[ca. 1986-1994]
Die feinschlächtige Welt
»Es würde euch besser anstehen, mich mit Güte zu beschämen«, schrie ich und schlug die Tür zu.
Ich nehme nicht mehr das Auto, um in die Oberstadt zu fahren, denn einmal oben anlangt, ist man mit den Nerven schon wieder herunter.
Das erste, was mir beim Metroausgang begegnet, sind eine Menge gutgekämmte junge Leute, die um die Sporthalle da hinten herumlungern. Diese Lumber! Diese Fasson! Dieses Grisaille von den Hosen bis in die Hirnzellen! Und so ungezwungen. Ein Konzert oder was? Ich betrete die Halle und, in nomine patri et filii et spiritu sanctu, werde ich da gleich gottesdienstlich behandelt. Ich jüdisch-katholischer Zenheide! Aber die hier sind ja so modern! Diese Leute haben schon gar keine Bibel mehr zu Hause, die haben wirklich nur noch ihren Glauben. Und ich mit meinem papierenen Wurlitzer, womit ich mein Gedächtnis meine… Was ich jetzt mache, kann man nicht mehr Spazieren nennen; das muss Um-Ecken-Rasen heißen. Bis ich im Zickzack wieder unten anlange.
Hier, der Quartiersäufer, macht heute auch einen gehetzten Eindruck; wiegelt aufgebracht gegen eine braune Fassade, während er doch sonst nur den Asphalt als Hure beschimpft. Er ist der bestgekleidete Mann der Gegend, ich beneide ihn um seine Kamelhaarjacke – aber sind es eventuell deren Ausdünstungen, die ihn delirieren lassen? Werde ich selbst immer dunkler oder vielmehr klarer? Immer fliegen einem in diesen Gassen Gegenstände um den Kopf. Hier, ein Damenslip und ein Champagnerkorken, aus irgendeinem Fenster direkt vor meine Füße. Immer ziehen mich Frauen in Höfe, zwischen geparkte Autos, nicht für die Liebe, sondern die müssen mal. Die finden mich vielleicht interessant, die Mädchen von der Frauenbefreiungsfront. Ich habe nur einen Whisky und eine Opernaufführung im Kopf, Moses und Aaron, die so schön werden wird, dass man nachher vom Leben überhaupt nichts mehr verlangen dürfte. Aber noch hat mich dieser kraftlose Wahn, der alles auf die Sinne einprasseln lassen will. Laufen, laufen… In die Mondsichel, in die Straßenflucht… Vögeln, sich umbringen, diese inständig wiederkehrenden Gedanken… Sogenannten Gedanken… Irgendwo an einem Baum sehe ich einen Strick, wie eine Einladung für Lebensüberdrüssige. In irgendeinem Interview sagt Moravia, wer nicht jeden Tag seinen Selbstmord erwäge, sei wohl bescheuert… Ich weiß nicht, wie er das auf italienisch sagt, aber ich nenne es bescheuert. Wenn man nur lesen könnte, würde man heraushören: mit einem triefenden Lappen beklitscht; inwendig ausgefegt; schauerlich, scheusslich, heuchlerisch; Heu: höu, hou, houwi, hewi, hooy, hā, hö, hĵeg, hawi. Ich möchte mit euch nur noch gothisch, nein nur noch hethitisch reden.
Die Bärin
Russlands erotisches Potential scheint unermesslich. Ich, der ich mich – Bordelle apart – noch nie einer russischen Liaison erfreuen konnte, registriere mit zunehmender Kampfbereitschaft, wie Russinnen nach und nach strategische Punkte in meinem libidinösen Imaginarium (oder meiner imaginären Libido?) besetzen. In Wirklichkeit begegne ich solchen Frauen zum Beispiel in Zügen, die der Westküste Japans entlangruckeln, wo ein sibirisches Licht in starren Grautönen auf das Meer fällt. Im Waggon ist alles still, die japanischen Fahrgäste nehmen eben ihren bentô zu sich – das kurz zuvor in kompartimierten Holzkistchen servierte Mittagessen – als mitten auf der Strecke ein Paar hereinstürmt, kehrt macht, mit Koffern beladen ein zweites Mal anrückt und insgesamt mit seinem Gepolter den Reisefrieden stört. Niemand wird sich an diesem Punkt der Erzählung darüber beschweren, dass sich der Mann und die Frau, in hier ungewohnter Lautstärke, auf russisch unterhalten. Geographisch betrachtet ist ihre Gegenwart – Wladiwostok liegt schräg gegenüber – im Grunde weniger erstaunlich als meine eigene. Kaum haben sie Platz genommen, erhebt sich die Dame, tief atmend, bebend bis in die Nasenflügel, bereits wieder und beugt, nein spannt ihre hinreißenden Proportionen über einen der Passagiere, zufällig mich, um ihre Handtasche nochmals aus der Gepäckablage zu holen und sie wortlos, energisch, barsch auf dem freien Platz neben mir abzusetzen. Wie sie so darin herumfummelt, bin ich darauf gefasst, sie zücke im nächsten Moment eine Bärenkralle, um mich damit endgültig in ihren Bann zu schlagen. Aufmerksame Leser des Kleinen Brehm wissen ja, dass sibirische Bäuerinnen sich einen Mann durch nichts als die magische Berührung mit der Klaue eines erlegten Bären gefügig machen.
Andererseits sind diese Russinnen selber Bärinnen, sie haben diesen animalischen Sex-Appeal, und Bärinnen gelten als die ausdauerndsten Liebhaberinnen der Tierwelt. Bezeichnenderweise bin ich der nächsten von ihnen im Zoologischen Garten von Barcelona begegnet. Zu meinem Leidwesen befand auch sie sich in Begleitung eines Herrn. Ich hatte mich gerade vor dem Käfig der Faunaffen niedergekniet, um eine rührende mütterliche Szene aus der Nähe zu beobachten, als das bekannte, von lasziven Lachsalven durchbrochene Geraune vernehmlich wurde und ein zwei wunderschöne Beine umspielender Pelzmantel seitlich in mein Blickfeld rückte. Ich verharrte in meiner lächerlichen Kauerstellung, und schon beugte sich die Bärin über mich, umhüllte mich mit ihrem Fell, Entzückenslaute ausstoßend, die scheinbar mir, in Wirklichkeit der stillenden Äffin galten.
Heute
Heute war ein Tag wie andere Tage auch, und wenn sie alle so wären, sähe das Leben im Rückblick aus wie ein missratener Scherenschnitt, in dem sich das immer gleiche unansehnliche Muster wiederholt, dieselbe Spottfigur sich selbst bei der Hand nimmt, und man müsste sich fragen: dieses humanoide Zickzack, bin das vielleicht Ich?
An solchen Tagen empfiehlt es sich, zum Friseur zu gehen. Ich wählte einen, der mir als besonders geschwätzig bekannt ist. So geschwätzig, dass man selber überhaupt nichts zu sagen braucht: ab und zu nicken, »soso« murmeln und ein frisch gekapptes Haarbüschel – das ist nun nicht mehr Ich! – von der eisblauen Schürze wischen. Von diesem Coiffeurmeister wird man nachgerade in Trance versetzt, und jedenfalls finde ich sein Geplapper, das sich mit dem Scherengeklapper zu einer Art Schnipp-Hop verbindet, weniger anstrengend als die Konversationsbrocken jener Friseure, die sich als reaktionäre Spießer zu profilieren versuchen. Warum sind gerade Friseure und Taxifahrer fast immer von diesem Schlag? Nun, vielleicht sind sie gar nicht die Ausnahme; aber nur Friseure und Taxifahrer geruhen uns ihre hässliche Gesinnung auch mitzuteilen.
Die Tondeuse schnurrte meinen Nacken herauf, und meine Gedanken drifteten derweilen zu meinem Reifenhändler, der vielleicht auch kein Revoluzzer, aber dafür im Nebenberuf Kunstmaler ist, und dessen Werkstätte mit lauter eigenhändig gefertigten Velázquez-Kopien vollgehängt ist (die Venus im Spiegel als Pin-up-Ersatz), als meine Aufmerksamkeit plötzlich wieder vom Schnurrschnarr des alten Coiffeurmeisters gefesselt wurde, der inzwischen bei seinem seligen Vater angelangt war, den er vor heute exact dreiunddreißig Jahren, an einem 19. Dezember eben, beerdigt hat. An jenem Tag, so vernahm ich, hätte es Stein und Bein gefroren, und nach der Beisetzung wäre die Trauergemeinde über die vereisten Wege auf allen Vieren ins Wirtshaus zurückgekrochen. Worauf er meinen Kopf, als wär’s ein Gummibaum oder eine vereiste Straße, mit lauem Wasser besprühte. Wenn er jetzt bloß den Kamm nicht verlegt hätte.
Sentimentally Correct
Er hatte sie betrogen, sie ließ sich narren. Sie war jung, arglos, und sie war ihm hörig. Sein Doppelleben funktionierte so tadellos, dass es ihn zu langweilen begann. Gute Regie ist besser als Treue, laut Gottfried Benn. Bis eines Tages die andere, die es schon länger geduldet hatte, den Schwindel auffliegen liess: »Yo soy la otra«, packte sie mit forscher Ironie aus, worauf sie in Ohnmacht fiel. Und beide forderten: »Entscheide dich, Schurke.« Er entschied sich für die eine und sah die andere heimlich weiter.
Wie gehabt; freilich diesmal nicht für lange. Er lag gerade genießerisch in der Badewanne und las sich halblaut Sades Crimes de l’Amour vor, als das Telephon klingelte und eine erregte Stimme in sein laues Behagen platzte: »Was hast du gestern abend getrieben?« Er beeilte sich, zu gestehen, dass er mit der andern bei Achmatow gespeist hatte. »Und nachher seid ihr vor dem Restaurant gestanden, du hast dich auf sie gestürzt, sie wehrte sich, du hast auf sie eingeredet und sie bedrängt, bis sie nachgab und ihr euch geküsst habt, um dann wie ein frischverliebtes Paar ein Taxi herbeizuwinken.«
Einfach lächerlich! Die Schilderung war zu grotesk! Wenn schon, war sie es gewesen, die ihn bedrängt hatte. Aber was half alles Leugnen, alles Abwiegeln. Er war gesehen und verpfiffen worden. Regiefehler: Hätte er einen weniger mondänen Ort gewählt! Er tröstete, beschwichtigte, und da er ohnehin verreisen musste, leitete er die Rückeroberung mit Serien von Ergebenheits- und Verlangensdepeschen ein. Natürlich gelang die Hanswurstiade. Es kam ihm wie ein abgekartetes Spiel vor, bei dem jede Seite zugunsten zweisamer Genüsse gewisse Konzessionen machte – wo lag wirklich der Einsatz?
Der Fall sei hier dem männlichen kanaillesken Publikum als warnendes Beispiel, was weibliche Eifersucht vermag, mitgeteilt. Sie verzieh, ohne zu verzeihen. Aus der fügsamen Gespielin wurde die grausame Inquisitorin. Er hatte die Ironie des Schicksals unterschätzt, das ihm die Sünden der Vergangenheit, nun da er sentimentally correct handelte, Tag für Tag aus ihrem holden Munde vorrechnete. Solange er sie hinterging, hatten sie ihre knappe Zeit ausgekostet. Jede Begegnung war ein Streifzug ins Paradies gewesen. Seit er treu war, gingen Tage, Wochen, bald Monate in Groll und Hader auf. Je pathetischer er die Gegenwart beschwor, desto inniger gab sie sich ihren ätzenden Vergangenheitsbetrachtungen hin. Je widerspenstiger sie wurde, desto ferner lag ihm der Gedanke, sie zu verlassen. Mal für Mal spielten sie die höllische Szenenfolge durch: Ihre nagenden Zweifel, sein wachsender Unmut, ihre bitterlichen Anklagen, sein langatmiges Vernunftpredigen, ihr Schmollen, seine Tobsuchtsanfälle, ihre Tränen, seine Versprechungen, ihre Verachtung, sein Drohen und Flehen, bis zur notdürftigen Versöhnung im Gelächter, das beim hundertsten Mal schon ganz schön schal klang. Sie stocherte im blinden Fleck, er krallte sich an Lichtblicke. So zerstörten sie sich.
Gefangen in der Spirale gegenseitiger Beschuldigungen, waren sie kaum noch gesellschaftsfähig. Dennoch gingen sie nun, öfter als früher, da sie sich selbst genügt hatten, unter Leute; solange war er vor der nächsten Attacke auf seine Nerven gefeit. Kaum allein, braute sich das Verhängnis zusammen. Auf der Straße sahen sich gleichmütige Polizisten veranlasst, in ihr Gezänk einzugreifen, und Taxifahrer nahmen mit trockenem Humor den Auftrag entgegen, sie ins örtliche Irrenhaus zu führen. Sie bestanden nur noch aus Reflexen. Am Telephon ließ er sich stundenlang bis zur Weißglut treiben; es war der perfekte Hassakkumulator. Selbst wenn sie scherzten, hatten ihre Gesichter mittlerweile etwas Fratzenhaftes. Er hätte viel darum gegeben, die Maske der Redlichkeit ablegen zu können. »Wie fabelhaft lebte sich’s nicht in der gemeinen Lüge«, trauerte er, der sich nun vor ihr als Moralist aufspielte und sich nicht scheute, die päpstliche Enzyklika Veritatis Splendor zu zitieren, in welcher der Pontifex für die Rettung der Menschheit einen moralischen Mindestkonsens fordert, aber auch Wert und Sinn des Martyriums verteidigt.
Bahnhof
Suzette, so hieß sie doch: wie ein kleiner Aperitif, ein Vorgeschmack im Diminutiv. Ein bezauberndes jedenfalls, seien Sie versichert, Wesen, mit dem Kollege Schwendi da am Bahnhof erschien, um mir vor der Abreise noch ein Dossier zu übergeben. Mir, oder was von mir nach einer Woche Schweiz übriggeblieben war. Ich bestand eigentlich nur noch aus einer triefenden Nase, die aus einem Wust von Kleidern hervorschaute: hatte mich so eingepackt, nicht nur um mich vor der Kälte zu schützen, sondern weil ich anders den Koffer nicht zukriegte.
Schwendi und seine Geliebte begleiteten mich zum Schließfach. Um das Dossier zu verstauen, musste der Koffer nochmals geöffnet werden. Schließen ließ er sich erst, als Suzette sich ebenso behende wie grazil auf den Deckel stellte.
Wir durchquerten die Halle, der Zug stand schon bereit. »Abschied!« schniefte ich mit gespielter Dramatik. Schwendi schüttelte mir grinsend die Hand. Suzette bot ihre Wange dar, aber ich schlug das Küsschen mit Rücksicht auf meinen Schnupfen aus. »Das holen wir nach«, versprach sie lächelnd. In dieser Sekunde, schon auf dem Trittbrett, dürfte ich mich in sie verknallt haben.
Paravision
Ihr Vater, im Ungewissen über die Freizeitgestaltung des jungen Paars, hatte ihnen einen Fernsehapparat beschert. Schwiegerväter, geht es über eure Vorstellungskraft, dass man auch ohne kann? Die Beschenkten wähnten, das neue Möbelstück biete ein bisschen Sport, hin und wieder Krieg und Erdbeben, zu gegebener Stunde die Lottozahlen. Wie es sich für ein Möbel ziemt, hatte der Apparat zunächst unbeachtet am Boden gestanden; kaum jedoch war er auf einen Sockel erhoben worden, erlagen sie seinen Versuchungen. Plötzlich sass man gebannt vor alten und dennoch frisch wirkenden Jacques Brel-Aufnahmen, plötzlich erschien die Hysterie der Gewinnerin im Ariel-Publikumswettbewerb sehenswert, gerade weil sich dabei die Grenze zwischen echter und inszenierter Freude merkwürdig verwischte. Das Fernsehen machte auch ihre Tage konturlos, schemenhaft wie das codiert übertragene Fußballspiel, das er sich einmal auf einem Pay-TV-Kanal ansah, mit der Radioreportage als klärende Begleitung.
In ihrem Leben wurde es zappenduster. Mittels Fernbedienung knipste man sich aus dem Garten einer Elsässerin, die gerade eine Lobotomie überstanden hatte, in eine Massenschlächterei im Kaschmir, hierauf nach Washington in eine Kongressdiskussion zur Frage, ob schwangere Frauen Vitaminzusätze auf Krankenschein brauchen, und mitten in den Kampf einer Boa mit einem Kaiman, die, bevor sie sich gegenseitig zerfleischten, von Fred Astaire in Gesellschaft eines hüftschwingenden Skeletts abgelöst wurden. Tödlich wurde die neue Kurzweil aber erst, als sie Kanal 39 entdeckten, wo allnächtlich vor fixer Kamera der gemütliche Alltag zelebriert wird.
Jede Stadt hat den Lokalkanal, den sie verdient. Anderswo schraubt man eine Kamera auf die U-Bahn und überträgt die Reise durch Röhren und Stationen als Testbild, und diese Sendung erreicht hohe Einschaltquoten. Das ist weniger überraschend, als es scheint. Dass die Information das Ereignis hervorbringt, ist ein alter Hut. Man durfte schon lange vermuten, für ein passables Programm genüge es, eine Kamera an irgendeiner Ecke aufzustellen. Sind nicht die Geschichten, die sich Drehbuchautoren fürs Fernsehen ausdenken, zu grandios, zu wild, zu aufregend für den Hausgebrauch? Die Tonspur verrät das Missverhältnis: diese unerträglichen, stets keifenden Stimmen, der ewige, ins Wohnzimmer dröhnende Schlachtenlärm. Wie alle Welt, gewöhnte sich auch unser Paar daran. Anfangs hatte er seiner jungen Frau noch fasziniert zugesehen, wenn sie wie eine Generalin mitten im Zimmer stand und, die Fernbedienung im Anschlag, über das Raster gebot. Jetzt sagte er nur noch: »Mach mal 39 her.«
Auf Kanal 39 sind es zum Beispiel Coiffeure, Abbruchhändler, usw., die über ihr jeweiliges Fachgebiet salbadern und gleichzeitig ein wenig Reklame für sich machen. Ihm war es nur schon angenehm, weil sich die Bilder nicht bewegten und er den Dialekt, der gesprochen wurde, schlecht verstand. Wie im wirklichen Leben, wäre er am liebsten auf allen Kanälen gleichzeitig dabei gewesen, hatte sich aber für den fadesten entschieden.
Wirkung der Tänzerin
Jetzt ist sie weg, aber ich schmecke noch die Essenzen, Elixiere, die ihr Körper barg. Wie war das mit ihr? Inniglich und romantisch (bitte mit französischem Akzent auszusprechen).
Sie trug immer einen Band Nietzsche, an den kleinen Busen gepresst, durch die Nacht; zwei Wochen, und der goldgeprägte Titel auf dem Einband war ganz abgewetzt. Kleine, schmutzige Hände hielten das Buch, das sie sich von mir erbeten hatte, und übrigens waren natürlich ihre Füße unansehnlich, die Zehen kräftige Stummel, vierschrötige, aber wendige Arbeiter, die ihren Tänzerinnenkörper jonglierten.
Hält man es für einen Spleen, dass sie, sooft ich sie einen Augenblick allein ließ, den Nietzsche aufschlug und ihr französischer Mund halblaut die deutschen Worte formte? Sie las! z.B. einmal in einer Bar (den Portwein ließ sie stehen), und nebenbei war sie der Wirkung solch selbstversunkenen Gebarens unter all den Langweilern, die sie verstohlen oder verständnislos anhimmelten, gewiss.
Sie war schäkernde Lust, williger Widerstand, sprühendes Zutrauen, plötzlich todesängstige Unschlüssigkeit. Wenn sie mich spät nachts verließ, tanzte sie anschließend bis in den Morgen auf ihrer Dachterrasse. Einige Male ging sie zu einer Probe, kam entgeistert über die Schlappheit der hiesigen Zunft zurück. Nach zehn Tagen wurde sie plötzlich krank und schlief ausnahmsweise bei mir, fieberheiß, erbrach sich mehrmals wie ein aus sich selbst verstoßener Cherub. Alles an ihrem Körper war unnatürlich stark und übernatürlich geschmeidig. Nichts Vollkommenes, außer vielleicht die schwarz über ihre weißen Brüste fallenden Spielhaare und die beiden Kugeloide: »Pas belle mais contente de mes fesses«.
Berechnender Leichtsinn hatte uns einander zugeworfen: Pasodoble, Bossanova, »No, you can’t take that away from me«. Natürlich führte ich sie bei Mondschein in den Park und der präzise Taumel, welcher das Ziel ihres Métiers ist, übertrug sich auf mich, erfüllte das Zimmer und verflüssigte sich in den Balsamen ihres Körpers, nach denen der schleckermäuligste Liebhaber bis zur gegenseitigen Erschöpfung dürstete. (Née en 69: évidemment.)
Tagelang habe ich sie wie ein Rauschmittel genommen, dann zum Zug nach Paris gebracht. Ich tat nichts, um ihre Abreise zu verhindern. Es musste so sein, um nicht süchtig zu werden und zugleich, schrieb ich ihr heute in meinem komischen Französisch, »ce fut indispensable pour me combler de désir«.
Drei Furien im Flur
Ich teile mit, dass ich nach wie vor auf Tisiphones Gästeliste figuriere. Vergangenen Sonntag lud sie zum Nachmittagstee. Als wir jedoch zur vereinbarten Stunde bei ihr erschienen, bot sich uns folgendes Bild: Drei Frauen irgendwo zwischen Bett und Bad stellten in dreierlei zwangloser Aufmachung jenen Zustand dar, den man auf französisch catastrophé nennt. Sie hatten sich noch nicht einmal die Spuren samstäglicher Liederlichkeiten aus den Gesichtern geschminkt. Einzig Megaira war schon angekleidet und schürzte auch als erste die Lippchen zum Küsschen. Tisiphone hingegen erblickte man erst von hinten durch die halboffene Zimmertür, im Büstenhalter und mit kahlem Schädel, in Wäschebergen wühlend, während Alekto, die uns im Hausmantel begrüßte, schlafmäulig erklärte, die Nacht sei länger geworden. Wir lächelten voller Verständnis, in dem engen Flur zusätzlich umlungert von zwei Hunden; einen davon hörte man dann in der Küche Wasser schlappen, ein Teekessel pfiff aus derselben Gegend, Alekto hüpfte hin und Tisiphone rief aus ihrem Zimmer, ob wir eine Bloody Mary möchten.
Ich kenne sie, diese Weiber. Unlängst, als ein bulgarischer Kreuzer angelegt hatte, gingen sie unter Tisiphones Führung im Hafenviertel Matrosen aufgabeln. Na und, wird abwinken, wer sie nicht gesehen hat, stattlich und durchtrieben, höhere Wesen aus Spott und Glamour, die sich immer amüsieren. Keiner, der von Tisiphones funkelndem Blick getroffen wird, würde dann vermuten, dass sich unter solcher Glanzerscheinung ein feistes, polnischstämmiges, keineswegs taufrisches Mädel verbirgt, obendrein jetzt kahlgeschoren. Bei Nacht trug sie seit jeher lange Lockenperücken und spielte das Repertoire der Listen ihrer wechselhaften Karriere aus. Dasselbe Mensch steht eines Tages zerlumpt mit einer Pulle Wein vom Fass gestikulierend auf der Gasse: Lebensgier, die ebenso plausibel Schatten vorspiegeln kann. Flunkerin über Abgründen. Jemand hat sie das hilfloseste kleine Mädchen von der Welt genannt.
Nein danke, sagten wir, wir kämen gern in einer Stunde wieder, falls es den Damen genehm sei; und gingen im weichgezeichneten Abendgrau spazieren. Als wir zurückkehrten, herrschte folgende Konstellation: Alekto, deren taktischer Groll schon viele in Schrecken versetzt hat, sah weiterhin ziemlich mitgenommen aus und versuchte gerade mit säuerlicher Miene einen neuen Bekannten einzuschüchtern. Megaira, anderer Waffen unkundig, spielte die Zivilisierte, unterhielt sich neidvoll über Reiseerlebnisse, usw. Tisiphone jedoch bewegte sich mit wallenden Locken unter ihren inzwischen eingetroffenen Gästen und war schon wieder im Begriff, sich am Tod zu rächen.
Toujours encore (Junggesellenstück)
In einigen Ländern werden heute mehr aussereheliche als eheliche Kinder geboren. Vielleicht haben wir bald ein neues Minderheitenproblem, das der Verheirateten. Nun sagen Sie selbst: das macht die Sache doch interessant. Am Ende ist die Ehe ein Privileg der happy few, eine ganz besondere Lebensform, den wahren Lebenskünstlern vorbehalten. Aber noch ist es nicht so weit.
Auch ich war einige Male Teil eines Paars, ohne Trauschein zwar, aber damit ist dem Grundübel nicht abgeholfen. Das Grundübel ist meines Erachtens, dass ein Mann (ich will für die Frauen, und schon gar für andere Männer, nicht sprechen) seine Freiheit preisgibt. Die Liebe: prima, wahnsinnig, wunderbar! Aber gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, deswegen auf dieses eine, kleine, größte Lebensgefühl zu verzichten: heute zufällig frei zu sein sein? Immer noch frei? »Je suis toujours encore libre« – ein welscher Freund ergötzte sich einmal an unserem auf französisch so wunderbar redundant klingenden »immer noch«…
Wer immer noch mit einem Weib eine Lebensgemeinschaft gründet, riskiert diesen Verlust. Ich stelle fest, dass ich hier einen archaischen Dialekt spreche, und nicht wegen dem Wort »Lebensgemeinschaft«. Es könnte ja auch ein gleichgeschlechtlicher Lebenspartner bzw. Lebensabschnittberauber sein. Wofür ich am allerwenigsten Verständnis aufbringe, sind die Forderungen der Schwulen, nun auch auf dem Zivilstandsamt vorgelassen zu werden. Ausgerechnet sie, die sich für die sexuelle Freiheit höchste Verdienste erworben haben! Ebenso töricht der Versuch, das bisschen Ungebundenheit, das einem unverheirateten Paar bleibt, gesetzlich zu regeln und aus der temporären »Lebensgemeinschaft« eine Soso-Lala-Ehe zu machen. Der Ausdruck »wilde Ehe« ist wahrscheinlich nur deshalb außer Gebrauch gekommen, weil sie schon immer nur halb so wild war.
In der Zeit meiner halb so wilden Ehe sagte man mir oft, ich sei ruhiger geworden – ruhiger gerade weil die Zeichen des Niedergangs und der Aussichtslosigkeit sich vervielfacht hatten und allmählich mein tägliches Firmament bildeten. Nie war mir so grausam bewusst geworden, dass ich keine gesellschaftliche Rolle, keinen Ort hatte, und dafür schon bald schwer büßen würde. Vorher war dieser Ort eben meine Vagheit, meine Beweglichkeit, mein Nichtdazugehören gewesen. Jetzt aber erlahmte dieser vielleicht lächerliche Stolz, und in der Erlöschungsgefahr blinkten die letzten Warnlichter auf. Und ich durfte wieder von vorn anfangen.
Ich sehe meinen Freunden zu: Typen um die fünfunddreißig, vierzig, die nun reihenweise in dem Sieb hängenbleiben und ihre teils putzigen, teils pathetischen Hochzeits- und Geburtsanzeigen verschicken. Noch so ein Sixties-Revival. Wenig später hat man, wenn sie sich überhaupt je wieder blicken lassen, das bestimmte Gefühl: was gäbe der stolze Besitzer seiner Frau nicht darum, einen Nebenbuhler zu haben. Man wird mich einmal mehr der Frauenfeindlichkeit zeihen, und so ist es ja nicht gemeint: als Frau würde ich meine Freunde, oder gar mich selbst, erst recht nie in diesen allzu exklusiven Klub aufnehmen.
El forastero
Als wildfremdes hergelaufenes Subjekt bin ich geeignet, mich den Einflüsterungen der Stadt auszusetzen, und sie sagt also ununterbrochen zu mir: Don’t take me, don’t leave me. Ein guter Rat für Willensschwache! Die Zeit ist ein Sieb, durch das ich meine Süchte ins Straßennetz filtere, in diese Nervenbahnen, aus deren an sich wohlklingenden, ermutigenden Namen sich nach und nach Ereignisse und Taten herausschälen. Die schwärmerische Veranlagung, an der ich litt, und die wilde Freude, die mich oft allein aufgrund des banalen Sachverhalts ergreift, auf einem Trottoir zu gehen, werden durch die Unermesslichkeit der Stadt glücklich gedämpft: zu gehen gleicht hier einem Dahinschwinden. Neulich folgte ich einem Weib, das raschelnde Dessous vermuten liess und mir dadurch auffiel, dass es absonderlichen Schaufenstern, so jenen von Fahrschulen, Klempnereien und sogar Laboratorien seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Als Niemand, der ich nun einmal bin, dürfte ich den Frauen gegenüber ein etwas forscheres Wesen an den Tag legen, d.h. ihnen öfter kleine wohlgestalte Ferkeleien zuflüstern, die sie mit knappem Dank entgegennehmen. Auch ich werde ja von dem Frauchen, mit dem ich Tisch und Bett provisorisch teile, sobald uns der Kellner den Rücken zuwendet, mit starken Koseworten bedacht, die mich behaglich erröten lassen. Es ist dabei nichts Persönliches, sie hat es vielleicht in einem Roman gelesen, aber wir sind uns weniger fremd, wenn wir wähnen, sie (d.h. sie) sage es mir (d.h. mir).
Brief aus einem Liebesverlies
Lieber Herr, manch einer ist dem Papier gegenüber desto hilfloser, je genauer er zu wissen wähnt, was er ihm anzuvertrauen hat: auf der Suche nach der passenden Form büßt der Inhalt jede Anmut ein. Das ist jedenfalls meine Situation hier am Pult (so nenne ich das massive Möbel, auf das ein schulzimmerliches Licht fällt und sich in meinen gesträubten Brauen verfängt). Meine Befürchtung ist allerdings auch die, Schleusen zu öffnen und dann festzustellen, dass der vermeintliche Reichtum da hinten (im Seeland der Ideen) längst versickert ist.
Die Frauen scheinen mir mäßigend auf uns zu wirken, womit angetönt sei, dass ich am Tag nach einem am Busen einer liebenden Seele vertrödelten Abend eher als nach einer Sauftour durch schwülichte Clubs, wie zum Beispiel gestern, zu vernünftigem Tun mich sammle. Ist Ihnen die Syntax auch manchmal nicht ganz geheuer? Wenn ich so an ihrem spröden, nein mürben Wesen mich versuche, leuchten mir die Vorteile einer wirklichen, menschlichen, einer Herzensbindung ein; indessen ist gerade eine solche die Ursache meiner Entmutigung.
Ein hiesiges Frauenzimmer hat mich, wenn auch unter gleichzeitiger Erweiterung meines erotischen Horizonts (ich sehe Sie beifällig nicken), in die peinlichste Gefangenschaft gesetzt. Nennen Sie es meine Verschoßhundung.
Gestern zum Beispiel war ein Ping-Pong-Abend bei Freunden vorgesehen: ausgesprochen ein Zeitvertreib für Häftlinge, nicht wahr, und ich bin ja auch eine Art U-Gefangener. In Strafanstalten wird heute vornehmlich Ping-Pong gespielt. Zum Glück musste ich mal kurz austreten und da kam mir die Erleuchtung, was früher eine Spezialität von mir gewesen ist: grußlos abzuschleichen, die Sportfreunde Sportfreunde und das Frauchen Frauchen sein zu lassen, durchzubrennen, wenn auch vorläufig nur mit mir selbst.
Die Straße: von Bürotürmen pfiff ein eisiger Wind. Ich wärmte mich innerlich an meinem schlechten Gewissen und schritt wie ein Doc Holiday würdevoll hustend aus. Noch kenne ich diese Stadt nicht, wie es ihr gebührt; steckte meinen Kopf in Bars für alte Trinker, Wüstlinge oder eine Clientèle, die dem Cover einer Heavy-Metal-Platte entsprungen sein musste; irrte eine halbe Stunde durch kriminelle Metroschächte; kam endlich in einem wirtlicheren Stadtteil wieder an die Erdoberfläche.
Es blieb trotzdem ein freudloser Abend. Ein Verhätschelter ging da in Freiheit. Ich trank und trank und dachte nach. Ein aus Lodz gebürtiger Taxifahrer brachte mich gegen drei Uhr nach Hause. Ich schlich mich in die Wohnung, in der Hoffnung, von mein schlafendes Weib nicht in diesem Zustand erblickt zu werden. Legte mich hin, da merkte ich erst, dass das Bett leer, d.h. sie noch gar nicht von dem Ping-Pong-Abend zurück war. Natürlich verzieh ich ihr (und sie mir), als sie sich im Morgengrauen zu mir legte. Heute versuchte ich vergeblich, einige meiner gestrigen, in ein Notizbuch gekritzelten Geistesblitze zu entziffern.
Herzlich, Ihr Ya’akov