht möglich«, so formulierte Frau Kraut ihren Überarbeitungswunsch, »den Leser bei der Hand zu nehmen und ihn ins Restaurant mitzunehmen«, anstatt ihm – wie es anscheinend bei der vorliegenden Version der Fall war – nur den Mund wässrig zu machen?

In Hamburg, wo die Redaktion der Fettecke zu Hause ist, klingt vielleicht immer noch das Echo der Beatles nach, die dort einst im Star-Club ihre Songs anstimmten. Es ist nie zu spät für einen Stilwechsel, und so rufe ich denn auch dir, Leser, bevor ich meinen Text für die Fettecke wieder aufwärme, versuchshalber zu: I wanna hold your hand! Lass uns Languste, überbacken mit Preiselbeeren, essen gehen!

 

Jeux interdits

Dieser Gitarrist beelendet mich. Er stellt sein mangelndes Talent vor einem Museum, an dem ich täglich vorbeikomme, unter Beweis. Gesegnet seien die Tage, an denen er darauf verzichtet, sein Instrument in aller Öffentlichkeit zu traktieren.

Es ist nicht Lärm, durch den er belästigt. Vielmehr wundert man sich, dass diese stumpfen Finger, wenn sie an den Saiten herumfummeln, der Gitarre überhaupt Klänge, eine Art musikalisches Gestotter zu entlocken vermögen.

So leise er spielt, mich nervt er doch. Am liebsten würde ich ihn mitsamt seiner Klampfe in den Koffer stecken, der für milde Gaben offensteht. Ich bin so intolerant, wie er talentlos. Wie edel käme ich mir vor, wenn ich wenigstens Mitleid für ihn aufbrächte. In einem Konzertsaal würde er zweifellos erbarmungslos ausgebuht. Hier jedoch nimmt das Publikum – Passanten und Touristen, die an der Museumskasse Schlange stehen – sein klägliches Spiel hin, ohne zu murren. Wer weiß, ob ihm der eine oder andere nicht sogar eine der Kassetten abkauft, die er unverfroren feilbietet. Dass ein Gitarrist nach jahrelangem Üben selbst an den Jeux interdits scheitert, scheint niemanden irrezumachen.

Die Jeux interdits, das ist jenes melodiöse Kleinod, dank dem sich jeder Anfänger auf der Gitarre nach zwanzig Minuten als kleiner Virtuose fühlen kann. Im Grunde gehört es, zumal man es bis zum Überdruss gehört hat, wirklich verboten. Eines Tages fiel mir ein, den Gitarristen zu fragen, was das eigentlich für ein wunderbares Stück sei, mit dem er uns täglich beglückt. »Ah, this one?«, tirilierte er. »For Elisa, by Beethoven.«

Ich sah ihn entgeistert an. Nichts in seiner Miene deutete darauf hin, dass er sich über mich lustig machte. Entweder ich hatte es mit einem Wahnsinnigen oder mit einem verkannten Genie zu tun. Vielleicht war dieses zögerliche, seine eigene Ungeschicklichkeit umrankende Gitarrespiel in Wirklichkeit hohe Kunst? Mein Stümper ein neuer Bill Frisell?

Verwirrt ging ich weiter, bis ich vor einem Warenhaus auf den nächsten Strassenmusiker traf. Er bearbeitete ein Roland-Keyboard, schwängerte die Luft in der Fußgängerzone mit Sachen wie Dr. Schiwago. Nicht ohne Rührung beobachtete ich, wie eine ältere Mitbürgerin sich diskret in seine Nähe stellte, um mit feuchten Augen der Schnulze zu lauschen.

Ein zynisches Bonmot besagt: Wer das Wort Kultur hört, zücke das Scheckheft. Eine Variante davon lautet: Wenn ich das Wort Kultur nur schon höre, greife ich zur Fernbedienung. Aber auf der Straße bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als einfach loszuheulen.

 

Der Nagellackentferner

Wir hatten einen Russischlehrer, Caporal-Raucher, der schnippte jeweils nach wenigen Zügen die Glut von seiner Zigarette und steckte den Stummel in seine Jackentasche, um ihn später fertigzurauchen. Er hatte die Gewohnheit, seine Schülerinnen zu bestrafen, indem er sie an freien Nachmittagen die Löcher stopfen liess, die er – bei aller Beherrschung der fingerfertigen Kunst – noch und noch in seine Taschen brannte. Es war immer der gleiche Fleck, und es entstanden allmählich in seinen Taschen Überlagerungen von Flickwerk, Verknäuelungen verschiedenfarbiger, mehr oder weniger geschickt verzwirnter und vernähter Fäden: a work in progress, invisible.

Er hatte es überhaupt in den Fingern. Im Seminar hatte er sich darin geübt, bis zu vier Zeilen in ein einziges Karo eines karierten Hefts zu schreiben. Seine Schrift war so mikroskopisch, dass ein einziges Notizbuch für mehrere Jahre reichte. Als es voll war, fiel ihm nicht ein, ein anderes anzufangen, sondern er radierte von nun an die alten Bleistifteintragungen Zeile für Zeile aus, um für die neuen Platz zu schaffen. Damit hatte er fortlaufend sein komplettes Buch, und wie in den Jackentaschen, waren es auch hier eine Art Palimpseste, deren Urtext allerdings höchstens noch in den Prägungen lesbar war, die der gut gespitzte Bleistift hinterlassen hatte. Dieses Individuum entführt uns auf Walsersches Bleistiftgebiet, und vielleicht fällt einem Duchamps Koffer mit den Miniaturen seines Gesamtwerks ein, oder jener Straßenkünstler, der deinen Namen in ein Reiskorn ritzt, das du dann in ein Vergrößerungsglas eingelegt mit nach Hause nimmst.

Als ich mit dem Nagellackentferner meine roten Nägel reinigte, erschien auf dem linken Ringfinger statt der rosigen Wölbung ein gräuliches Gekrakel. Unter der Lupe betrachtet, liess sich folgende Botschaft in Kyrilliza entziffern: »Ein guter Anfang! Weiteres auf dem rechten Daumen.« Dort entzifferte ich: »Caporal hatten doch eine gelbe Packung? Siehe Mittelfinger.« Dort hieß es: »Genug jetzt! Verschlucken Sie den Nagellackentferner.«

 

Fundbüro für Charaktere

Man nehme Mandeln, Zucker, Vanille, und erhält in Milch gekocht ein zartes Blanc-Manger. Aus denselben Zutaten, geringfügig modifiziert, lassen sich aber auch knackige Totenbeinchen backen.

Sie saßen beim Nachtisch, und anhand dieses Beispiels setzte er ihr seine Theorie des menschlichen Charakters auseinander. »Was wollen sie, all die verbissenen Selbstsucher, die ein Leben lang ihrer Identität nachgrübeln, um ihrem Wesenskern auf die Spur zu kommen? Der aber besteht eben aus den allgemeinsten Zutaten. Sagen wir, 150 Gramm Wurstigkeit und einer Prise Malice. Von Belang ist nur die Oberfläche. Trotzdem gibt es Leute, die schmoren in ihren persönlichen Anlagen, bis sie schwarz werden.«

Da hakte sie ein und gab zu bedenken, das Wesentliche eines Charakters seien wohl weniger die Ingredienzen, als was man daraus mache. So diskutierten sie angeregt, was denn Identität sei, und ob es so etwas überhaupt gebe, was er rundweg abstritt. Darüber wurde es spät; und als die Rechnung kam, bemerkte sie beiläufig, sie ziehe es vor, heute allein zu schlafen.

Dass er ein wenig betupft war, enttäuscht zweifellos, das konnte man ihm nachsehen. Er aber, der Charakterlose, wollte sich nicht vertrösten lassen. Und um sie umzustimmen, fiel ihm nichts Gescheiteres ein, als erst die Haltung und dann den Verstand zu verlieren.

Deregulierung ist ein wirtschaftliches Moderezept, und dieser Ultraliberalismus erfasste nun seinen Seelenhaushalt. Um es anschaulicher zu sagen: er kochte über, und anschließend blieben von ihm nur Krusten. Eine Art Kindgreis. Anscheinend appellierte er so an ihre mütterlichen Instinkte. Hilflosigkeit markieren! Die regressive Krampfader!

Im ersten Moment wollte sie ihn empört stehenlassen. Aber als sie auf dem Weg zum Parkhaus sah, wie sein Verstand an der Rolle abprallte, in die er sich histrionisch selbst manövriert hatte, begann sie sich für den Fall zu interessieren. Er stellte sich so gewissenhaft blöd, dass er nun nicht mehr herauskonnte. »Wehe mir, Wind!« – das war ungefähr das letzte vernüftige Wort, das aus ihm herauszukriegen war. Doch das himmlische Gebläse schwemmte immer nur dieselbe jämmerliche Facette an die Oberfläche dieses aufgewühlten Seelentümpels. Je länger er sich in die Rolle des Halbirren hineinsteigerte, desto irrer schien er wirklich daran zu werden. Als versuche er abzutasten, wie weit er sich gehenlassen konnte, bis sie ihn auffing; wie weit sie seine Selbsterniedrigung hinnehmen würde, ohne einzugreifen. Hätten sie in der kalten Winternacht irgendeinen Bekannten getroffen, so wäre er wohl augenblicklich, wie in eine Gussform, in sich selbst zurückgeschwappt. Das Schicksal war jedoch boshaft genug, eine solche Begegnung zu verhindern.

War Eingreifen, Einhalt gebieten nicht um so schwieriger, als dieses Selbst sich eben noch als null und nichtig, als vom Zufall fabrizierte Illusion definiert hatte? Da verlor sich ausgerechnet einer, der von »sich selbst« nichts hielt; der den zusammengepfuschten Charakter, an dem er wiedererkennbar war, leugnete und verachtete. Es müsste, überlegte sie, ein Fundbüro für Charaktere geben, wo der Ärmste sein gewohntes Temperament wieder abholen könnte. Fazit: alles wegen einer zuletzt ja doch gewährten Liebesnacht. Eine gewisse Leidenschaftlichkeit war ihm nicht abzusprechen.