Barcelonas Suburbia verleiht dem Flamenco neue Impulse
Andalusien ist die Heimat des Flamenco. Nur dort ist diese Musik im Alltag verwurzelt. Als Produktionszentrum hat sich zwar Madrid etabliert. Die Flamenco-Neutöner aber kommen seit einiger Zeit aus dem fernen Katalonien: aus den Immigranten-Vorstädten Barcelonas.
Touristen decken sich in Barcelona am liebsten mit Barça-Trikots oder mit mexikanischen Strohhüten ein: Hauptsache, das Souvenir ist spanisch. Natürlich können sie hier auch ganz konventionelle Flamenco-Shows besuchen. Das finden wiederum manche Katalanen so deplaciert wie den breitkrempigen Sombrero. Ihres Erachtens hat Flamenco mit katalanischer Kultur nichts zu tun. Doch darin irren sie.
1913 wurde in einer Hüttensiedlung am Strand von Barcelona eine Tänzerin geboren, die von Paris bis Buenos Aires zur Legende werden sollte: Carmen Amaya. Der Spielfilm «Los Tarantos» (1963), in dem sie die Hauptrolle spielte, ist die unübertroffene Schilderung der zigeunerischen Flamenco-Kultur Barcelonas. Dem katalanischen Nationalismus aber war diese seit je suspekt. «Gauklermädchen mit heiserer Nachtstimme, verkommene Flamenco-Brut», schimpfte der Dichter Santiago Rusiñol um 1900. Dennoch blieb Flamenco in Barcelonas Hafenviertel lebendig. Die Musiker, die heute Furore machen, stammen indessen aus der Peripherie: Sie sind Töchter und Söhne jener südspanischen Einwanderer, die durch ihre Zahl – über zwei Millionen – das Wunschbild einer rein katalanischen Kultur ad absurdum führen.
Niemand hat dem Flamenco mehr Schaden zugefügt als der Franquismus – indem er ihn zur spanischen Nationalfolklore erhob. Das mag mit ein Grund für die stiefmütterliche Behandlung sein, die die neuen «flamencs» von den katalanischen Kulturbehörden erfahren. Aussenseiter aber sind sie in doppelter Hinsicht: Auch das unheilbar narzisstische Andalusien begegnet ihnen mit Argwohn. Denn die andalusische Regierung masst sich heute allen Ernstes «die exklusive Kompetenz in Sachen Kenntnis, Bewahrung, Erforschung, Unterrichtung und Verbreitung» dieses Musikstils an.
Facetten des Ewiggleichen
Miguel Poveda, Ginesa Ortega, Duquende, um nur drei Namen zu nennen: Sie alle sind nach 1965 geborene barcelonische Vorstadtkinder, die dem Flamenco in letzter Zeit mehr Impulse verliehen haben als seine andalusische Wiege oder sein kommerzielles Zentrum Madrid. Eine Erklärung dafür liefert eben ihre Herkunft: nicht in jenem Teig aufgewachsen zu sein, in dem der Flamenco den Alltag so sehr durchdringt, dass er an sich selbst erstickt. Die katalanischen Andalusier haben allein hingehört: eigenbrötlerische Kinder vor ihrem Plattenspieler.
Miguel Poveda, 1973 in Badalona geboren, sog sich von klein auf mit den Klassikern des Genres voll. Schon auf seiner zweiten CD, «Suena flamenco», traute er sich eine Hommage an Manolo Caracol und dessen bis heute populäre «zambras» zu. Zugleich aber versuchte niemand entschlossener als Poveda, die Tradition zu durchbrechen, deren selbsternannte Hüter für ihn nur «Dinosaurier» sind. Als Zwanzigjähriger hatte er den massgeblichen Nachwuchswettbewerb «Cante de las Minas» gewonnen, zuvor eine rein andalusische Domäne. Wenig später debütierte er im Kino unter der Regie von Bigas Luna. 1998 engagierte ihn der katalanische Regisseur Calixto Bieito für seine am Theaterfestival in Edinburg uraufgeführte Inszenierung von «La vida es sueño». Fast obsessiv erweiterte Poveda seine musikalischen Horizonte. Er liess sich vom Orquestra Simfònica de Barcelona begleiten, sang mit den Voix Bulgares, trat mit einem Tango-Orchester auf, machte sich die katalanische Poesie gefügig und vertonte mit Enric Palomar die im argentinischen Exil entstandenen Gedichte Rafael Albertis. Auf seiner jüngsten Platte, «Tierra de calma», hingegen kehrt er zum Flamenco in seiner reinsten Essenz zurück. Einige seiner Experimente unternahm Poveda gemeinsam mit Enrique Morente, der seit dem Tod Camaróns als grösster Flamenco-Sänger gilt. Aus Granada gebürtig und dort bis heute wohnhaft, fühlt sich Morente in Barcelona musikalisch buchstäblich «entfesselt». Schon 1992 war er hier mit Max Roach aufgetreten. Versuche zur Fusion mit dem Jazz gingen im Übrigen wiederholt von Carles Benavent aus, der den Elektrobass in den Flamenco eingeführt hat.
In der Musik von Miguel Poveda präsentiert sich der Flamenco in einer hochgezüchteten Form. Duquende hingegen sieht sich als Bürge eines authentischen Flamencos – ein ungeschliffener Diamant. Zwar ist auch er musikalischen Aventüren nicht abgeneigt, einige davon hat er mit Poveda geteilt. Aber wenn Poveda-Hörer wie Dunhill-Raucher sind, dann klingt Duquende wie Ducados: schwärzester Tabak. Allein die Rivalität dieser Sänger straft jene Lügen, die im katalanischen Flamenco ein homogenes Produkt wähnen. – Wie aber soll man Ginesa Ortega einordnen? Einst wurde sie mit der für rabiates Körpertheater bekannten Gruppe La Fura dels Baus bekannt. Inzwischen hat sie gelernt, ihre trotzige Anmut auch in Begleitung eines Kammerorchesters zur Geltung zu bringen.
Das Sprungbrett für Ortega und Martín, auch für Poveda und Duquende, war das Flamenco- Lokal «El Tablao de Carmen». Ebenso wichtig für viele der erwähnten Musiker war auch das «Taller de Músics»: Schule, Management und Plattenlabel in einem, vor allem aber Begegnungsstätte für in Barcelona ansässige und durchreisende Musiker verschiedenster Stilrichtungen. Es gehe ihm nicht so sehr um die Vermischung der «músicas», sondern der «músicos», sagt Lluís Cabrera, Gründer und Leiter dieser privaten Institution, die seit 1979 Flamencos und Jazzer, kubanische, brasilianische und afrikanische Musiker miteinander in Kontakt gebracht hat.
Schummrige Lokale
Die Flamenco-Szene Barcelonas hat eine unbestrittene künstlerische Ausstrahlung erlangt. Daheim treten die Poveda, Ortega und Duquende längst im prunkvollen Palacio de la Música auf. Dem Flamenco angemessener sind freilich nach wie vor kleine, schummrige Lokale. Auch an ihnen fehlt es in der Stadt nicht. Fast zufällig gerät man hier mitunter in die Auftritte jüngerer Künstler: im «CCCB» in den rüden, aber publikumswirksamen Flamenco-Hip-Hop von Tío Carlos, im Rahmen eines seit dreizehn Jahren vom «Taller» organisierten, stets überlaufenen Festivals. Und am Strand der Barceloneta am traditionellen «Somorrostro»-Abend in den von Montse Cortés: Man wähnt sich in einem Studio des andalusischen Canal Sur – so geschliffen, fast geschleckt ist die Darbietung dieser hochtalentierten Sängerin. Doch Montse Cortés stammt aus La Mina – Barcelonas Elendsviertel par excellence. Ihr erstes Idol sei Michael Jackson gewesen – bis sie die Videos von Camarón de la Isla sah: «Er legte seine ganze Pein in seinen Gesang. Bald süss und huldvoll, bald ganz das Gegenteil.» Gefühle, die in Barcelonas Suburbia genauso wie im tiefen Andalusien zum Ausbruch – und zum Ausdruck – kommen können.
Markus Jakob
Miguel Poveda: Tierra de calma; Desglaç (beide Discmedi/ Musicora). – Duquende: Mi forma de vivir (Exil/Indigo). – Ginesa Ortega: Flamenca (Picap / Galileo Music).