Die grosse Sommerdebatte in Barcelona – sie hält weiter an – wurde vom Architekten Oriol Bohigas angerissen, der sich in einem Artikel in «El País» über die zunehmende Verwahrlosung seines Wohnviertels grämte. Wie schlecht sich die andern benehmen, davon kann ja fast jeder ein Liedchen singen, und so avancierte das Thema unter dem Stichwort «incivismo» zum Dauerbrenner, der bald auch die Stadtpolitiker beschäftigte. Rüpel und Schmutzfinken hat es freilich schon immer und überall gegeben, doch schienen sie sich – so sah es jedenfalls Bohigas – diesen Sommer gerade in der Umgebung seiner Wohnung auf nicht mehr tolerierbare Weise zusammenzurotten. Dazu muss man wissen, dass der Architekt vor Jahren sein Domizil an die Plaza Real verlegt hat, den schönsten, freilich nicht erst seit gestern auch belebtesten und lautesten Platz der Altstadt, rundum von Strassencafés und Clubs gesäumt und stets schon bevorzugter Aufenthalt auch von Individuen, die nicht derselben Gesellschaftsschicht wie Bohigas angehören. Diese wohnt üblicherweise in den ruhigen, höheren Stadtteilen und verirrt sich höchstens zum Opernbesuch in diese Niederungen.
Ist es denn in den letzten Jahren ärger geworden mit Wandalismus und Gammlertum, mit dem Dreck und dem Lärm? Ein bisschen schon, das ist kaum zu bestreiten. Barcelona preist sich selbst als leichtlebige und tolerante Stadt, und damit zieht es auch scharenweise Touristen an, die nicht in Viersternehotels absteigen und sich hier in erster Linie amüsieren wollen. Wenn es üblich geworden ist, dass ganze Flugzeugladungen aus Bradford oder Liverpool zum Polterabend Kurs auf Barcelona nehmen, weil sich’s dort so schön feiern lässt, kann man nicht erwarten, dass sie dann an den Ramblas nicht Rambazamba machen. Gerade als Musterknaben gebärdet sich freilich auch die einheimische Jugend nicht durchweg. So kam es diesen August beim Quartierfest von Gracia, dem grössten und beliebtesten der Stadt, spätnachts mehrmals zu schweren Ausschreitungen, weil sich ganze Horden nicht damit abfinden wollten, dass die Party jeweils um drei Uhr vorbei ist, damit die zehn Tage lang dauerbelärmten Anwohner auch einmal zum Schlafen kommen.
Gewiss, nicht jeder empfindet dasselbe als störend. Ich habe es immer als rührend empfunden, nachts in den Vorräumen von Banken und Sparkassen Obdachlose lagern, ihre Joints rauchen oder sich vielleicht sogar lieben zu sehen; andere finden es vielleicht eher anrüchig als anrührend, in solcher Gesellschaft an den Geldautomaten zu treten. Hingegen hört bei mir der Spass auf, wenn sich sämtliche Familienväter am Sonntag zur selben Stunde verschworen zu haben scheinen, ihre Lieben im Auto Richtung Hafen und Strand zu chauffieren und dann im Stau unter meinem Fenster ein Hupkonzert loslassen.
Die Diskussion darüber, was tolerierbar ist und was nicht, wer die wirklichen Rüpel und Störefriede sind, ob und wann die Ordnungskräfte durchzugreifen haben und ob Barcelona sich dieses Problem mit seinen Bemühungen um ein Image als lebensfrohe Stadt selbst eingebrockt hat, wird weitergehen. Denn sie tangiert nicht nur Bereiche wie den der Erziehung und der Kanalisierung des Tourismus, sondern führt direkt zu Fragen wie: Ist das Überborden die logische Folge dessen, dass Barcelona den öffentlichen Raum zu seinem Liebkind gemacht, gehätschelt und dafür ja auch viel Lob eingeheimst hat? In welchem Masse darf eine Stadt sich selbst zur Dauerkirmes stilisieren? Ist die von Amtes wegen geförderte Eventkultur, bei der kein Wochenende ohne irgendeinen Volkslauf oder ein Festival vergeht, an der Verluderung der Sitten zumindest mit schuldig?
Während ich dies tippe, ertönt von fern das Geböller eines Feuerwerks. Dieses Wochenende wird ja die «Mercè» gefeiert, das Stadtfest par excellence, mit Hunderten von Konzerten, vom Auftritt der Blechkapelle bis zum Rave im Morgengrauen auf dem Forumgelände. Millionen besinnungslos durch die Strassen torkelnder Menschen, und ich will es gern zugeben: auch ich befand mich heute früh um sechs, und liess dabei erst noch mehrmals schallendes Gelächter ertönen, auf dem Heimweg durch die aus tausenderlei blechernem und gläsernem und papierenem Mülll bestehende Hinterlassenschaft des Festes, Uringerüche einatmend und den Weg mir bahnend zwischen den Equipen des städtischen Reinigungsdienstes, der den netten Namen BCNeta trägt.