[1991]
42nd & Fifth
Bibliothekarisches Bisschen
Nieseltown, ich meine Nuyouk, Neuork, Noviorque, klimatisch kein privilegierter Ort. Die Radiatoren pupten und schnalzten traulich, und ich baute mein Büro zwischen den cholesterolfreien Frühstücksresten auf, Melonen- und Grapefruitschalen, auch neuseeländischen Heidelbeeren. (Amerika ist das Land der verführerischen Stimmen, wie die des Ausrufers gestern bei Dean & De Luca, der so anheimelnd-schnarrend »blackberries-blueberries-raspberries-strawberries« anpries: diese Beeren hatten einen Ton, aber sie schmecken nach nichts; taugen nicht einmal dazu, Lippen und Zunge einzufärben. Wenn ich an den blauen Kindermund von einst denke.)
Arbeiten: meine »Wirtin« saß inzwischen in der Badewanne und blinkerte mir zu. Manhattan kann eng sein, müssen Sie wissen, die Wanne steht direkt neben dem Esstisch, der zugleich Schreibtisch ist. Das Telephon klingelte ohne Unterlass, und Louis Armstrong drehte grunzend Runden auf dem Auto-Reverse-Band. Wie soll sich da einer konzentrieren? Ich packte meinen Laptop ein, murrte der Badenden ein »Later« zu. Draußen kaufte ich einem chinesischen Straßenhändler einen Schirm mit Pseudo-Mahagoni-Griff ab, und prompt hörte es auf zu regnen. Heute schien mir so ein Tag voller Bindestriche zu werden.
Sie sollten mich sehen, wie ich, gehetzt in einen Bagel beißend, stoppelbärtig, im geliehenen Trenchcoat, mit meinem neuen Schirm und dem Computer zwischen all den menschlichen Miszellen untergehe, welche diesem Stadtteil seinen Ruf eingetragen haben. New York hat schnell seine Wirkung auf mich gehabt. Äußerlich ein Amerikaner zu werden ist keine Kunst, nur mit der Mentalität hapert es noch. Eines nicht: etepetete sein! Es ist Nachkriegszeit und West 42nd Street sieht wirklich wie kriegsverheert aus mit ihren Sektenpredigern und all den Reklamezetteln, die auf den verruchten Trottoirs herumgeweht werden.
Port Authority Bus Terminal, Times Square, Avenue of the Americas, endlich Fifth Avenue: Schnittpunkt des Schmuddels par excellence mit dem Inbegriff des Luxus und der Moden. Fabelhaft, dass an dieser Ecke ausgerechnet eine Bibliothek steht, und nicht irgendeine Bibliothek, sondern die N.Y. Public Library, die zweitgrößte der Welt (nach Washington, nicht nach Paris oder London, du unverbesserlicher Eurozentriker). Hier will ich arbeiten, schließe im Lesesaal meinen Computer an, schlage zunächst die »Times« auf. (Nachträgliches Detail zum »Wüstensturm«: am Golf fielen in den hundert Stunden, die der Landkrieg dauerte, 28 Amerikaner, und in New York geschahen 22 Morde.)
Sie ist übrigens ein neutraler, will sagen kein eigentlich amerikanischer Ort, diese Bibliothek, und vielleicht bin ich deshalb hierhergeflüchtet, denn unterschätzen Sie nicht die Befremdung, die Amerika auslöst, während es gleichzeitig Europa zum Verschwinden bringt. Europa ist einfach nicht mehr vorhanden, sobald Sie in JFK ankommen. Hier in der Bibliothek wenigstens bleiben Spuren davon; der Herr gegenüber studiert einen Band über das barocke Rom, und ich kann im Getuschel und Gehüstel des Lesesaals meine New Yorker Chronik aufnehmen.
Grand Central
Déjà vu
Wieviele Züge nach Poughkeepsie fahren! Ich lese es auf dem rasselnden Fahrplan in der Halle der Grand Central Station, vom Café aus, das wie eine Loge über den Pulks zielstrebiger Reisender präsidiert. In Wirklichkeit fährt niemand weiter als bis Poughkeepsie, sechzig Meilen nördlich von New York; die letzten Langstreckenzüge wurden neulich in die Penn Station verlegt, und dieser monumentale Bahnhof, dessen 67 Geleise einst einen ganzen Kontinent erschlossen, ist nurmehr eine Haltstelle für Pendler.
Das tut seiner Grandeur keinen Abbruch. Mich interessiert weniger die Fassade in jenem historisierenden Stil, den die Amerikaner brav Beaux Arts nennen, eher schon die märchenhaften Gewölbe des Spaniers Guastavino in der Oyster Bar, aber mehr noch die genuine New Yorker Nüchternheit der Halle und der Rampen, die zu den silbern im Neonlicht gleißenden Zugkompositionen im Erdinnern führen: eine Architektur, die ohne Details auskommt, aber über allem liegt ein Hauch modernen Komforts, und man wird wie von dem Traum umhüllt, im Luxus zu reisen, dessen Erfüllung das Ganze triumphal verheißt. Als könnte jederzeit wieder ein roter Teppich zum Empfang einer Carole Lombard ausgelegt werden. Unter der in der Höhe sich spannenden Hallendecke erregt das unablässige Kommen und Gehen einen leisen Schwindel. Nicht vergleichbar mit dem Gewimmel europäischer Massen, und es ist kein Zufall, dass ich kein deutsches Wort dafür finde, sondern nur das englische smooth, in dem das sanft Gleitende mit der Gewissheit einhergeht, dass alle Hindernisse ausgeräumt sind.
Auch wenn wir diese Halle zum erstenmal sehen, kommt sie uns vertraut vor. Wir kennen sie schon vom Kino, wie alles Amerikanische. Als junger Mensch, 1975, hatte ich mir in der Bronx ein Auto gekauft und damit diese Leinwand Amerika durchquert, die Appalachen, Kentucky, Tennessee, Mississippi und Louisiana. In San Antonio, Texas, fuhr ich meinen goldenen Mercury zu Schrott (mein schwarzer Motelzimmernachbar hatte mir meine erste Prise Kokain gegeben, wir tranken Bourbon, ich wollte spazierenfahren und rammte bei der Ausfahrt vom car park die erste Ampel; der Neger lachte im Hintergrund aus vollem Herzen über mein Missgeschick, ein vorbeischleichender Patrol Car hielt kurz an, aber die Polizisten meinten, ich müsse mir selber weiterhelfen, und nachdem mir ein Schrotthändler das Wrack kostenlos abgeluchst hatte, nahm ich den Greyhound weiter westwärts). Es war ungefähr das einzige Ereignis der langen Reise, alles andere war nur die Bestätigung der Bilder, die mich nach Amerika gelockt hatten. Nie zuvor und auch nie später war mir fader. Is that all there is? fragte ich mich zutiefst enttäuscht. Ja, das ist alles. Man erwarte von diesem Land nicht mehr, als was man schon kennt. Das ist gerade das Eigentümliche daran, dass jeder Eindruck sich in das trügerische Stereotyp fügt, das die Wirklichkeit Kino simuliert. Nur kann man nicht nach zwei Stunden wieder hinaus.
Und nun stellt sich auch in New York, wiewohl in anderer Schattierung, derselbe Effekt ein. Ich verlasse Grand Central durch das Pan Am Building: diese Angestellten, diese Chefs, die durch die Reihen gläserner Drehtüren zu gleiten scheinen, auf der Straße wie verweht werden oder ein Taxi herbeiwinken, bewegen sie sich nicht wie Statisten in einer jener geistsprühenden Komödien, die in den vierziger und fünfziger Jahren mit einer Ironie, die Europa ungelenk aussehen ließ, die amerikanische Hochkultur in die ganze Welt trugen?
West 46th & Tenth
»The Real Thing«
Heute ist meine Stadt wieder in großer Form: konfuse Kohorten auf den gleichgültigen Trottoirs, der Verkehr wie von einem kollektiven Koller gepackt, und da, in dem Meer gelber Taxis: der liebe Gott, der vor der infernalisch röhrenden Feuerwehr nach links auszuweichen versucht, aber kein Mensch schert sich um die knallgrüne Fourgonette mit der balkengroßen Aufschrift G.O.D., und ich biege von Eighth Avenue in die 46. Straße ein: uff, noch zwei Blocks bis nach Hause.
Die Wahrheit ist: diese Stadt ist immer in Höchstform. Energie, rund um die Uhr gepumpt, und anscheinend direkt aus unseren Körpern. Midtown Manhattan ist in dieser Hinsicht unübertrefflich: die Wahrnehmungsdichte ist so hoch, dass man nur eine Weile im Raster zu zirkulieren braucht, und schon sind sämtlichen zerebralen Relais durchgebrannt. Man erblindet, stochert sich durch, hat gerade noch die Geistesgegenwart, Bettler abzuwimmeln. Frech sind die und redegewandt, als werde hier sogar das Lumpenproletariat in Public Relations geschult. (»Ich schwöre, es ist für ein Bier.«) Aber wir sind ja lange genug mit amerikanischen Selbstdarstellungen bombardiert worden, um uns ein Bild von dem Land zu machen. Man erwarte von der Wirklichkeit nicht mehr, aber man erwarte auch nicht weniger. Es ist alles da: vom spöttischenn Glamour bis zum öffentlichen Verröcheln.
Nach Clinton, in den Wilden Westen von Manhattan, hat es mich verschlagen. Das ist freilich ein anderes Territorium als die Upper East Side oder SoHo – dort oben, dort unten, wo ausschließlich schöne Menschen Designerwasser nippen und Hausbuddhas einkaufen – oder als selbst das verspielte East Village mit senen Althippies und Spinnern. Auf der Westseite, gleich hinter den letzten Wolkenkratzern, den letzten Off-Broadway-Theatern: lauter Schlachthöfe, Frachthöfe, Tankstellen, Taxiwerkstätten. Unweit der stillgelegten Docks an der 42. Straße befinden sich die Stallungenn der berittenen Polizei; nachts höre ich manchmal das Hufgetrappel.
Aber die Menschen erst! Manhattan ist ein geometrischer Raster, in dem das Leben aufplatzt. Und immer an den Längsachsen, den Avenues (denn die Blöcke an den Querstraßen sind zu lang – einen Viertelkilometer –, als dass es sich dort ballen könnte; das Stadtleben braucht Ecken), und jede Avenue ist wieder eine neue Sensation. Auf Seventh sind es noch anonym hastende Massen, Kreditkartenvisagen und Stiernacken. Eighth ist unter schwarzer Kontrolle: Porno, Ramsch, Crack. An Ninth bekommt man den Eindruck, neunzig Prozent der Passanten seien physisch beschädigt, ernstliche Missbildungen, günstigenfalls fett-, wenn nicht magersüchtig. Würde sich eine dieser Kreaturen in, sagen wir, Zürich auf der Straße zeigen, es gäbe einen Volksaufstand. Das heißt, anfangs hatte ich dieses Gefühl; jetzt frage ich mich manchmal, ob ich schon so abgestumpft bin oder ob ich alles zuerst in einem europäischen Zerrspiegel sah, oder hält mein Jetlag schon drei Wochen an? Wie soll man Gewissheit kriegen, wenn die Wahrnehmung erst Alarm schlägt und dann zusammenbricht?
West Broadway & Grand
Impromptu I
Diesen Typen mochte ich in Barcelona nicht und in London nicht, er war dort ein genauso lausiger Kellner wie hier in La Gamelle, wo ich ihn nach Jahren wieder treffe, den weltläufigen Québécois. El mundo es un pañuelo, wie der Spanier sagt.
Das hat man von seiner frankophilen Witterung, dass man mitten in New York an Bars und Bistros heranläuft, die tel quel aus Alt-Paris importiert scheinen, inkl. geschürzter Garçons und Gauloises-Patina, dabei sind sie erst z.B. 1988 eröffnet worden. Aber eben, es wird frz. gespr. und 1 »Änkhen« kostet $6.
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Im Traum kam ich gerade aus La Gamelle und stand auf dem West Broadway, als das World Trade Center weggeblasen wurde. Man hatte niemals mit so stürmischen Winden gerechnet. Die beiden sturen Türme wurden einfach über den Hudson nach New Jersey hinübergeweht, ein Wirbel aus Stahl- und Glastrümmern, Mobiliar und fliegenden Spannteppichen mitsamt den Zehntausenden, die sich wie jeden Morgen in die Lifts gepfercht vor ihre Bildschirme begeben hatten. Ein antibürokratischer Traum, vermutete jemand. Vielleicht auch nur geträumte Rache an der Architektur.
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Die Telephonie ist so weit automatisiert, dass man sich im binären Zwiegespräch mit einem Computer bis in die gewünschte Abteilung einer Fluggesellschaft oder bis zu seinem Kontostand durchwählen kann (und dann dies: eine frauliche Roboterstimme teilt mit, dass man noch über sixty-one dollars eight cents verfügt). In Brooklyn teilen Polizistinnen, Laptop am Schulterriemen, Strafzettel aus. An Second Avenue verkauft Ihnen nachts ein Stadtstreicher um einen Spottpreis denselben Toshiba, der Sie fast ruiniert hat (vielleicht funktioniert er sogar). Nur ein ganz normales Telephongespräch führen, das funktioniert selten, weil immer die Konkurrenz dazwischenzufunken scheint.
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Ich stand an einer Theke. Draußen glitt ein Mensch auf einem motorbetriebenen Trotinett vorbei. In einer Ecke der Bar schleuderte einer wie besessen Bälle in ein Basketballnetz. Zwei Japanerinnen bestellten »Monster Margaritas« (ach ja, das schöne Bestellen: »Absolut martini straight up with a twist«, murmelte ich). »Hi«, machte die Fremde neben mir (in Amerika gibt es keine Fremden) und fing eines der Zwanzig-Sekunden-Gespräche an. An einer Party glaubte ich festzustellen, dass der korrekte Zeitraum für die Anwesenheit eines Gastes zwischen 45 und maximal 75 Minuten liegt.
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Es gibt Europäer, die der Musen halber nach New York fahren. Schon in der Schlange am Zoll hatten zwei spanische Paare besprochen, ob es heute noch für die Frick reiche, und so ein Pech, am Montag sei alles geschlossen, und am Mittwoch fliegen sie ja wieder zurück. Das Wort MoMA, wenn es denn ein Wort wäre, erscholl wie ein Stoßgebet aus ihren Mündern. Die fliegen über den Atlantik, um sich europäische Kulturgüterreservate anzusehen. Vielleicht das Uninteressanteste überhaupt an New York, obwohl, ja: in Alabama oder Colorado, da würde ich auch wieder in Museen gehen; da müssen sie ich weiß nicht welche abartige Note haben.
75th & Columbus
Impromptu II
Nach dem kumpelhaften Gebaren der beiden Verkäufer zu schließen, hätte ich mich in einer Spenglerei gewähnt, wären nicht durchbrochene Dessous, Strapse und allerhand Lederzeug im Angebot gewesen.
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Es gibt keinen Sex in Amerika; es gibt bloß Geschlechtsbeziehungen. Es braucht auch gar keine Erotik: Geschlecht ist, wie alles andere, ein praktisches Problem, das empirisch gelöst wird, je nach den Neigungen, die jeder sich selbst zuerkennt. Keine Schuld, keine Unschuld, keine Verführung, nur die stümperhafte, schlüpfrige und hilare Welt des sexuellen Sortiments, durch eine an Seifenopern geübte Mimik formal abgesichert. Als wäre es mit dem Dummchen und dem Luder nicht genug gewesen, ist in den achtziger Jahren die Karrierefrau dazu gekommen, die unter date rape leidet und in aller Sachlichkeit noch ihre eigene Prüderie mit Argwohn bedenkt. Solche Östrogenopfer gehen nicht, sie humpeln, um nicht vergewaltigt zu werden. Glücklichenfalls haben sie den Charme von Katzen, die sich am Wasser nass gemacht haben. Die wirklichen Verächterinnen aber geben sich mit der Obszönität jener Stripteaseusen preis, die eine privat nicht geduldete Erotik in der Öffentlichkeit vorheucheln und auf der amerikanischen Theke vor der Nase der Bargäste masturbieren. Keine Anmut, keine Verführung, vielleicht weil es keine Scham gibt – außer jener der weißen vor der unendlichen sexuellen Überlegenheit der dunkelhäutigen Amerikaner.
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A propos Farbige, vorhin kam ich durch die 42. Strasse und da war so eine Schar Sektenbrüder aufgebaut, in Weihrauchduft und samtenen Tuniken, und bildeten eine Gasse, da musst du durch, und die hatten sich schon einen zahmen Weißen geangelt und der Prediger – denn immer wird ja gepredigt, die schöne breitmäulige Rhetorik – schrie auf ihn ein, »Do you think you’ropeans can make love as good as we can? You
don’t have the equipment for that, man. That’s why you use your tongue!« Allgemeine Heiterkeit.
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Ich habe immer für die sonore Nonchalance des amerikanischen Radios geschwärmt. Aber es ist eine rein männliche Sprechkultur. Hingegen die Frauen: quäken entweder oder sie ahmen die Männer bloß nach. Für weibliche Stimmen muss man nach Frankreich gehen.
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Was ist es denn, mein Problem mit der amerikanischen Frau? Schon die New Yorker Straßen, auf denen es von Spielarten und Abarten der Humanität nur so wimmelt, machen unwirsch, weil man alles sieht, nur kaum je ein betörendes Weib. (Im Waschsalon immerhin sitzt regelmässig mindestens eine schöne Kambodschanerin oder Venezolanerin und starrt in den Tumbler. Ich spreche aber hier von WASP-Amerika.) Man hatte mich zum Baseball ins Yankee-Stadion eingeladen, damit ich eine authentische Americana zu sehen bekäme: all die Busenwunder, die zwischen den Sitzreihen Papptabletts voll Budweiser und Hot Dogs balancierten und von den Hooligans bejubelt wurden. Das wirklich Tragische sind weniger die Gesichter mit ihrem affichierten Lächeln, das nur ein unbeholfenes Lebenszeichen ist, als die Körper, als die Haut selbst in ihrer unheimlichen Straffheit, als könnte sie jederzeit platzen. Amerika hat dieser Haut seinen Puritanismus aufgestempelt, es hat seine Frauen prall und plump gemacht, bar jeder Anmut. Ein Hass auf den Körper: man sehe nur, wie sie ihn methodisch mit Fitnessprogrammen schinden und mit Nahrung vollstopfen, die ihrerseits gleichzeitig prall, pappig und fad ist.
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Meine eigenes Leben ist hier bald von jenem amerikanischen Lack der Simulation überzogen worden, ist nurmehr die banale Repetition des roaming: eines von Millionen Kinoleben, a regular guy.
Madison & E 59th
Passagier im Paradies
Il n’y a pas de solution parce qu’il n’y a
pas de problème. Marcel Duchamp
Was sträubst du dich gegen New York? Tust dich gar schwer damit, muffelst und mäkelst daran herum und wirst gleichzeitig vom schlechten Gewissen geplagt, es sei bloß dein unbezwinglicher Europadünkel – Europa, das sich so gern beneiden, bewundern lässt und nach dem in den USA kein Hahn kräht, nicht einmal hier an der Ostküste –; die Selbstgewissheit der Amerikaner ist es, die uns rasend macht, die Selbstverständlichkeit, mit der sie das einzige heute gültige Zivilisationsmuster vorleben, Insaßen eines Paradoxes, nämlich einer verwirklichten Utopie.
Anstatt Erleichterung darüber, dem europäischen Getue (in seiner jeweiligen lokalen Färbung) entronnen zu sein, empfinde ich ein Unbehagen gerade an der amerikanischen Toleranz, Zwanglosigkeit und Redlichkeit: ich weiß mit einem so unvoreingenommenen Land nicht viel anzufangen. Kaum je einem Anspruch gewachsen sein zu müssen, kein
möglicherweise hohles Formrepertoire so gut wie möglich zu chargieren, wirft mich auf meine Nicht-Identität zurück und nimmt mir meine Verletzlichkeit, in die ich mich sonst verkrieche. In Amerika können Sie überall »sich selbst« sein: unmöglich, sich unmöglich zu machen oder Anstoß zu erregen. Schon Dickens hatte von einem »elastischen Land« gesprochen. High life, low life – in welchen Milieus Sie sich auch bewegen, es werden keine formalen Requisiten gefordert, Sie werden tel quel akzeptiert und ausgelacht. Keine Vorbedingungen außer denen des Dollars. Möchte ich lieber ernst genommen und abgewiesen werden? Unter Amerikanern bin ich automatisch ein famoser Kerl, d.h. eine dezente Null. Die amerikanische Verachtung für europäische Hirnmenschen ist frei von allen Komplexen. »Are you a writer or something?« argwöhnt nicht ohne jovialen Unterton, allein aufgrund meiner Kleidung, ein Kellner. Die haben mich hier schnell durchschaut!
Was mir fehlt, ist also die gewohnte Heuchelei. Alles ohne Umtriebe, ohne Falsch. Geradlinigkeit war nicht zufällig das Wort, mit dem ich früher mit Vorliebe bezeichnete, was mir an amerikanischen Filmen gefiel. Der amerikanische Raum ist in diesen Menschen; es sind Prärieseelen, Wanderseelen. Frei verfügbar, mit einem Minimum eindeutiger Codes und praktischer Denkmuster erschlossen. Baudrillard hat den amerikanischen Verstand auf den Nenner gebracht: nicht die Wirklichkeit wird in Begriffe, in eine Ideologie zerlegt, sondern die Ideen werden verwirklicht. Kein esprit de détail, aber auch kein kultureller Nährboden, der dann fault, kein festgeschriebener Hintergrund, der uns einzwängt (Schweizer sein, und dies für immer!) Irgendwo irgendwer sein, diese Utopie ist Tatsache. So wie die Amerikaner ihren Wohnort dauernd wechseln, von Oregon nach New York und weiter nach Georgia ziehen, so scheint auch ihr Innenleben auf einen Bildschirm geworfen, auf dem es, unverankert, mobil wie von einer Mac-Maus gesteuert, den Impulsen der heimlichen Ironie folgt.
Amerika sagt mir daher, mit Duchamp, dass es keine Lösung gibt, weil es kein Problem gibt. Duchamp, der, nebenbei bemerkt, New York fast im Alleingang zur Welthauptstadt der Kunst gemacht hat – Picasso hat New York nie betreten.
Seventh & W 27th
Impromptu III
Das Schönste, in acht Wochen oder so, in New York? 1.) das Nymphchen, nachmittags, in einem Hauseingang am Broadway (ich blieb wie vom Schlag gerührt, ungläubig-scheinheilig bei einem Telephon stehen und schielte die Unschuldserscheinung an, als gleich darauf ein Chevrolet hielt und das jungmägdliche Hur auf einen Wink einstieg; der belockte Nacken, dann die roten Krallen als letztes in der Autotür verschwanden). 2.) Mondrians Blumenstudien bei Sidney Janis; Amaryllen, Chrysanthemen, die etwas von der Autonomie der New Yorker Turmgiebel, Zinnen und Kranzgesimse zu haben schienen, ihrer hoch oben den Boden herausfordernden Selbstvergnügtheit. 3.) das Gebirgslicht an Seventh Avenue, zur Dämmerung, in jener traurigen, von uralten Wolkenkratzern gebildeten Schlucht zwischen der 23. und 34. Strasse.
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Das Erstaunliche des Wolkenkratzers, schrieb Roland Barthes, sei, dass er uns überhaupt nicht erstaunlich erscheine. Stehe man einmal davor, so vermittle er einem allenfalls ein Gefühl wie: warum auch nicht? Dasselbe drückte Mondrian aus, als er 1942 einem Journalisten erklärte: »Zu hoch, die Wolkenkratzer? Nein, die sind gerade richtig so.« (Mondrian, der als Greis in New York den Boogie-Woogie tanzte und dessen letztes Bild, Broadway Boogie-Woogie, die unübertroffene Abstrahierung der lebendigen Abstraktion New York ist).
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Die Lichter von Los Angeles, von Buenos Aires schillern vom Flugzeug aus unabsehbar wie in die Ebene gestürzte Sternbilder. Aber New York hat diesen Städten den Zusammenprall von vertikal und horizontal voraus. Was bleibt einem auf dem Empire State Building übrig als auszurufen: »Nie habe ich etwas Schöneres gesehen!« In Manhattan ist die europäische Stadt (die Vertikalität, der Straßenraum) ins Gigantische gesteigert und zugleich in den Boroughs und Vorstädten die Grenzenlosigkeit der amerikanischen Stadt vorgebildet. Als schaue man auf das Programm dieser Erde, ein funkelndes Nichts.
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Der New Yorker Stadtgeist materialisert sich in der Lautlosigkeit der Drehtüren und der Lincoln Towncars. In der Dosierung von Glanz und Unterkühltheit der Carnegie Hall, ihrem Crème mit Goldstuck. In den Leuten, die Tag und Nacht auf den Treppen vor ihren Häusern herumsitzen. In den unter dem Verkehr vibrierenden Brücken, die sich an den Rändern der Boroughs allseits wie von Höllenkreis zu Höllenkreis über die dunstigen Flüsse spannen – finstere Gelenke, die die Stadt sich selbst zurückgeben. Die Williamsburg Bridge zu überqueren, auf der Gitterfahrbahn zwischen all den schütteren Tonnen Eisen, ist eine Nervenprobe. Aber drüben in Brooklyn findet man sich unvermittelt in heiterer italoamerikanischer Nachbarschaft wieder, alles sauber und wohlfeil, die Fassaden sind durchweg aus Plastic. Eine sinnverwirrende Materialschlacht: ich klopfte ungläubig an diese Mauervorspiele (unter den verschmitzten Blicken der Anwohner) und einmal war es doch Zement, der wie Plastic aussehen wollte, aber hölzern herausgekommen war.
Washington Pl. & Sixth
The Name of the Game
Eines der Paradoxe, die New York überraschend fade machen: dass es die am meisten politisierte und zugleich eine der unpolitischsten Städte ist. Jeder Supermarkt, jeder Nachtclub hat hier seine policy und hält sich etwas darauf zugute: »Unsere Politik sieht einen Mindestverzehr von $20 vor«. Aber wo alles »Politik« ist, gibt es keine wirklichen politischen Kriterien mehr, nur noch Pawlowsche Reflexe.
Zum Beispiel die Whitney-Biennale. Eine solche Ausstellung, die für den Stand der amerikanischen Kunst repräsentativ zu sein beansprucht, kann gar nicht anders als nach einem soziologischen Schlüssel organisiert werden: nach Quoten, und die Kritik ist denn auch versessen darauf, nachzurechnen, wieviele Frauen, wieviele Farbige oder Homosexuelle beteiligt sind, während sich in der Ausstellung selbst die Exponate gegenseitig zerfleischen. Das Ergebnis ist insofern perfekt, als es genau das Minoritätengequassel, die wachsende Unversöhnlichkeit in der amerikanischen Gesellschaft widerspiegelt, und es gleicht in seiner Hässlichkeit am ehesten jenem gigantischen Bric-à-Brac, zu dem vor einigen Jahren der pathetische Versuch führte, ohne jegliche Mittel das polnische Kunstschaffen in einer leerstehenden Warschauer Markthalle zu versammeln: null Zlotys und die ganzen Dollars des amerikanischen Kunstmarkts haben die gleiche Verhunzung eines meinetwegen obsoleten Kunstbegriffs zur Folge. Die Whitney-Biennale ist ein Schlachtfeld, auf dem von hundert Künstlern nicht ein einziges interessantes Bild zu sehen ist. (Ich behaupte nicht einmal, es gebe keines, aber es ist nicht zu sehen.)
Ein anderes harmloses Beispiel: die New Yorker Homosexuellen wollen nicht mehr gay sein, sie nennen sich jetzt lieber queer. Sagen Sie queer und sind selber queer, so drücken Sie sich »politisch korrekt« aus. Sind Sie jedoch straight, ein het, so bleibt dasselbe queer das Schimpfwort, das es stets gewesen ist und Sie halten sich, um sich nicht zu kompromittieren, besser an das unverdächtige gay. Die Amerikaner sind Wortrealisten, d.h. sie nehmen den Namen für das Wirkliche und sind daher ständig auf der Suche nach wertfreien Benennungen (Junkies heissen offiziell intravenous substance-abusers), aber in Wirklichkeit kann es Ihnen auf einer New Yorker Straße geschehen, dass Sie binnen fünf Minuten von einem Homosexuellen, dessen Pekinese Sie anbellt, als »straight asshole« tituliert werden, dann von einem schwarzen Prediger, der an einer Ecke Bibelexegese betreibt, als »Aussätziger« (alle Weißen sind aussätzig, schließt er aus Jesaia).
An diesem Sprachgebrauch der Ausschließung manifestiert sich eine Fanatisierung, eine Zersplitterung der Gesellschaft in Fraktionen des Hasses eben auf Betreiben jener Gruppen, die lange um Anerkennung und Gleichberechtigung gekämpft haben. Die Homosexualität war immer ein Tabu – selbst Aids hat die allgemeine Unwisseneit über homosexuelle Praktiken nicht zu durchbrechen vermocht – und sie ist es jetzt, da die Abgrenzung eher von der andern Seite her erfolgt, mehr denn je. Ich erzähle in vielleicht süffisantem Ton, weil ich wirklich persönlich die Ausbreitung der Schwulenszene satt habe, meine Erfahrungen in einem von tausend frenetischen Schwuchteln bevölkerten New Yorker Club und ernte dafür – von einer heterosexuellen Frau wohlverstanden – nur verbissenes Schweigen: so spricht man nicht von einer Minderheit! Als ob es nur eine Frage der Toleranz wäre und nicht ein anthropologisches Phänomen ersten Ranges.
Ave B & 6th
Ethnien, Alphabetville, Loisaida
Rassen, Völker, Stämme – lauter vorbelastete Begriffe und in diesem Falle, um auf den New Yorker »Schmelztiegel« zu kommen, wie er einst metallurgisch-idealisch hiess, spricht man behutsamer von Ethnien: ein adretter Plural, der wie ein Singular klingt; als sei von einer hübschen Landschaft die Rede.
Die Lower East Side, das klassische Einwandererviertel, ist mit der hispanischen Immigration zur Loisaida geworden. Die jüdische Gemeinschaft (500 Synagogen und Talmudschulen vor dem Ersten Weltkrieg!) hat sich bis auf einige altertümliche Geschäfte und koschere Speiseanstalten aufgelöst, und zwischen dem Barrio Alfabeto (Avenues A B C D) und der von Canal Street her expandierenden Chinatown ist Little Italy zerrieben worden. First Avenue ist teils noch polnisch-ukrainisch, aber man braucht nur der Avenue B entlang, durch Clinton Street zu gehen und sieht sich unvermittelt in die Karibik versetzt – eines der hektischsten, müßigsten Spektakel, die New York zu bieten hat.
Die Ethnien fegen einander gegenseitig einfach weg. Wie kommt es, dass die spanischsprachigen Einwanderer mehr als alle zuvor an ihrem Idiom festhalten, obwohl sie damit nur ihrer Ghettoisierung Vorschub leisten? Teils einfach daher, weil keine andere sprachlich einheitliche Gruppe je in so kurzer Zeit so zahlreich in das Land geströmt ist: jeder vierte New Yorker spricht heute spanisch, und dabei ist New York nicht einmal mehr das »Tor zu Amerika«; die neuen Einwanderer liefern sich ihre Bandenkriege jetzt eher in Los Angeles.
Der alte, weiß und schwarz konfrontierende Rassismus ist dabei, in eine vielzüngige, allseitige, orgiastische Feindseligkeit zu zersplittern: Hass der Kambodschaner auf die hispanics, Hass der Afro-Amerikaner auf die Juden (der Antisemitismus der radikalen Schwarzen ist eines der befremdlichsten Phänomene), Hass aller auf die fleißigen Koreaner. Bedenkt man indessen, dass sich die europäischen Einwanderer einst genauso befehdet haben, um den Vorrang ihres Stammes zu sichern, so erweist sich diese gewaltsame Rivalität als amerikanischer Grundzug. Alle gegen alle: Musterbeispiel einer gescheiterten Gesellschaft, aber durchaus im Sinn des amerikanischen Traums, dass dir das Land ungeachtet der Herkunft, der Sprache, der Religion zu deiner Verwirklichung offensteht.
Die europäischen »Überfremdungsprobleme« erscheinen von hier aus einfach lachhaft, die Lösungsversuche befangen zwischen zwei gleicherweise grotesken Ansätzen, dem Ausschluss oder einer eher kulturell-dekorativen Integrierung. Zwar ist die Ausgangslage eine andere: die amerikanische Zivilisation steht von Beginn weg unter dem Zeichen der Uneinheitlichkeit. Aber es ist doch für uns eine verblüffende und beschämende Erfahrung, wie die neuen Minoritäten in New York nicht nur sofort untereinander rivalisieren, sondern Einzelne mit großer Selbstverständlickeit ihren Platz einnehmen – der Jemenite, der den grocery store gegenüber führt ebenso wie der indische Taxifahrer, der mit einer gewissen Genugtuung in seinem Chevrolet über die Buckel und Schwellen von Sixth Avenue federt, der the Americas genannten.
Nichts ist jedoch deprimierender als die falsche Fröhlichkeit der beiden böhmischen Brüder, armer Teufel aus einem melancholischen Land, die nie aus dem Schlamassel kommen werden – zu europäisch geprägt vielleicht –, aber immerhin in ihren Attitüden schon auf positiv gepolt, wenn sie nachts im Suff grölen: »What a great country!«
Eighth & 44th
Impromptu IV
Diese Geschichte handelt von nächtlicher Verwahrlosung, und das verleiht ihr einen Unterton, der den Wörtern, mit denen ich sie sagen will, den Atem raubt. Sie spielt auf einem Trottoir im Pornobezirk und ist eine nicht bestandene Bewährungsprobe. Der muss ein treuherziger Geselle sein, dem solches Missgeschick widerfährt, werden Sie sagen, denn es ist immer eine Schmach, sich bestehlen zu lassen. Aber ich war nicht einfach naiv, ich war ein forscher Knirps, dem jäh die Pranke eines schwarzen Hünen auf die Schulter fiel. »Kokain?« hauchte es vertraulich und schon hatte er mir ein Briefchen zugesteckt. »Nimm das zurück, ich bin bedient.« »Komm kauf mir ein Bier, Kumpel.«
Und warum auch nicht? Zum nächsten Supermarkt waren es zwei Schritte, und das Bier trank ich dann selber aus der Dose, die ich zwischendurch auf dem Dach eines Coupés abstellte, worin ein zweiter Schwarzer saß. »Mein Bruder… Steig ein, wir machen ein Fährtchen!«
Nichts gegen Exkursionen, aber in der Bronx zu verröcheln, dazu hatte ich keine Lust und gab mich so abgefeimt oder – amerikanisch gesagt – so roué, so blasé, wie meine gehobene Stimmung und die Umstände es nahelegten. Ich klopfte meinem schwarzen Bruder auf die hohen Schultern und nannte ihn buddy, aber was half’s. Er hatte ja sein
Pfand bei mir, das Briefchen, mit dem er mich erpresste (er nahm es nicht zurück: umgekehrte Geiselnahme mitten im nächtlichen Verkehr von Eighth Avenue). Hätte ich mich auf ein Taxi retten sollen? Da tändelten wir herum und ich machte nachgerade Anstalten, nun zu gehen, als er kurzerhand und mit der Symmetrie eines Turmspringers seine Pranken in meine beiden Hosentaschen versenkte. Und dann besah er sie nicht einmal, die paar Scheine, die da gewesen. (Das lächerliche Briefchen durfte ich behalten.)
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Zur selben Stunde wurde ein Mann in der Bronx von einem verdächtigen Geräusch geweckt, sah im Flur etwas huschen, schoss augenblicklich und merkte erst, als der in seinem Blute lag, dass es sein Sohn gewesen war. In Queens war schon am frühen Abend ein Schulmädchen von einer verirrten Kugel niedergestreckt worden. In Harlem lag ein Ladenbesitzer auf der Lauer, denn er rechnete mit Dieben. Einige Polizisten in Zivil hatten ebenfalls diesen Gedanken und schlichen um das Lokal. Man hielt sich gegenseitig für Einbrecher und es gab zwei Tote. Solche faits divers, Tag für Tag, machen die New Yorker mürbe. Aber je bedrohter sie sich durch das blinde Morden fühlen, desto wirksamer schützen sie sich… 1990 waren es 2250 Gewaltopfer in der Stadt.
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Amerika liebt es, seine Eingeweide in Statistiken zu entblössen. »92,5 Prozent der Amerikaner sind gläubig!« »80 Prozent der Weltproduktion an Kokain werden in den USA konsumiert!« »98,5 Prozent der Kinoeinnahmen entfallen auf amerikanische Filme!« »Jeder Einwohner der Vereinigten Staaten verbraucht drei- bis fünfmal mehr Benzin als der durchschnittliche Westeuropäer!« Eine Häufung monströser Fakten, aber was auf den ersten Blick wie schonungslose Selbstdurchleuchtung aussieht, ist lediglich der dumpfe Genuss der Tatsache, dass Amerika das Böse genauso wie das Gute für sich monopolisiert. An Times Square gibt es eine elektronische Anzeigetafel, auf der man die Entwicklung der Staatsverschuldung mitverfolgen kann, eine dreizehnstellige Zahl, die Sekunde für Sekunde um $10.000 wächst. »Your family’s share« wird auch angezeigt, zur Zeit ungefähr $53.000. Und dann blickt man um sich und nein, welcher Hohn: diese grimmigen und zerlumpten Gestalten auf 42nd Street haben schon mal gar keine Familie.
52nd & Fifth
Impromptu V
Woher die derzeitige, sicher nicht letzte Krise New Yorks? Sie setzte mit dem Einbruch des Geldmarkts ein, an dessen Boom sich die Stadt bis 1987 gesättigt hatte. Hinzu kommt, dass es von der astronomischen öffentlichen Verschuldung, Erbe der Reagan-Doktrin, besonders hart getroffen wird, weil die staatlichen Zuschüsse geschrumpft sind. Neuerlich dem Bankrott nahe, schränkt New York seine sowieso prekären Fürsorgedienste ein. Die Botschaft ist unzweideutig: entweder du bist dabei oder du gehst kaputt. Be a success or bust.
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Gleich am ersten Morgen, als ich im Laden gegenüberOrangensaft holen ging, schnellte mir hinter einem Regal hervor ein Expander ins Gesicht, den ein Kunde ausprobierte. Dabei hatte der schon Muskeln und wer hätte gedacht, dass ein Gemüseladen Expander führt.
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Die Fettleibigkeit ist das heimliche amerikanische Schönheitsideal. Nicht im Sinne Rubensscher Üppigkeit, nicht als Statussymbol wie in Indien, sondern als Entsprechung der irren Blähung, die die amerikanische Gesellschaft überhaupt mitmacht, haben deren Mitglieder die Grenze zwischen ihrem Körper und dem Außen aufgelöst, um sich den Raum selbst einzuverleiben: die »unbegrenzten Möglichkeiten« in anatomischer Konsequenz.
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Es gibt eine gesellige Pflicht, sich immerzu »great« zu fühlen. Sie ist Vermittlerin des Wunsches, das Lebensgefüge zu glätten, jegliche Zwischenfälle auszuschliessen und wenn schon, alles glimpflich verlaufen zu lassen. Als Bush beim Jogging zusammenklappte, meldete das Weiße Haus, er befinde sich »fine« und werde in wenigen Tagen wieder joggen; ausserdem habe Vizepräsident Quayle den Sonntagsgottesdienst besucht. Nicht als wäre das die Hauptsorge, sondern zum Beweis der Normalität. Es ist derselbe amerikanische Horror vor allem, was nicht rund läuft oder sich nicht konditionieren lässt, und er hat viel erreicht, von der Schleifung der natürlichen Zyklen und Intervalle im New Yorker Leben, das keine Tageszeiten kennt, bis zum Gemüse und zu den Früchten, deren Form die Perfektion eines Industrieprodukts hat. Sie schmecken nach nichts, aber im Kühlschrank bleiben sie eine Ewigkeit haltbar.
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Das New Yorker Kinoprogramm ist verblüffend provinziell. Und sogar in der Literatur sieht man diese Selbstgenügsamkeit: die »New York Times Book Review« kommt weitgehend ohne Besprechung fremdsprachiger Autoren aus. Die europäische ist eben immer noch die einzige Zivilisation, die aufs Universelle zielt; sie ist ja auch daran zugrunde gegangen.
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Die Eindeutigkeit des Films hat auf das Leben selbst übergegriffen; wer nach Amerika kommt, verlässt es um eine Erfahrung ärmer wieder.
Second Avenue Station
Below Life
Die Schwärmer, die New York so »geil« finden, sind nicht etwa blind für seine Auswüchse, seine Vulgarität; es ist gerade die Ostentation der Verwilderung, an der sie sich beduseln, die Heftigkeit des Obszönen und Banalen, die sie fasziniert.
So wie wundersamer Weise jede Main Street, jeder Country & Western-Song die amerikanische Lebensart stereotyp und ungeschmälert wiedergibt, so verdoppelt sich New Yorks Wildheit in seinem Untergrund. Man betrachte einmal das Schema des Subwaysystems: es ist nicht wie in andern Städten ein Netz, eher gleicht es einem Schaltplan oder einem Kabelstrang längs durch Manhattan, von dessen Südspitze aus ein unwahrscheinliches Bündel von Tunneln nach Brooklyn hinüberleitet, und dort erst franst der Strang aus. Eine Kabbala aus Farben, Zahlen und Buchstaben und als Transportmittel scheinbar kaum geeignet. Es funktioniert aber doch, und wie! Grollende Boten des oberirdischen Kommunikationsgewitters, rasseln die Züge durch schaurige Stationen, deren lakonische Namen in schnarrendem New Yorker Tempo über Lautsprecher durchgegeben werden: »Thirty-four street transfer to A C E ‘n’ R trains clear the doors.« Die Metro in Paris nimmt sich dagegen wie ein Boudoir aus.
Wie ist es überhaupt möglich, dass andere Städte nachts ihre U-Bahn schliessen? Hier ist es jedenfalls undenkbar und Nachtfahrten sind für jene, die darauf angewiesen sind, nur nebenbei auch Nervensache. Die Putzfrauen der Bürotürme, die um halb zwölf auf dem E train aus Queens nach Manhattan unterwegs sind, sehen lieber gar nicht hin, als einer der Fahrgäste durch den Waggon zu berserkern beginnt und in stummer Wut die Billboards herunterfetzt, jene kleinen Plakate über den Sitzreihen, deren gemeinsame Botschaft lautet, dass alles kein Problem ist. Depressionen? Hämorrhoiden? Schmerzende Füsse? Schwanger? HIV-positiv? Ueberfallen worden? Säuft Ihr Kind? Werden Sie diskriminiert? Für jeden Kummer eine Telefonnummer. Eventuell gibt es in Ihrer Bekanntschaft einen Polizistenmörder? Call 1-800 COP-SHOT.
Gegen vier Uhr bietet die U-Bahn ein pathetisches Bild. Ermattete Schichtarbeiter und Kellner schaukeln mit meschugge Gesichtern heimwärts und in jedem Waggon schlummern einige Obdachlose. Sie lassen die ganze Nacht ihre Träume durch die Röhren zirkulieren, unter der Bronx durch und Manhattan hinunter, hinaus nach Canarsie oder Far Rockaway und wieder zurück in die Bronx.
Das Brausen New Yorks
Bei offenem Fenster in der Wohnung sein heißt soviel wie draußen sein, und vielleicht ist man innen mehr draußen als außen, denn draußen sind die Eingeweide der Nacht, ist New York, wie es zetert und mordet. Wo alles veräußerlich ist und veräußerlicht wird, ist die Nacht ein einziges Innen und ich bin in diesem Zimmer ausgesperrt, nur akustisch angeschlossen über das Wummern der Motoren und Fetzen von Musik, das nimmermüde Gewäsch des Hiphop aus den offenen Autofenstern, die Apostrophes und Semikolons der Hupen, das Trompetengewinsel, an dem sich einer irgendwo delektiert, die Zurufe, mit denen die Leute sich über ihre Nichtigkeiten verständigen und die an der Schwüle der Nacht eingehen. Auf dem Parkplatz gegenüber fährt ein Taxifahrer Amok, lässt seinen V8 aufheulen und die Pneus kreischen – noch so ein Spiel, das man mit sich spielen kann.
Vom Hudson her eine Schiffssirene, und ein Zug dröhnt durch die Schneise zwischen Tenth und Eleventh Avenue, und Flugzeuge ohne Unterlass – in derselben Flucht liegt die Anflugschneise zum Newark Airport. Alles ist da, alles ist außen, ist Ausschweifung, die keine Ritze offenlässt für das geringste Geheimnis. Zu platt, zu laut, um irgend lüstern zu wirken.
Edison hatte recht, der Schlaf ist ein Relikt aus prähistorischen Zeiten, als der Mensch ruhte, weil er im Dunkeln nichts Besseres zu tun hatte. Den Leuten ist das Gefühl für Tageszeiten abhanden gekommen; dem Invaliden, der sich nachts um vier zum deli gegenüber an Tenth Avenue schieben lässt genauso wie den unsichtbaren Gestalten hinter den violetten Scheiben eines Lincoln Continental, der gleichzeitig mit dem Rollstuhl um die Ecke biegt.
»Sortir dans la rue, ce petit suicide«, Céline hat es nicht zufällig in der New Yorker Passage seiner »Reise ans Ende der Nacht« geschrieben; schon damals waren die Amerikaner »tout millionaire ou tout charogne«. Schwer zu sagen, welches dieser beiden humanoiden Extreme verrohter ist, die stiernackigen Macher oder die Miserablen und die Krüppel. Warum leben diese Leute in einer Stadt, der sie in skandalösem Maße nicht gewachsen sind? Bei lebendigem Leib verwesen, nur um mitzufiebern bei dem kalten glatten Exzess, der sie vernichtet.
Wer außerhalb seiner selbst einen Halt, einen Komplizen erwartet, dem wird es schlimm ergehen. Hier gilt nur die unablässige Simulation, jeglicher Austausch widerlegt sich selbst. Wer es nicht kapiert, wird auf der Stelle ausgelöscht. Nie war es günstiger, allein zu sein, allein nachzudenken: besser alßs in der Wüste.