[April 2004]
Zur Bauwut in der Peripherie
Hölle, doppelköpfig. Die Bilder dieser Reportage wurden kurz vor den Madrider Anschlägen vom 11. März aufgenommen. Wäre es frivol, das Inferno in den drei Bahnhöfen mit den gebauten Greueln, die uns hier beschäftigen, in Zusammenhang zu bringen? Allenfalls der könnte es sein, dass die Bahnlinie, die in Atocha endet und die für das Massaker gewählt wurde, die östlichen Ausläufer eben jener Madrider Peripherie durchläuft, in der sich heute ein in Europa beispielloses urbanistisches Desaster abspielt. So grob diese Zeichnung einer doppelköpfigen Hölle erscheint, sie führt uns mitten hinein in die Wahllosigkeit, mit der hier Raumplanung und Wohnungsbau betrieben werden, in die Verheerungen der Spekulation mithin, die das Leben unzähliger Spanier direkt betreffen und die für ihre Städte, allen voran Madrid, zunehmend eine schwere Hypothek bilden.
Wenn wir von unseren Vorstadtexpeditionen zurückkehrten, waren wir jeweils so ermattet, als hätten wir uns mit der Machete durch den Dschungel geschlagen. In Wirklichkeit hatten wir nur in einem Dickicht von Autobahnen jeweils die richtige Verzweigung oder Ausfahrt erwischen müssen. Das Madrider U-Bahnnetz ist eines der perfektesten der Welt. Wir aber wollten in Territorien vorstossen, in denen der Mensch ohne seinen vierrädrigen Freund verloren ist. Er ist es, so schien uns Suburbia-Ungewohnten, auch mit dem Auto.
Der Spanier und sein Eigentum. Es gibt in Madrid einige hunderttausend Wohnungen, in denen höchstens Gespenster hausen: sie stehen leer. Andererseits hat sich die Einwohnerzahl der Stadt bei drei Millionen, die der Agglomeration bei etwas über fünf Millionen stabilisiert – ohne Immigration wäre sie längst rückläufig. Wie kommt es also, dass heute rund um Madrid ganze Landstriche von Kranen und Stahlskeletten überzogen sind und die Zahl der zurzeit geplanten oder im Bau befindlichen Wohnungen auf dreihunderttausend beziffert wird? Entstehen da lauter Geisterstädte? Wer soll sie dereinst bevölkern? Die unbemittelten Immigranten jedenfalls werden es kaum sein, die Afrikaner, Südamerikaner und Asiaten, die heute das Strassenbild ganzer Viertel der noch vor zwanzig Jahren fast provinziellen Stadt prägen. Wie könnten sie sich Wohnungen leisten, deren Preisniveau dem der teuersten Städte Europas kaum mehr nachsteht? Zumal in Spanien «sich eine Wohnung leisten» fast gleichbedeutend ist mit: «sie besitzen».
Ohne diese Besonderheit wäre alles folgende, bis hin zu den gigantischen Baulandschaften Madrids, nicht erklärbar: 81 Prozent der Wohnungen des Landes werden von ihren Eigentümern bewohnt. Zur Miete zu wohnen, erachten Spanier für hinausgeworfenes Geld; nicht zuletzt, weil Eigentümer von beträchtlichen Steuerbegünstigungen profitieren. Zu einem normalen Leben gehört der Moment, in dem man sich als Eigentümer ins Grundbuch eintragen lässt – genauso, und traditionell ungefähr zum selben Zeitpunkt, in dem man eine Familie gründet. Ein so ordentlicher Lebensplan, in den exakt ein Gatte, ein Domizil und ein Arbeitsplatz passen, hat natürlich einen ideologischen Hintergrund. Es war der Diktator Franco, der das Wohneigentum der Spanier nach Kräften und, wie man sieht, sehr erfolgreich förderte. So erfolgreich, dass Spaniern ihre Wohnungen heute keineswegs ideologisch befrachtet erscheinen, wohl aber mit Hypotheken – das Kreditvolumen des Wohnungsmarkts beläuft sich auf 62 Prozent des Volkseinkommens. Mehr als die Hälfte des Bruttolohns fliesst üblicherweise zu den Kreditgebern. Während das vergleichsweise arme Familienoberhaupt in den sechziger oder siebziger Jahren seine Behausung nach einigen Jahren abbezahlt hatte, sind die Wohnungspreise in einem ersten Schub in den späten achtziger Jahren und erneut seit 1996 in solche Höhen geklettert, dass oft ein ganzes Leben für die Tilgung der Hypothekarschuld nicht mehr ausreicht.
Etwas ist faul am spanischen Wohnungsmarkt. Denn durch die unablässige Wertsteigerung haben Wohnungen zusätzlich zu der Funktion, Menschen ein Obdach zu bieten, längst eine andere erhalten – und manchmal nur noch diese: So wie der Grossspekulant mit den Bodenpreisen, spekuliert der Kleinanleger, anstatt sein Geld an der Börse zu riskieren, mit einzelnen Immobilien. Kaum eine andere Zahl wird von so vielen Spaniern so aufmerksam verfolgt wie der entsprechende Preisindex, laut dem sich der Verkehrswert in den letzten acht Jahren mehr als verdoppelt hat. Noch im Jahr 2003, als eine so unverdächtige Quelle wie der «Economist» davor warnte, die spanische Immobilienblase könnte demnächst platzen, zogen die Wohnunspreise in Madrid um 23 Prozent an.
Geprellt sieht sich bei dieser Entwicklung, wer wirklich eine Unterkunft benötigt. In einem verrückt gewordenen Markt, in dem Angebot, Nachfrage und Preise gleichzeitig steigen, können nicht nur Immigranten nicht mehr mitbieten. Sosehr sich die spanische Gesellschaft vom Kleinfamilienmodell, erst recht von der Illusion eines lebenslänglichen Arbeitsplatzes, wegentwickelt hat, eines ist sich gleichgeblieben: Man kommt vom Elternhaus kaum eher weg, als bis man selbst heiratet. Letzteres aber tun junge Spanier, wenn überhaupt, immer später. Ein unseliges Amalgam aus gedanklicher Trägheit, die das Wort Wohnung mit dem Begriff des Eigentums gleichsetzt, aus exorbitanten Kaufpreisen und einem beschränkten Angebot an Mietwohnungen, hat eine Wohnungskrise ausgerechnet in dem Land ausgelöst, das den jährlichen Ausstoss an Neubauwohnungen auf fast 500’000 gesteigert hat, weit mehr als jedes andere in Europa.
Ville radieuse, stumpfe Version. Die M-30 war Madrids erster Autobahnring. Seine Ostflanke führt so nahe am Zentrum vorbei, dass er heute als eine Art Boulevard erscheint – dem bis zu sechzehnspurigen Verkehr vorbehalten, versteht sich –, aber mit dem postmodernen Pomp der ihn säumenden Gebäude durchaus an die madrilenische Tradition der Gran Vía anknüpfend. Von dieser Ringstrasse zweigen die sechs Autobahnen ab, die ganz Spanien von seinem Zentrum aus radial erschliessen. Drei davon sind neuerdings durch gebührenpflichtige Entlastungsautobahnen ergänzt worden – ein paar Nebenstrecken dazugerechnet, sind es etwa zwölf solcher Strahlen. Aber auch die nächstfolgenden Autobahnringe sind bereits gebaut: die M-40, die nur die südliche Stadthälfte umfahrende M-45 sowie die M-50, während die Ausschreibung der 170 Kilometer langen M-60 eben begonnen hat. Macht viereinhalb Autobahnringe und, über den Daumen gepeilt, etwa sechzig Autobahnkreuze. Es lebe die europäische Stadt! Wohlwollend betrachtet, erinnert dieses Modell an Le Corbusiers Ville radieuse. Ein bisschen von gestern jedenfalls.
Die Madrider Stadtentwicklung spielt sich auf den Flecken Land ab, die zwischen den Schnellstrassen übrigbleiben. Keines dieser Reststücke erreicht auch nur annähernd die Grösse der von der M-30 umgürteten Kernstadt. Es sind vielmehr teils eher erbärmliche, allseits eingezingelte Quadranten, Stümpfe oder Waben, die auch in dichter Bebauung nicht mehr als je zehn- bis zwanzigtausend Wohnungen hergeben. Eines davon hört auf den hässlichen Namen Sanchinarro, von der A-1, der M-30 und der M-40 begrenzt, also schon numerisch privilegiert: da fuhren wir zuerst hin.
Von Fisac zum degenerativen Wohnungsbau. Ich kannte die Gegend im Norden der Stadt schon von einem Besuch bei dem grossen spanischen Architekten Miguel Fisac, etwa acht Jahre zuvor. Fisac hat dort, auf einem Cerro del Aire genannten Hügel, sein eigenes Haus und Studio gebaut, und unweit davon zwei weitere sehr schöne Ensembles, ein Schulhaus und ein Dominikanerkloster. Als ich ihn anrief, antwortete er, er habe die Übel des Madrider Urbanismus seit fünfzig Jahren angeprangert, dafür auch schwer gebüsst – mehrere seiner Häuser, darunter die emblematische «Pagode» beim Flughafen, sind zum Entsetzen der Architekturliebhaber abgerissen worden. Jetzt indessen, neunzig Jahre alt, fühle er sich nicht mehr dazu berufen, gegen eine Entwicklung aufzubegehren, die angesichts dessen, was sich vor seiner Haustür abspiele, unaufhaltsamer denn je erscheine.
Die Gegend war in der Tat nicht wiederzuerkennen. Das Barrio Sanchinarro ist ein Beispiel dafür, wie ein Stück Ödland zwischen Autobahnschlingen in ein Viertel «in Madrids bester Zone», «mit idealer Verkehrsanbindung» und mit Wohnungen de «alto standing», wie es heisst, verwandelt werden kann. Ein Beispiel auch dafür, wie die Stadt ihre letzten Landreserven den Baulöwen vorwirft, indem sie ihre Flächennutzungspläne – Flächendeckungspläne, könnten sie auch heissen – kurzerhand ändert; und wie mit routinierter Hand das zur Bebauung freigegebene Feld trassiert wird, womit sich, nebst einigen Infrastrukturen, die Beteiligung der Öffentlichkeit auch schon erledigt hat. Der Schacher um den Boden, den sich die Spekulanten liefern, ist zwar nicht die einzige, aber doch die Hauptursache des Preisauftriebs des «Endprodukts» Wohnung. Sind die Grundstücke einmal verteilt, werden sie mit Wohnblöcken gefüllt, deren Banalität einem das Herz brechen könnte. 13’568 Wohnungen in diesem Fall, die weggehen wie warme Semmeln, wobei, wie jeder Spanier weiss, Trug und Schwindel, Schmiergelder und Schwarzgelder, Baumängel und Säumigkeiten mit in Kauf zu nehmen sind.
Der Klüngel hat Methode, von den politischen Entscheidungsträgern bis zum einfachen Wohnungssuchenden ist dabei jedem seine Rolle gegeben. Der Filzokratie entgehen auch die Sozialwohnungen nicht, für die lange Wartelisten bestehen, deren Anteil am gebauten Volumen aber auf bloss noch etwa zehn Prozent gesunken ist: ein weiteres Indiz dafür, wie hemmungslos die nun abgewählte Regierung ihr Heil in einer ultraliberalen Wohnbaupolitik suchte. Ohne die zuvor, unter sozialistischem Regime, erbauten Wohnviertel idealisieren zu wollen, ist doch offensichtlich, dass etwa hinter den Strassen von Valbernardo ein Plus an Planung steckt, dass da an öffentliche Räume und öffentliche Einrichtungen gedacht wurde, vom Gemeindezentrum bis zum Metroanschluss. Sogar ein Blumengeschäft haben wir dort entdeckt – wiewohl es nur Trockenblumen feilhält. In Sanchinarro wird es vorläufig nichts dergleichen geben.
Stattdessen wurde in der Rekordzeit von dreizehn Monaten ein Einkaufszentrum hochgezogen, praktisch die Garantie dafür, dass die Strassen des Viertels Totgeburten sind. Symptomatisch für diesen degenerativen Urbanismus – das Wort stammt von Oriol Bohigas – ist auch, dass die sonst totale Abwesenheit von Architektur oder architektonischer Intelligenz durch einen Vorzeigebau verschleiert wird, einen einundzwanziggeschossigen farbigen Wohnkasten der holländischen Equipe MVRDV, dem die Ödheit der Umgebung jetzt schon ein – über mehrere Stockwerke reichendes – Loch in die Wand gestarrt zu haben scheint.
Wir brauchten nun nur die eine oder andere Autobahn zu überqueren, was aber naturgemäss nicht so einfach ist, um zu den nächsten Grossüberbauungen zu gelangen: im Westen Las Tablas, wo unter anderem der Hauptsitz des mächtigsten Konzerns des Landes, Telefónica, geplant ist; daran angrenzend die Gleisüberbauung des Bahnhofs Chamartín und, schon an der Avenida Castellana, die einstige Ciudad Deportiva, das Trainingszentrum von Real Madrid, auf dem vier 215 Meter hohe Wolkenkratzer errichtet werden sollen, wobei sich die Beteiligung internationaler Architekturstars von selbst versteht; so wie auch die dazu nötige Nutzungsplanänderung vom Präsidenten von Real Madrid, Florentino Pérez, mit der ihm eigenen Nonchalance bewirkt wurde.
Nicht umsonst leitet Pérez, wenn er nicht gerade galaktische Fussballer einkauft, Spaniens grössten Baukonzern ACS-Dragados, hervorgegangen aus dem Fusionsfieber, das die Bauunternehmen des Landes vor einigen Jahren erfasste und so gewichtige Firmenverbindungen hervorbrachte, dass heute fünf der sieben kapitalkräftigsten Baukonzerne Europas spanisch sind (die Ränge eins und zwei bleiben den französischen Firmen Bouygues und Vinci vorbehalten). Spanien ist nun einmal das Schlaraffenland der Baubranche, dafür spricht nicht nur der Augenschein, sondern Zahlen wie die, dass vierzig Prozent der Neubauwohnungen in der EU jenseits der Pyrenäen entstehen. Die Bauwut – und die Beiläufigkeit, mit der das Bauministerium Milliardenaufträge verteilt – ist aber auch ein Zeichen dafür, dass die Hauptstadt des Königreichs mit allen Mitteln zur Weltstadt gepusht wird.
Einer dieser Aufträge, angeblich Europas grösste Baustelle, ist der Flughafen Barajas, dessen Kapazität auf 70 Millionen Passagiere erweitert wird. Die ganze Fläche von Sanchinarro bis zu den neuen Terminals, etwa zehn Kilometer östlich davon, ist auch bereits verplant. Einst war hier eine enorme Grünzone vorgesehen, analog zur Casa de Campo im Südwesten. Doch zwischen der Airport City, der Messeerweiterung und einer Wohnüberbauung wird zuletzt nur ein grösserer Park übrigbleiben.
So ist der weite Norden von Madrid, wie es so schön auf Amtsdeutsch heisst, umgewidmet worden. Das Siedlungsgebiet erstreckt sich längst bis zum kühlen Guadarrama-Gebirge – bevorzugte Wohnlage, im Gegensatz zum proletarischen Süden, und hinter ihren Hecken verbergen sich denn auch die gated communities, in denen Minister und Fussballer und die Stars des Regenbogenfernsehens residieren. Schöne neue Welt. Etwas bedenklich stimmt nur die künftige Verkehrsdichte der Richtung Stadtzentrum heute schon hoffnungslos überlasteten Nordeinfahrten.
Durchs wilde Vallecas – Seitenansichten. Um von Sanchinarro aus in die östliche, westliche oder südliche Peripherie zu gelangen, stand uns hingegen ein ganzes Sortiment an Autobahnen zur Auswahl. Die M-40 Richtung Südosten mutet über weite Strecken wie ein Stadtgraben an: festungsartig ragen die roten Blöcke einer scheinbar zu Ende gebauten Stadt auf. Doch wo die Meseta auf der andern Seite der Autobahn gleichsam als Glacis daliegt, ist sie mit Sicherheit inzwischen zur Überbauung freigegeben. Auch den klangvollen Namen der Quadranten jenseits der M-45 – Los Ahijones, Los Berrocales, El Cañaveral – folgt in den Plänen in Klammern jeweils eine fünfstellige Zahl: 20’466, 14’067, 13’298 – gemeint sind Wohneinheiten. Und wenn man sich auf der M-50 momentweise in der Wüste wähnen könnte, so weisen doch schon überall Erdbewegungen auf das Kommende hin. Phantastische Vorstellung, die komplette Silhouette von Madrid auf einen Blick sehen zu können: alle Fraktale exakt erfasst, ergäbe es ein fast endloses photographisches Band.
Eine Bauabsperrung bildet den Rand der alten Arbeitervorstadt Vallecas; dahinter – bis zum Horizont reichend und irgendwie an präkolumbianische Erdzeichnungen erinnernd – die terrassierte Leere des künftigen Ensanche de Vallecas (20’975 Wohnungen). Eine einsame Gestalt stand in einiger Entfernung bei einem künftigen Verkehrskreisel. Das war Guy, ein freundlicher Kongolese, der sich uns als Wachmann dieser Unermesslichkeit präsentierte. Er wünschte jedoch nicht photographiert zu werden und erklärte bedauernd, uns im Namen seines Arbeitgebers überhaupt das Photographieren hier verbieten zu müssen. Anscheinend betrachtet das Baukonsortium selbst die (noch nicht einmal gebauten) Strassen als sein Privateigentum.
Vaciamadrid: Zieglein Zieglein an der Wand… Bei der Stadtplanung stehen sich zwei Kräfte gegenüber: eine Baulobby, die sehr genau weiss, was sie will, nämlich möglichst ungehemmt möglichst viel Geld verdienen, und die dafür über sehr viel Kapital verfügt; und eine Öffentlichkeit, die viel diffuser ist, mit einem limitierten Budget und vertreten durch Abgeordnete, die als Mittler äusserst korruptionanfällig sind, wie der Madrider Wahlskandel im vergangen Sommer zeigte.
Man kann rund um Madrid Neubauviertel in jedem Stadium ihrer Entstehung studieren. Reihen kugelförmiger Strassenlampen, die den blauen Himmel punktieren. Schemen, die vorzeichnen, was dereinst eine wohl ebenso gespenstische Wohnstrasse sein wird. Denn was man in den neuen Stadtteilen, auch den schon bewohnten, selten sieht, sind Menschen. Bauarbeiter allenfalls. Am Samstag mag man manchmal ein junges Paar erblicken, das sich nach der Baracke umsieht, von der aus man sie zu einem piso piloto begleiten und ihnen anschliessend einen Ordner überreichen wird, in dem ihre künftigen Lebensumstände vom Pfandbrief bis zum schwimmenden Parkett vorgezeichnet sind. Entsetzlich, im Grunde, dass Menschen ihr in den nächsten Jahrzehnten erst zu verdienendes Vermögen und zugleich ihren Geschmack an eine gesichtslose Macht verpfänden, die nur auf ihr Geld aus ist. Es gibt freilich auch die Investoren, die solche 08/15-Wohnungen kaufen, ohne sie überhaupt gesehen zu haben.
Über die A-3 kamen wir in eine Ortschaft, deren Name wie ein schlechter Scherz klang: Vaciamadrid, das «leere Madrid» oder eher, die «Leererin Madrids». Sie besteht aus Clustern immer gleicher Einfamilienhäuser – die auf spanisch lustigerweise chalets heissen – beziehungsweise Reihenhäuser – adosados genannt: Rücken an Rücken. Es ist ja auch die gebaute Inkommunikation. Rund um Madrid gibt es Hunderte solcher Siedlungen, vor allem im Westen der Stadt, in denen sich die Mittelklasse ihren Traum vom naturnahen Leben zu erfüllen hofft, wobei dem stilistischen Aberwitz der Häuser keine Grenzen gesetzt sind: Zieglein Zieglein an der Wand… Noch in der schönsten dieser ziegelsteinernen Persiflagen ihrer selbst beschränkt sich das öffentliche Leben indessen auf den Gang zum «KiosCan», dem Automaten für Hundekotbeutel.
Wenn all diese Reihenhaussiedlungen aber keine Öffentlichkeit haben, so haben sie doch eine Identität. Eine solche stiften ihr die Verkehrskreisel. Verkehrskreisel sind die Kirchtürme der neuen Suburbia. Manche sind mit authentischen Katarakten ausgestattet, andere stellen mit wuchtigen Eisenplastiken oder erheblichem gärtnerischem Aufwand die Solvenz der Gemeindekasse unter Beweis. In Vaciamadrid sahen wir einen Kreisel mit einigen Stelen, auf jeder davon ein Storchennest. In dieser Umgebung zweifelte ich nicht daran, dass es Nachbildungen von Störchen waren, die so reglos auf diesen Pfeilern sassen. Bis einer der Vögel plötzlich die Flügel spreizte und davonflog.
Das ändert natürlich nichts daran, dass solche Siedlungen ein ökologischer Wahnsinn sind. Für die Eigenheimbesitzer in Vaciamadrid wäre es beruhigend zu wissen – wahrscheinlich wissen es die wenigsten –, dass die Region Madrid nicht weit von ihren Balustern und Gartenzwergen entfernt eine der grössten Recyclinganlagen Europas gebaut hat, Valdemingómez, die von verschiedenen Architekturzeitschriften ausführlich vorgestellt wurde. Seltsame Welt, in der die Baukunst mit Mülltrennungsanlagen brilliert, während einem der Wohnungsbau nur ein sarkastisches Gelächter entlockt.
Der Weg nach Valdemingómez – wo wir wie erwartet am Tor abgewiesen wurden – führte durch eine kilometerlange Zigeunersiedlung, in der sich die Kunst des Ziegelbaus in bedeutend wilderen Varianten als in Vaciamadrid manifestierte; und ebenso, wiewohl fast zu klischeehaft, auch das Leben. Vor einer bunt bemalten Bar tanzten da mitten am Nachmittag zwei Weiber in langen Röcken zu dem aus einem Ghettoblaster scheppernden Flamenco, daneben fuchtelte ein junger Typ mit einem Messer mit einer furchterregend langen Klinge. Wir hielten an, worauf sich sofort ein schwarz gewandeter Mensch aus der Gruppe löste. Er kam über die Strasse geeilt, lehnte sich ins offene Autofenster und fragte, was wir hier suchten. Stoff vielleicht? – Stoff immer, aber doch nicht von dem.
Bei den Bestadtungsunternehmern. Der Kalauer Bestadtungsunternehmer fiel mir ein, als wir einmal, es war wohl in Sanchinarro, zwei gleichfalls in dunklen Anzügen steckende Männer erblickten, die sich vor einem noch unbewohnten Neubau von einer Frau verabschiedeten und dann in ein Auto stiegen. Sie gehörten zweifellos zu jener Unterspezies der Totengräber der Stadt, die man gewöhnlich Makler nennt.
Zurück im Norden, nachdem wir einmal ganz Madrid umrundet hatten, zog es mich nochmals zum Haus des Architekten Fisac, obwohl er mich nicht zu empfangen gedachte. Eher zufällig fand ich es endlich wieder, und seine in rohen Beton gefassten Panoramafenster schienen wie die Augen eines Ausserirdischen auf das verbrämte Ziegelmauermeer namens Sanchinarro hinunterzuschauen. Die Zufahrtstrasse endete überraschenderweise nicht in einer Sackgasse, sondern führte durch einen schlammigen Tunnel auf die andere Seite irgendeines Damms, irgendeiner Trasse, vielleicht war es auch die M-40. Eine andere Welt tat sich da auf: ein Bidonville, so notdürftig zusammengezimmert, dass die Zigeunersiedlung vom Vortag dagegen luxuriös erschien. Mittellose Rumänen hausten da. Madrid ist eines der Zentren der rumänischen Emigration, die bei den Attentaten vom 11. März allein elf Opfer zu beklagen hatte.
Was nun, keine zweihundert Meter hinter dem Elendsviertel, ins Blickfeld rückte, hielten meine Begleiterin und ich zuerst für eine Schimäre. Es waren französische Landhäuser aus der Zeit um 1800, oder vielmehr: eine jämmerliche Karikatur davon, zweiundsiebzig an der Zahl, alle identisch und um eine Landschaft aus Paddleplätzen und künstlichen Wasserfällen gruppiert. Zwei davon waren noch verkäuflich, und ein Musterhaus folglich zu besichtigen. Es war überheizt, aber der Schweiss konnte einem allein bei der Idee ausbrechen, dass es Menschen gibt, die für eine solche Travestie des gehobenen Geschmacks Geld auszugeben bereit sind, wobei sie nicht einmal die Marke der Waschmaschine selbst bestimmen dürfen. «Wieviel denn?» erkundigte ich mich, als wir im Kinderzimmer oben angelangt waren, und sah meine Begleiterin dabei vielsagend an. Es waren etwas über zwei Millionen Franken. «Dazu kommt natürlich noch die Mehrwertsteuer», sagte der nette Herr von der Firma «Nuevo Mundo». Sind Stadtmodelle, fragt man sich in Madrid manchmal erschüttert, vielleicht auch nur eine Geschmacksfrage?