ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Das doppelte Tanger, darin: Bruderers Fiasko

1

Es war an Bord der »Boughaz«, auf der Überfahrt nach Tanger. Ich hatte die Bekanntschaft der Dame (aus Nizza, unterwegs nach Casablanca) bei der Einschiffung in Algeciras gemacht. Nun saß sie ränkereich, spionageromanwürdig in der Bar und ich lud sie tunlicherweise auf ein Glas ein. »Da Sie sich sonst zu langweilen scheinen…«, gab sie meinem Begehren schnippisch statt. Kaum war die Konversation eingefädelt, wurde mir wirklich öd. Ich hatte mir das Schiff noch nicht angesehen; möge Madame mich einen Moment entschuldigen…

Die »Boughaz« hatte etwas von einem kolossalen, leidlich verwahrlosten Boudoir zur See; noch die Schottennieten erinnerten an Verspieltes, Verworfenes. Falls es die einem derartigen schwimmenden Tingeltangel entsprechende Spezies Passagiere je gegeben hat, dann gewiss nicht die paar Marokkoreisenden dieses Winterabends. An Deck war niemand. Im purpurn schimmernden Dancing saßen drei branntweinselige Gesellen und quasselten, zum Thema Valuta und Weltmärkte, um die Wette: »Chchwässnöch, op Se Goldvreneli kchenne?« krakeelte der eine, ein Fahrgast aus der Schweiz; die Deutschen beharrten auf Krugerrand.

In der Bar war inzwischen der nächste Sinnenmensch der kniefreien Ausstrahlung meiner Reisebekanntschaft erlegen und hatte mit ihr angebandelt. Ein Journalist, Bruderer mit Namen, der ihr, indes sie prüfend ihr in der Hors Taxe Boutique erstandenes Miss Dior versprühte, eifrig die Motive seiner Reise auseinandersetzte. Er sei beauftragt, Tanger als Drehscheibe der Emigration zu ergründen. »Boat people, Schlepper, Dunkelmänner… Halten Sie sich die Lage der Stadt vor Augen: am Schnittpunkt zweier transafrikanischer Routen, von Osten her durch den Maghreb, von Süden her über Lagos, Abidjan, Dakar… Überlebende aller Kriege, Massaker und Hungersnöte des Kontinents raffen sich hierher auf, gewillt, nach Europa überzusetzen. Niemand wird je genau wissen, wieviele von ihnen bereits in dieser Meerenge« – er deutete in irgendeine Richtung, zumal das Meer uns auf allen Seiten umgab – »elendiglich ertrunken sind.«

Madame gähnte, schlang ihr knisterndes Hermès-Foulard um die Schultern und bemerkte, backbord rückten die Lichter der Stadt näher. »Tausend Tote, laut einer Schätzung des Monde diplomatique«, ergänzte der Reporter und leerte seinen Gin Tonic. Im Gedränge bei der Gepäckausgabe verloren wir uns aus den Augen. Das Portierskollektiv kam blaugeschürzt und mit Wollkappen angetan aus einem Kabinengang getrabt und ich sah nur noch, wie sich einer von ihnen in diesem albernen Aufzug der beiden voluminösen Koffer der Dame aus Nizza annahm.

 

 

2

Ich habe sie nicht wiedergesehen (sie stieg im Intercontinental ab); Bruderer hingegen (der mit dem Continental Vorlieb nahm) begegnete ich bereits am nächsten Morgen im Café de France. »Das kann ja heiter werden«, sagte er. »Ich bin schon mal fast nicht an Land gekommen!«

Er hatte es eilig, seine Geschichte loszuwerden. »Wie sind bloß«, wollte er wissen, »all die andern Fahrgäste zu ihrem Einreisestempel gekommen, der mir am Zoll gefehlt hat?« Ich äußerte die Vermutung, er sei in sein Gespräch mit der Dame sosehr vertieft gewesen, dass er die Zöllner und die Zöllner ihn übersehen hätten. Er nickte beschämt. Jedenfalls, während alle andern Fahrgäste längst von Bord gegangen wären, sei er dort über eine Stunde zurückgehalten worden und seine prächtigen Vorsätze betreffend Geduld und entschlossenes Auftreten seien allesamt bereits bei der Ankunft über den Haufen geworfen worden. Der bewusste Stempel sei nämlich nicht mehr aufzufinden gewesen. Bis endlich einer, als schwenke er eine Trophäe, damit an ihm vorbeigetrabt und gleich wieder verschwunden sei, worauf es eine weitere halbe Ewigkeit gedauert habe, ehe ihm sein gestempelter Pass ausgehändigt worden sei, eben als er in seinem aufgestauten Ärger am liebsten die Rückreise angetreten hätte. Sofort habe jedoch ein Dienstmann, écrivain public laut der Plakette auf seinem Revers, seinen Koffer ergriffen und sie seien an Land gegangen; allerdings nicht weiter als bis zu einem Tor, wo ihnen im diesigen Licht der Hafenscheinwerfer ein Uniformierter, ein wahrer He-Man mit seinem knochigen, von einer fabelhaften Mütze beschatteten Gesicht, gebieterisch den Weg versperrt und sich erst nach ausdauernder und reichlich unwirscher Diskussion mit dem écrivain public bereitgefunden habe, sie gütigst hinaus- bzw. hereinzulassen. »Dabei ist ausgerechnet und ironischerweise«, fügte Bruderer hinzu, »mein Kontaktmann in Tanger ein gewisser Bachir, Chef des Douanes du Port. Wer weiß, ob es nicht der Scherge selbst war. Mir war freilich nicht danach zumute, meine Recherchen unter so misslichen Umständen aufzunehmen.«

 

 

3

Tanger spielte mir seine Doppelfratzigkeit vor. In der Medina zuerst: Irreführerisches, von plötzlichem Getuschel durchstreiftes Labyrinth, das unversehens wieder in eine der bettlergesegneten und bazarverschlackten Touristentraufen mündet. Später, vom Gebirge des Barrio California aus, blickte ich zwischen weit verstreuten, hochumfriedeten Villen auf das weiß auf weiß flirrende Kaleidoskop zurück: geometrische Delirien, nischen- und lukenlöcherige Parallelepipeden, Würfel, Prismen; Minarette. Ein andermal kam ich nach Casa Barata, gerade als Schulschluss war: nie zuvor habe ich eine so bestürzende Menge Kinder gesehen, wimmelnde Zukunft. Auf einem Grat standen Schafe, bereit zur Schlachtung, die Szene gehörte schon zum Markt, der in einem wabernden Staubschleier, unerforschlichen Gesetzen gehorchend, weit über wildbuckliges Gelände ausgebreitet lag: Schrottkonglomerate, Safranhalden, Rezitativ eines Wunderheilers, härene Gewänder, und gleich neben diesem vielfältigen Treiben eine Geisterstadt, die einförmige Gemeindeanlage mit ihren endlosen Reihen verriegelter, leerstehender Buden und Werkstätten; wer vermöchte schon Miete zu bezahlen. Geschwind flicht und frisst sich so Tanger um seine topographischen Fügungen, über sein Hinterland. Und zwischen der Medina und den im Westen sehr reichen, nach Südosten hin armen Auslegern, die Stadtmitte mit ihren trügerischen, Europa vorgaukelnden mehr als wirklich seine Lebensart erweisenden Geschäftsstraßen.

Das war nicht mehr die undurchsichtige, wiewohl überschaubare urbane Faktorei für Machenschaften und Ausschweifungen, wie sie die Literatur anbietet, ja nicht einmal die kleine, hybride, höchst leistungsfähige Raffinerie zur Schärfung oder zur Edeltrübung gewisser Bewusstseinslagen. In den frühen fünfziger Jahren, den letzten des internationalen Tanger, machten Europäer die Hälfte der Bevölkerung aus. Heute bleibt nur ein winziger Bruchteil davon. Kosmopolitisch abgehalftert (selbst Strandtouristen wirken wie Verirrte), und das vorletzte Gebrabbel verspäteter Kolonialexistezen, bevor alle Fremdsprachen von Berberdialekten und der arabischen Hochsprache ausgebootet werden. Ort voller Nachwehen, Epigonin ihrer selbst und gleichwohl, paradoxerweise, kein Ort der Wehmut. Vielleicht war auch die Vergangenheit nichts weiter als ein Deal.

Tanger der Goldesel, mit karthagisch-römisch-arabischem, weiter portugiesisch-englischem, undsoweiter, Stammbaum, nebenbei durch eine Reihe Nachrufe zu Lebzeiten, Werke von Rang dabei, literarisch geadeltes Renditeobjekt in bevorzugter Lage. – Bruderer sah sich die Stadt jetzt unter diesem Gesichtspunkt an: als Umschlagplatz. Handel mit Drogen und mit Menschen, fatalerweise den zur Zeit einzigen Waren, die vom freien Spiel von Angebot und Nachfrage ausgeschlossen sind, bei denen kein wirtschaftlich noch so liberaler Staat auf die selbstregulierenden Kräfte, auf jene Vernunft des Marktes vertraut, auf die man sich sonst so gern beruft. Schmugglerhochburg und Schieberheimstatt, Schlupfloch ins Abendland, Vorposten der clandestins, der Illegalen… Tanger-Tarifa, 13,7 Kilometer: das spanische Ufer ist aufreizend nahe. Eine giftige Narbe, so hat es der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo im Groll auf seine Heimat genannt, nachdem er in umgekehrter Richtung emigriert war. Aber diesen Küstenstreifen in Tanger täglich vor Augen zu haben, kann auch eine Verheißung sein. Wer will, der mag in jedem Asphaltspucker den nächsten Auswanderer sehen, einen, der nur darauf wartet, eines Nachts seiner eigenen Bummelei und einer dumpfen Aussichtslosigkeit zu entrinnen.

 

 

4

Der Reporter ließ sich gerade von einem Fremdenfänger in eines der Nachtlokale verfrachten, die früher für Tangers guten schlimmen Ruf zuständig gewesen sein mochten. Schon von weitem hörte ich ihn zetern, weil ihm gleichzeitig, während er seinen unerbetenen, höhere Entlöhnung heischenden Cicerone beschwichtigte, ein missratenes Kind ein Bein stellte. Galgenstrick, du! halbwüchsiger Laffe! – »Und wo hast du dir deine Frisur geholt?« fragte ich den Bedauernswerten, denn sein Haupt zierte jetzt eine blamable, wie soll man sagen, Antizyklon-Tolle. »Jener Nacht-Barbier, vorhin«, knurrte er. »Nebenbei kneten sie dir das Gesicht durch, dass man sich bei einem narkosefreien Lifting wähnt. Soso, die Wohltaten Arabiens!«

Das Etablissement war auch nicht dazu angetan, ihn milder zu stimmen. Tausendundeine Nacht, nur roch der Koutoubia Palace nach Lauge und war so gespenstisch leer, dass man in der einhelligen Erstarrung gleichsam zeitverschoben, fern dort auf der Bühne als wie einen Spuk, die Combo erblickte, deren betäubendes Schrillen bald abbrechen sollte: Pause. An der Theke schmollten zwei gefallene Mädchen; an Bruderer nagte ein anderer Kummer. Seine Reportage sei ein Fiasko. Halb so wild, dieses Tingis-Tanja-Tanger; de facto herrsche der Belagerungszustand. Marokko sei bekanntlich letzten Herbst, im Anschluss an das spanisch-französische Gipfeltreffen, unter Druck gesetzt worden, dem Unwesen des Menschenschmuggels einen Riegel vorzuschieben, diesem sehr alten, nun jedoch grassierenden und von Europa mit zunehmendem Missbehagen beobachteten Phänomen, zumal grausig verunziert durch die reihenweise an die andalusischen Strände geschwemmten Leichname verunglückter Passagiere. Eben jener gewissenlos von Schlepperbanden auf jämmerliche, zum Kentern prädestinierte Barkassen gepferchten Auswanderer, deren Luftschlösser sich ins Massengrab der Straße von Gibraltar verwandelt hätten. Hassan II. habe geschaltet, und wenn der König gebiete, es lege kein Kutter mehr ab, dann lege in Gottesnamen keiner mehr ab. In Tanger spiele ein neuer, über Nacht von Haus zu Haus berüchtigter Polizeichef, Colombo bespitznamt, den wilden Mann, den frisch berufenen Zuchtmeister. Die Küste in ihrer ganzen Länge werde von mehreren tausend eigens abkommandierten Soldaten überwacht, womit gleichzeitig, zur Genugtuung der Europäer, der Drogenhandel erschwert werde; mindestens ein Viertel des in Europa konsumierten Haschischs stamme nämlich aus Marokko. Er, Bruderer, sei heute per Taxi zum Kap Malabata hinausgefahren und an den Strand zu einem der urzeitlich anmutenden Camps hinuntergestiegen, wo die Meeresbreiten nach verkappten Ausreißern und Schleichhändlern abgesucht würden. Von den vermummten, feldstecherbewehrten Soldaten sei er, wie anders, abgewiesen worden. »Pas de photos«. Secret militaire. Überhaupt komme er sich mit seiner Kamera hier wie ein öffentliches Ärgernis vor. Ein photoscheues Volk, diese Marokkaner; sicher aufgrund des Bilderverbots im Islam, sofern es nicht sogar darauf zurückzuführen sei, dass sich die Mohammedaner vom Westen sowieso verschaukelt fühlten. – Wie dem auch sei, ihm werde sein Auftrag allmählich zur Last. Allenthalben ein Leerlauf. Mal für Mal der unvermeidliche, ach so bedeutsame männliche Händedruck, und umso dürftiger dann die Auskünfte der Leute. Aus der Kolonialzeit, dies nur nebenbei, seien den Marokkanern anscheinend ihre Sprachkenntnisse weniger geblieben, als die Untertanen-Unart, solche zu heucheln.

Unsere Verständigung litt auch, seit das infernalische Musikgeplärr wieder eingesetzt hatte. Wir wechselten die Bar, und Bruderers Bericht nahm seinen Fortgang. Ein roher, gebieterischer Wind habe an der Küste geweht. Er habe im kalten Grimm dieser Böen, eine jede nachdrücklich wie ein Ultimatum, einige Charakterspuren Tangers gefunden. Der Mensch werde einfach verrückt in diesem Gebraus, rein durch den Fanatismus, die blindwütige, ausdauernde Meuterei der Luft. »Im örtlichen Irrenhaus sollte ich mich umsehen, da lauert vielleicht der Scoop schlechthin. Wenn dann auch«, gab schon gleich seine im voraus gekränkte Berufsehre zu Bedenken, »immer schon einer vorher dagewesen sein wird. Und Narren haben wir eigentlich in der Medina zur Genüge.«

Bruderer verhaspelte sich in seinen eigenen Gedanken und ich lenkte ihn auf sein Thema zurück. »Nun muss ja ein neuer Typus des Tangérois im Entstehen begriffen sein, der antéclandestin oder im Vorstadium, an Land nämlich steckengebliebene, unvollendete Auswanderer. Die tappen jetzt wohl hier im Dunkeln.« »Aha«, sagte er dunkel. »Medina, Tollhaus und Beinhaus in einem.« »Wie meinst du?« Und von neuem begann mit schleppender Stimme der Zeitungsmensch zu referieren. Es wären einmal, in Razzienserien, die einschlägigen Pensionen samt und sonders dichtgemacht worden. Colombos Männer hätten den Petit Socco genommen, wo die Schieberei, der infame Wucher mit Drang und Not konzentriert gewesen wären. Der Wandertrieb: participation mystique. Hier seien es in der Mehrzahl Maghrébiens gewesen; zu einem Viertel auch Schwarze, aus Kamerun, Senegal, Mali; Äthiopier et cetera. Alles um den Petit Socco versammelt. Auftritt die Obrigkeit, schwupps sei er ausquartiert, der schwarze Mann, und in der Versenkung verschwunden. Ob ich hier auch nur einem dunkelhäutigen Menschen begegnet sei? Er habe in einem peripheren Stadtteil einen aus Togo getroffen und angesprochen, ihn jedoch mit seinen naseweisen Journalistenfragen nur eingeschüchtert. Die Schwarzen hätten auch allen Grund zur Vorsicht. Denn wer nicht das Privileg gehabt habe, vom Fleck weg abgeschoben zu werden, der sei mit seinesgleichen in einem Internierungslager gelandet, in Tangers alter Stierkampfarena. Der Torwächter dort, der ihn für einen Anwalt von Amnesty International hielt, sei allmählich aufgetaut und habe ihm kaugummikauend und gewissenhaft die Haftbedingungen genannt: eine Stunde Arena, 23 Stunden Verlies. Zur Zeit seien 150 Häftlinge da, darunter sieben Frauen, immer laut dem schwarzledernen KZ-PR-Mann; in der Stadt habe er zehnmal höhere Schätzungen gehört. Heute gerade, so wieder der Büttel, sei ihnen das nächste Kontingent, vierzig aus Spanien abgeschobene

Männer, in Aussicht gestellt worden, eh bien. Im Frühling gehe es dann wieder hoch her, Fez und Frohsinn im Palais des Congrès, als der diese Arena gleichzeitig diene. Unten werde gefeiert, und die Neger oben könnten dem Allotria lauschen, so habe er ihm die Hackordnung der Völker verdeutlicht.

»Warst du drinnen?« – »No way. Marokko hat zwar in Sachen Menschenrechte keinen besonderen Ruf zu verlieren, aber das hier riecht sowieso nach diplomatischen Scherereien. Nicht präsentabel, auf jeden Fall. Und seltsam, da steht man direkt vor diesem jüngst geschaffenen KZ. Sieht nichts, hört nichts, die Wache feixt und der pflichtgetreue Journalist in dir lockfummelt diskret an seiner Brieftasche, um doch vielleicht noch wolkigen Blick auf Karzerbrüder werfen zu dürfen. Abgebrochener Eintrag.« Bruderers Moral war hin. Das sei alles längst durch die Presse. Später zwar, sofern sich die Vorheimlichen, die anté-clandéstins, wie ich sie nannte, in Tanger immer weiter stauten, und wenn erst die Metamorphose der Stadt vom Brückenkopf in einen Wasserkopf abgeschlossen sei: dann werde es Zeit für ihn, wiederzukehren.

»Doch die Zeit in Tanger ist unberechenbar«, fuhr er fort. »Zwei Tage sind wie zwei Wochen, und zwei Wochen, wer weiß… Heute ging es mir durch den Kopf, Colombo den Scharfmacher zu interviewen. Aber dann überlegte ich, wie lange ich nur schon auf das Placet aus Rabat warten müsste, bloß um mich von einem Polizeichef zum Narren machen zu lassen.« – »Und warum nicht von einem hohen Herrn der Gegenseite?« – »Welche Seite der Gegenseite? Haschisch oder Heimliche? Die Drahtzieher sind alleweil dieselben. Drogen sind der fettere Happen als ausgemergelte Flüchtlinge, nehme ich an. Aber das Barkassenbusiness war auch nicht zu verachten, solange es auf Hochtouren lief. Zeitweise kletterte der Fahrpreis für die Vabanque-Überfahrt auf tausend Dollar; da ist die Million im Nu gescheffelt. Als legaler Passagier, auf der ›Boughaz‹ zum Beispiel, schippert man für 5000 Peseten über die Meerenge.« – »Du bist lebensmüde: willst deine Nase in die Angelegenheiten dieser Mörderbanden stecken, bloß um herauszufinden, dass in der Garage des Erzhalunken eine Menge dicker Autos stehen? Dass er feine Zigarren raucht und im übrigen einen schrecklichen Geschmack hat? Schaff dir, das ist vorsichtiger, einen Coffee-Table-Band über Tangers Villenkultur an, wenn du den Lebensstil sehen willst, die ganzen lambrequin- und bibelotstrotzenden Gemächer, manche fast so überladen wie die Barkassen, an denen sich dein möglicher Mörder gesundgestoßen hat… Zugegeben, auf dem Bild fehlt der Erzhalunke. Aber wen interessieren schon Erzhalunken?«

 

 

5

Nur nicht wankelmütig werden, nur nicht in unserer Ratlosigkeit zu Paul Bowles pilgern, dem Tanger-Faktotum und etwas morsch gewordenen Idol der Demi-Bohème. »Ist es nicht schleierhaft, wie ein Mythos entsteht? Die ganzen Beatniks, deren gefeiertes Relikt Bowles ist, zog es einiger Ingredienzen wegen hierher, die aus heutiger Sicht doch eher trivial anmuten. Tanger war billig, verkifft und knabenliebreich. Marokko war für sie lediglich Staffage, die Marokkaner hatten mit der Rolle des Packesels oder Leibjägers Vorlieb zu nehmen. Kif und Knaben sind noch da, aber die Aura ist hin«, fasste Bruderer auf dem Weg in die Bar Carrousel einige seiner Aversionen zusammen. Wir waren mit dem durch seinen Lebensbericht »Das nackte Brot« bekanntgewordenen Schriftsteller Mohamed Choukri verabredet. »Vielleicht kommen wir so auch noch zu unserem Bowles, nur dass er ein Berber ist.«

Aber Choukri, von dem sich Bruderer ich weiß nicht was erhofft hatte, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er nippte schon morgens um elf an einem Gin Tonic und behielt seine Ansichten zu allen politisch heiklen oder religiös kompromittierenden Themen lieber für sich. Dafür kamen wir dank ihm zu einem netten, clandestinfreien Nachmittag. Und zu der unangenehmen Erkenntnis: Die Meinungsfreiheit wird in Marokko so arg malträtiert, dass die Zensur schon in den Köpfen stattfindet.

Was wir später im Gespräch mit dem Herausgeber der »Nouvelles du Nord« bestätigt fanden. Jamal Amiar ist ganz das Gegenteil von Choukri: engagiert, nervös, nüchtern. In ihrer Kargheit und improvisierten Ärmlichkeit erschienen die Redaktionsräume fast pathetisch. Hier schürft ein Gehirn in der fürchterlichen Grube, im Bergwerk der Informationen, um ans Licht der Öffentlichkeit zu fördern, was es zur Wahrheit Tangers redigiert hat. Wer die Probleme erst in ihrer Vielschichtigkeit kenne, sagte Amiar, dem würden sofort die Hintergründe der Auswanderung klar. Beispiele gefällig? Er nannte die Dürre. Kein Tropfen Wasser, bis auf ein paar restriktionsfreie Stunden, das sei in Tanger die Regel. Sollte weiterhin kein Regen fallen, reichten die Trinkwasservorräte der Stadt gerade noch für 45 Tage. Und dann das Drogenproblem. Womit nicht der Schmuggel gemeint war – das sei wieder eine andere Geschichte –, sondern der Heimkonsum. Jährlich 16’000 Drogenpatienten in ambulanter Behandlung. Über unsere anté-clandestins wusste er nichts Neues zu berichten. In einer Stadt, die offiziell 400’000, in Wirklichkeit über eine Million Einwohner habe, träten sie kaum in Erscheinung. »Die Probleme häufen sich, und gleichzeitig setzen sich die fähigen Köpfe nach Europa ab. Marokko geht wie andere Länder am brain drain kaputt.«

Wir trafen Choukri wieder, und er war von seiner trunkenen Warte aus auch nicht gut zu sprechen auf einige seiner Kollegen, die sich in Paris oder Madrid über die marokkanische Realität ausließen, obwohl sie jeglichen Kontakt dazu verloren hätten. Sich selbst nach Europa abzusetzen, daran verschwende er keinen Gedanken, habe er sich auch manchmal auf die Zunge zu beißen, wenn er, wie Männer in Tanger zu tun pflegen, die Zeit im Kaffeehaus verstreichen lasse.

 

 

6

Wir entschieden uns für La Española, der Frauen wegen, denn aus den meisten andern Cafés sind sie verbannt; hier kann man sie ihren thé à la menthe sippen sehen. Am späteren Abend, im verbindlichst verstaubten Guitta’s, wurde Cognac nachbestellt: es war Bruderers letzte Nacht. Die einzigen weiteren Gäste, ein französischer Päderast mit seinem Jüngling, waren längst gegangen; die Wirtin legte eine Patience und hörte die BBC-Nachrichten. Nach Mitternacht waren die Straßen verödet. Das Taxi machte umständlich kehrt. Ich machte die Möglichkeit eines Bordellbesuch geltend, was in Tanger, wo es in besseren Tagen Häuser mit Frauen aus 27 Ländern gegeben haben soll, ohnehin zu Bruderers journalistischen Pflichten gehöre. Er zierte sich auf seine gewohnt sarkastische Art und spielte noch, als wir dort eingetroffen waren, in der Damenwelt den Verächter. Wiederholt musste ich ihn auf die hübsche Holde im Chanel-Hemdchen hinweisen, bis er sich bequemte, mit ihr ein Bier zu trinken. Indessen ließen wir uns zu viert auf einer Eckbank au premier nieder, ein sardonischer Sekundant lieferte Kif, Bruderer und ich lächelten uns halb entgeistert zu; sie hatte sich seiner Sinne bemächtigt. Und die Zeit lümmelte mit. Da auf einmal baut sich eine kolossale Schattengestalt, natürlich mit Bajonett und Schirmmütze, stumm glotzend vor uns auf. Die Mädchen und unser Gehülfe erschauerten geziemend, und Asia tuschelte an meinem Ohr: Es sei mir gewiss eine Ehre, dem capitaine einen Whisky zu spendieren. Ich billigte es gelächert, der Bolgermann verschwand. Als nun aber auf einen Schlag zwanzig weitere Biere an den Tisch gebracht wurden, hieß es dennoch schleunig aufbrechen, um Schlimmeres zu verhüten. »Schon wieder Schiffbruch«, klagte Bruderer auf der kalten Strasse, so allein.

 

 

7

»Au weia« – sprach er arabisch? -, hob der Reporter am Morgen vor seiner Abreise an. »Die Stadt des schmählichen Endes.« Ich grinste ihn an: »Du hast nicht das Zeug zum Reporter. Weil du die Menschen nicht magst. Ihre Überlebensstrategien, die Darstellung ihres Daseinskampfs befremden und beelenden dich nur.« Er nickte feierlich: »Das Tosen aus dem Abgrund zwischen mir und den Dingen, die sich da draussen abspielen. Entweder, dieser abgründige Rauschen ist auch mein Thema, oder ich versauere zum Journalisten, der nicht schreibt, was er gesehen, sondern aufgelesen hat: Kolportagen, nicht Reportagen.«

Aus dem Fernseher prasselte Beifall, wieder und wieder; irgendeines der spanischen Programme, die seicht und unausrottbar über alle Bildschirme Tangers flimmern. Bruderer: »Sie fressen sich gegenseitig auf, die Bilder und die Zuseher. Einer nach dem andern lassen sich die Stämme zu kulturellen Müllschluckern degradieren. Schau selbst: Die in Spanien sind selig, dass man sie als ›wertes Publikum‹ ins Studio gebeten hat, und halten mit der größten Begeisterung als Claque für diesen Müll her; und die in Marokko löffeln sich denselben Bockmist taub und wie gelähmt mit ihrer Suppe ein. Auf der eigenen Frequenz ist fast immer Sendepause. Die Werbung, sagt Enzensberger, die in den reichen Ursprungsländern mühelos als schlichtes Zeichensystem begriffen werde, gelte in den Ländern der Dritten Welt als zuverlässige Beschreibung für eine mögliche Lebensweise. Ende des Zitats. Den Köder haben wir selbst ausgelegt. Der Westen sondert den Pesthauch ab und wundert sich, dass Aasgeruch zurückweht. Und dabei sind wir auf die Heimsuchungen der Dritten Welt, auf Blutbäder, Dürrekatastrophen, Sturmfluten und Vulkanausbrüche, nachgerade süchtig, mithin auf fortgesetzte Unheilsproduktion angewiesen, nur schon damit unsere eigene Mitleids- und Rührseligkeitsproduktion weiter angekurbelt wird.«

Bruderers Geist stocherte sich aus dem Weltinferno ins afrikanisch-europäische Nadelöhr zurück. »Ein guter Ort für Paranoiker, dieses Tanger. Nimm meinen Fall, angefangen bei unserer Reisegefährtin aus Nizza. Hatte die nicht, bedauerte ich nachträglich meine Schwatzhaftigkeit, einen verdächtigen Stich ins Lockspitzelhafte? Kaum angekommen, hechelte es auch schon auf der Straße hinter mir her: ›Salam aleikum, journaliste!‹ Diese Stadt ist gespickt mit Spähern und Greifern, von Denunzianten und Zwischenträgern jeglicher Herkunft befallen. Im Flüsterton zu sprechen, ist erstes Gebot; redete ich einmal lauter, so wurde mein Leichtsinn umgehend von dem jungen Studenten, der mir gelegentlich als Guide und Garde diente, mit nervösen Blicken nach links und rechts quittiert. Dieser Junge hatte mit mir eine richtige Pechsträhne. Einmal wurde er ohne Federlesens verhaftet und auf der Wache sehr unsanft angefasst. Ein andermal wieder von einem mit resoluter, Fleisch gewordener Autorität auftretenden Zivilfahnder wortlos gefilzt. Gestern treffe ich ihn in heller Aufregung an: Ob ich mich an den Tunichtgut erinnere, der sich gestern in der Rue Siaghine so aufsäßig gebärdet hatte? Nun, von dem habe ich nichts mehr zu fürchten, er sei vorhin auf dem Petit Socco von der Polizei erschossen worden. Er selbst schien ein Ausbund von Tugend, fleißiger Student, der sich ein Zubrot verdient, und doch mit dem Gelichter in der Medina auf vertrautem Fuß. Wie immer er dieses Dilemma bewältigt, eine große Zukunft hat er in Tanger nicht. Über kurz oder lang wird er sein Bündel packen.«

»Was ist eigentlich aus deinem Kontaktmann Bachir geworden?« – »Den habe ich abgeschrieben. Was sich da tagsüber an geschäftigem Mannsvolk im Hafengelände herumtreibt, ein Kommen und Gehen, und jeder zweite mit dem Gehabe eines ›Chef des Douanes du Port‹; mir wurde schwindlig. Und keiner kannte einen Bachir.«

Er schien erleichtert, dass es vorbei war. Wenn auch der Zweck der Reise ein anderer gewesen wäre, so entbehre es nicht der Ironie, dass er hier am eigenen Leib den ganzen Überdruss, die Lethargie und Ausweglosigkeit erfahren habe, die nebst allen handfesteren, leichter nachvollziehbaren Gründen halbe Völkerschaften zum Aufbruch bewege. Ich prophezeite ihm, schon heute abend in Algeciras werde er das Getändel Tangers vermissen. Vergessen haben werde er es, entgegnete er; wenn es ihn auch beschäme, den Geheimnissen Tangers, zumal sie sich ihm nicht enthüllt hätten, die erstbeste, banalste Stadt Spaniens vorzuziehen.

Es fing an zu regnen, nach langer Trockenzeit. Er holte seinen Koffer im Continental und fuhr durch die falben Straßen zum Hafen.

 

[Februar 1993]

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