[ca. 1985-1987]
Bienchentraum
Mir träumte, eine kleine Biene sei meine Hausgenossin. Da sie sich, sehr vertraulich, oft schwirrend meinem Gesicht näherte, musste ich, um sie auf Distanz zu halten, ein wenig Wind machen, d.h. pusten, woraus sich bald ein Spiel entwickelte, denn das zahme Tierchen konnte nicht genug davon bekommen, auf meinem Atem zu schaukeln. Ich jedoch musste all meinen Schnauf aufbieten, um es in der Schwebe zu halten, bis ich, à bout de souffle, nicht mehr konnte und die tanzende Freundin gegen meine Lippen stürzte, wo sie, einen Flügel an der oberen, einen an der unteren, hängenblieb und verendete.
Bienchentraum revisited
Hier ein Traum, den ich nie geträumt habe:
Ich trete als kleine Biene auf, und der Dichter ist mein Hausgenosse. Ein gütiger, feinsinniger Herr! Wie nun Tanzen eine meiner Leib- und Lieblingsbeschäftigungen ist, gelang mir die Erfindung eines Spiels, das meinem Gefährten den Atem benahm. Indem ich, Stuka, auf seinen Mund lossteuerte, dem bisher so wohlklingende Worte entflogen waren, blieb ihm, den Sturz auf seine Lippen zu verhindern, keine andere Wahl, als unablässig Wind zu machen, mir entgegenzuwispern, mich auf seinem Atem segeln zu lassen. So lange hielt ich meinen Leib vor dem des Poeten in der Schwebe, bis er verzückt, à bout de souffle, sein Leben aushauchte.
Sturm
Neulich gab’s Wind, das zerrte am Haus und rüttelte an den Wänden und packte von allen Seiten an. Ich rannte durch den Korridor ins hintere Zimmer, ein Geklirr hatte mich aufgeschreckt, aber im Lauf wurde ich durch einen scharfen Pfiff gestoppt, keine Ahnung, woher der kam; es muss einer dieser Winde gewesen sein, denn der Wind, hierzulande, teilt sich auf, er handelt nach der Splittertaktik aufrührerihscher Gruppen. Man wähnt, er habe sich gelegt, aber wohin? – ich will nichts behaupten, jedenfalls ist einem, er liege, lauere irgendwo, um plötzlich wieder heulend aufzufahren – ei, da singt etwas, das keine Stimme hat! – und wie etwas Greifbares in den Innenhof hinabzustürzen. Der Wind überflutete den Innenhof, am Morgen fand sich dort seine Hinterlassenschaft in Form etlicher Scherben und Storenfetzen; ich verließ das Haus und bog um die Ecke, da war er wieder, aber es war ein anderer, der ohne Sinn und Verstand mit leeren Plastiktüten herumspielte, indem er sie unter den Arkaden auf und ab segeln und kreiseln ließ. Vielleicht liegt die ganze Stofflichkeit des Windes in den Dingen, mit denen er sich abgibt, bevor er sie verächtlich liegenlässt, wie zum Beispiel uns, wenn wir es mit ihm aufnehmen wollen – aufgepasst die Dame mit dem aufgespannten Regenschirm, sie sollte sich vorsehen, von ihm nicht übers Brückengeländer hinausgehoben zu werden! Der Wind macht uns sturm… Im nächsten Augenblick hat er die Wolken aufgerissen, dahinter ein unverhofftes Blau, man setzt sich in ein Straßencafé und lässt sich nachsichtig lächelnd von ihm das Vermouthglas zu Boden schmettern.
Die Schüsse
Ich träumte von Schüssen. Ich stand im sogenannten Kugelregen oder Bleihagel. »Schnell, ein Schießeisen!« schrie ich ins Geknatter. Eher war es wohl ein stummer Traum, dem ich nachträglich den Ton unterlege. Von irgend woher flog mir ein Revolver zu, den ich hinreichend gewandt auffing und misstrauisch in der Hand wog, bevor ich um mich zu schießen begann. Zweifellos übertrifft der Schrecken, den das Klicken eines ins Leere greifenden Verschlusses verursacht, den einer im voraus feststehenden Wehrlosigkeit. Ich jedoch, trotz leergeschossenem Magazin, haderte nicht lange. Ich sagte mir, dem Stummen fehlt jede Möglichkeit, zu beweisen, dass er schweigen kann. Zunächst verlegte ich mich darauf, mit der Linken nach dem Aschenbecher zu tasten und die Trommel mit Kippen zu füllen, darunter zwei Havannas. Der Erfolg hielt sich in Grenzen. Hierauf streifte ich meine Uhr vom Handgelenk, legte sie in die Trommel und verschoss erst einmal die Zeit. Es war eindeutig ein Traum vom Luxus, von dem ich dadurch einen guten Begriff bekam. Nun musste ich nämlich eine Unbekannte ihres Colliers entledigen, das ich Perle für Perle krepieren ließ. Ich machte Front mit ihren Juwelen! Broschen, Bracelets und Brillanten wurden mir in der Folge von allen Seiten freigebig zugeworfen.
Kissing Tourists
Ich saß in einem Café, als mir dieser Titel einfiel, aber natürlich kam ich schnell darauf, dass er sich eher für ein Bild eignet, vielleicht in der Manier von Hockney, swimmingpoolblau, oder Öl auf Sand, während er als Überschrift eines Spätsaisonaufsatzes eher ordinär wirkt. Immerhin bietet er, so mein zweiter Gedanke, vom grammatikalischen Standpunkt aus den Vorteil der Zweideutigkeit, und ich entscheide mich hier für die Möglichkeit, selber Touristinnen zu küssen, anstatt aus dem Augwinkel Paare zu belauern und dann missgünstig, aber lippengetreu nachzubeten, was mir nicht beschieden war. Habe ich nicht gestern A. ins Ohr geflüstert, sie möge still sein, ich möchte ihr lauter Zeilen auf die Lippen küssen? Sie fand das natürlich albern, aber es stimmte.
Unlängst saß ich hier spätabends mit einer jungen Frau in einer Bar und sprach, mit rieselnder Ernsthaftigkeit, erst noch auf englisch, über den Argwohn, den öffentliche Zärtlichkeiten anderer bisweilen in mir wecken; davon ausgeschlossen zu sein, aber nun nicht nur den andern ihre Küsse nicht zu gönnen, sondern sie erst noch für höchst bedauernswert zu halten: dass sie jetzt diese Geschichte am Hals haben (sicher eine schlimme Geschichte). Darauf antwortete sie mit schleppender Stimme: »I propose we split it twenty five/twenty five – I mean, sixty/sixty.« Sie meinte aber nur das letzte Bier, und ich küsste sie.
Erste Küsse lassen einen fast immer mit einer Art Gedächtnislücke zurück; es ist, als bedürften sie einer winzigen Ohnmacht, um zustandezukommen, selbst die unerträglich hinausgezögerten und verschleppten und erschmachteten, die in Tat und Wahrheit das Ergebnis langwieriger taktischer Erwägungen sind. Auch eine so zielsicher und weltgewandt wirkende und jedenfalls unanfechtbare Anrede wie: »Ich hoffe, Sie langweilen sich gerade«, bewahrt nicht vor dem nachfolgenden Moment, der den Küssenden nicht wissen lässt, wie ihm geschieht. Wie benommen – benommen vor Glück – ist man erst recht beim geringfügigsten aller Küsse, für den man sich buhlerische Großartigkeiten sparen kann, und der einem das Gefühl gibt, in einem Schlaraffenland der Liebelei gelandet zu sein, ein Marschflugkörper unter dem Kommando eines tändelnden Liebesgottes. Es fällt mir nicht leicht, über diese Leichtheiten zu sprechen, Gelenkigkeiten, raschen Begierden… Damals war Frühling. Ich lag an einem beinahe menschenleeren Strand. Die Streichhölzer waren mir ausgegangen – war ich da nicht berechtigt, das Mädchen, das sich etwas weiter drüben sonnte, um Feuer zu bitten? Noch nass vom ersten Sprung ins kalte Meer, kniete ich neben ihr; das Nächste war – aber wer hatte zuerst geküsst? – mich zu erkundigen, ob sie mehr möge; eine Frage, die Cary Grant im letzten Viertel der Mehrzahl seiner Filme höchst zuvorkommend zu stellen versteht. Der Nachmittag war uns hold; wir lagen eingekesselt von Brandung und Himmel, in dem die Wipfel der Palmen schwankten. Zuweilen stieß sie mich von sich, nur um mir die süßesten Versprechungen zu machen, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Nacken, Arme, Bauch, alles bekam einen neuen Namen. Aber vielleicht verstand ich auch alles falsch, denn ich sah sie nie wieder: am folgenden Samstag erschien ich, wie vereinbart, wieder am Strand. Er war nun voll, nur sie war nicht da. Übrigens war sie keine Touristin, die Geschichte gehört gar nicht hierher, vielleicht sollte ich sie neu schreiben – ein Titel wird mir schon einfallen, zum Beispiel »Missing Kisses«.
Die Nacht (Widerruf)
Wieder widme ich diese Trunkenheit fälschlich dir. Nein wirklich, mein Leben gehört mir nicht; wenn ich es auch letzte Nacht wieder in der Halle, die »Die Lotterie« heißt, verramscht habe.
Wieder in einer Lage, in die sich nur ein großer Unentschlossener hineinbefördern kann.
Um am Anfang anzufangen: dass ich um halb neun von einer Telephonzelle aus anrief: »Hallo? Ich musste unerwartet nach Kopenhagen. Hörst du die Dänen? Am Mittwoch bin ich zurück.« Klick. Freilich war ich gar nicht aus der Stadt heraus, und das Treiben um mich waren auf der einen Straßenseite die Premièrenbesucher, die sich vor der Oper einfanden, während auf der andern gerade wieder einmal erzürnte Menschen die Scheiben bei McDonald’s einwarfen. Mit welcher Gelassenheit unsere Stadt bisweilen die Nacht angeht!
Ich fand nicht ohne weiteres in meine Abwesenheit hinein. Vielleicht gegen halb zwei in einer dieser Schenken, einem dieser Bierlachen- und Mädchenanlachen-Lokale, stand ich richtig ausgewischt in einer Ecke. Aber, Frage, dann wäre ich später aus der Versenkung wieder aufgetaucht, denn in dieser Nacht hätten wir noch zweimal die ganze Stadt wie ein Messer durchschnitten? Gegen drei wären wir in die neueste Halle gegangen, in welche man über eine Rampe hinabschreitet, während unten alles so innig steht, dass man die Asche zwangsläufig am Gin Tonic seines Nachbarn abstreift? Zweifellos war es dort, wo wir die Pirouette trafen, die gerade von einer Landpartie zurückgekehrt war, was sie offenbar um jegliche Contenance gebracht hatte, aber umso weniger daran hinderte, uns in die »Lotterie« zu begleiten, wo alle Empfindungen von Zerknirschung bis zu kühnem Tanze zugelassen sind. Ich muss dort eine gute Weile zertrampelt an der letzten Theke gestanden haben, bis ich mit den Augen in eine hübsche Verrückte hineintrat, deren Begleitung mir dann bis zu ihrem nebulösen Verschwinden sicher war. Wo ist Irma? Wo ist Rosa? Wo ist Lola? Jetzt gegen Morgen, wo alles so weich wird! Nein, ich war’s nicht, der um sechs Uhr vorschlug, den Abend im »ZigZag« zu beenden. Dort erst bekommt man ja den richtigen Eindruck von dem Aufwand, den wir betreiben, um uns zu amüsieren, sofern man noch den Blick dafür hat, wie sich alle mit so würdevoller Kümmerlingsmiene auf den Beinen halten, als gelte es die Dienstmänner vom Französischen Bahnhof beim Morgenappell nachzustellen. Mit nicht geringerem Erfolg ließe sich das Publikum auch durch die Taxifahrer mit ihren nachtschichtgrauen Gesichtern ersetzen. Man hat es nicht getan, denn es scheint, einer von ihnen habe mich bei Sonnenaufgang vor meiner Haustür abgesetzt.
Die Nacht (Rückansicht)
Versuch, die vergangene Nacht aus der Bewusstlosigkeit zu schälen, in der sie liegt wie eine Frucht, deren Saft kein Gedächtnis keltern, keine Erinnerung kosten wird; noch der Schlummer, in dem ich aus ihr erwache, will nur die nächste kennen. Freilich zu Recht, denn sie wird ihr wohl gleichen: zunächst lose Orte, ein Hintergrund aus Flaschenbatterien, das Defilieren und Haufenbilden, in dem manchmal Unbekannte sich erkennen: eine Frage der Zuordnung. So wie in einer sich überschlagenden Welle jedes Molekül in jedem Moment sich lostrennt und weitertreibt, muss auch mein Blick den tänzerischen Ignoranten meines Schwungs oder Sturzes gespielt haben. Im Auftritt mancher Frauen ließ sich eine Désinvolture erkennen, die einlud, ihren Hals zu küssen. Vielleicht hat man daher Treppen gebaut, auf denen sie wie Päpstinnen erschienen, im Atem der Kälber um sie, die unter dem Anschein schnöder Indifferenz ihr innerliches Zappeln verpufften. Und so von Halle zu Halle im Gedröhn von Ultravox, denn eines müssen Sie wissen: was Sie unter Sprache verstehen, existiert hier nicht. Und noch etwas hat sich in dieser Stadt nicht geändert: alle Entscheidungen werden in den Autos gefällt, und wenn man eine Halle verlässt, dann nur, um sogleich die nächste anzusteuern. Hiezu liegen zwischen den hohen Blöcken weite Fahrbahnen mit darüber sirrenden Reifen und hetzenden Lichtbündeln, die jedem mit Sinnen Begabten, wenn noch die Mondsichel in der Flucht erscheint, ein unirdisches Wohlbehagen einflößt. Aber Vorsicht: wenn Sie nun dem Zufallssinn willfahren und ihrer Begleiterin unter die Bluse gehen, wird Sie solche Berührung unfehlbar in ein noch tieferes Vergessen tauchen.