ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Sittenverwilderung II

Die Strassenmädchen halten die neue Verordnung schlicht für verfassungswidrig. Den Anthropologen Manuel Delgado erinnert sie an das einstige «Gesetz gegen Herumtreiber und anderes Gesindel» (ley de vagos y maleantes). Die Stadtregierung habe, so führt er aus, die «goldene Regel begriffen, nach der sich ihre Politik zu richten hat: bedingungslose Unterwerfung unter die Mächtigen – Promoter und Multis –, äusserste Strenge hingegen gegenüber den verletzlichsten und unangepasstesten Sektoren der Gesellschaft». Auch der Politikwissenschaftler Joan Subirats hält es für bedenklich, das städtische Zusammenleben mit Vorschriften regeln zu wollen; erst recht mit solchen, die ausschliesslich den nicht konventionellen Gebrauch des öffentlichen Raums einschränken bzw. unter Strafe stellen, «mit keinem Wort aber Missbräuche wie das Immobilienmobbing oder die Usurpierung des öffentlichen Raums durch den Privatverkehr erwähnen».

Was ist geschehen? Der Zwist um die barcelonesische Sittenverwilderung (s. Posting «Sittenverwilderung I» vom 20.9.2005) ist in eine neue Phase getreten. Erst wurden die bereits bestehenden, bisher sehr lasch gehandhabten gesetzlichen Bestimmungen strikter angewandt. Resultat: 22 000 Strafzettel in den letzten drei Monaten, fast die Hälfte davon wegen ambulanten Handels, aber auch 3700 wegen Alkoholkonsums auf der Strasse, 1454 wegen Urinierens daselbst, 80 wegen Musikgedröhns aus offenen Autofenstern. Diese Bussen werden freilich mehrheitlich unbezahlt bleiben. Das ändert – dank neuer behörlicher Befugnisse – die Ende Dezember vom Stadtparlament gutgeheissene Verordnung (ordenanza contra el incivismo). Ihre Durchsetzung könnte Barcelona in eine Stadt verwandeln, neben der die Strassen Oslos als die reine Anarchie erschienen. Allenfalls Singapur gibt sich noch rigoroser. Bürgermeister Clos und seine Regierung waren, als sie den hochwallenden Unmut ihrer Bürgerschaft über einige Auswüchse bei der Benützung des öffentlichen Raums gewahrten, umgehend auf den Empörungszug aufgesprungen. Das Ergebnis – in Form der bewussten ordenanza – spottet dem freiheitlichen Geist, der hier bisher wehte. Selbst auf den Boden zu spucken soll nun strafbar sein.

Angeblich sagt die neue Verordnung all jenen Verhaltensweisen den Kampf an, die das Zusammenleben stören: Zuwiderhandlungen gegen das, was als gute Sitte gilt. In Wirklichkeit nimmt sie explizit die Existenzweise ohnehin unterpreviligierter Gruppen aufs Korn. Das Wort incivismo lässt sich auf deutsch mit «Sittenlosigkeit», aber auch mit «mangelnder Bürgersinn» wiedergeben. Doch ist es wirklich nur la lumpen (wie das Lumpenproletariat in klassischem Spanisch heisst), dem es daran gebricht?

Theoretisch hätte schon bisher jeder Fussgänger, der nicht auf das Grünlicht wartet, sondern die Strasse nach eigenem Gutdünken überquert, dafür geahndet werden können. Das wären jeden Tag mehrere Millionen Strafzettel, von denen bisher meines Wissens noch keiner ausgestellt wurde. Die neue ordenanza macht indessen Ernst damit, jene dauernd wechselnden Überlebensmethoden auszurotten, mit denen die Mittellosen – Immigranten mehrheitlich – zugleich das städtische Leben bereichern. Da gibt es die Pakistani, die allnächtlich Dosenbier auf jeder einigermassen belebten Strasse feilhalten. Tiefer verwurzelt – sosehr, dass dafür der schöne Ausdruck top manta erfunden wurde – ist der ambulante Handel mit Sonnenbrillen, Raubkopien von CDs und Filmen usw., die eben auf eine manta, eine schnell zusammenzuraffende Decke ausgebreitet, seit Jahren zum Strassenbild spanischer Grossstädte gehören. Das top manta hat mitunter entnervende Ausmasse angenommen. Im vorletzten Sommer verwandelten sich die Ramblas jede Nacht in einen Bazar, der indessen auch ohne ordenanza wieder verschwunden ist.

Nie mehr gesichtet wurde auch jene (aus Bosnien oder wo immer herstammende) Bettlerin, die den Ramblas vorübergehend einen mittelalterlichen Touch verliehen hatte. Schwarz verhüllt, barfuss, karikaturesk gebückt (buchstäblich geknickt, fast mit dem Gesicht den Asphalt streifend), rückte diese zittrige Alte unendlich langsam, Schrittchen für Schrittchen zwischen den Passanten vor. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es eine Performance war. Eines Abends jedoch, ich hatte sie eben überholt, begegnete mir kurz danach eine identische, in Gegenrichtung sich schleppende Gestalt. Früher oder später mussten sie sich kreuzen! Das war denn doch zuviel des Pestzeitalters. Ich blieb stehen und beobachtete die gichtige Greisin genauer. Alles schien echt an ihr, nur die nackten Füsse waren unzweifelhaft die einer jungen Frau. Welch eine schauspielerische Leistung und mehr noch, welche Strapaze – und dennoch nun von den Stadtbehörden unter dem Namen «organisierte Bettelei» auf die schwarze Liste gesetzt. Man könnte es natürlich auch als Kunstform – à la Marina Abramovich – ansehen.

Ihren ganz andersartigen Auftritt haben auch die Mädchen, die den Strich machen. Doch auch ihre Arbeit ist durch die neue Verordnung bedroht. Mit Geldstrafen rechnen müssen sowohl Prostituierte als auch Freier, die miteinander im öffentlichen Raum ins Geschäft kommen. Das dürfte vor allem den Strassenstrich an der zentralen Ronda San Antonio betreffen – schwerlich vorstellbar indessen, dass die Behörden so traditionelle Huren- und Transvestitenstandplätze wie das Barrio Chino oder die Umgebung des Camp Nou zu säubern gedenken.

Ihre Bewährungsprobe wird die Verordnung ohnehin erst im Sommer erleben, wenn die Horden vergnügungssüchtiger Touristen aus dem Norden einfallen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass gerade eine linke Regierung nun Massnahmen gegen sie ergreift: Ist es denn nicht ganz in ihrem Sinn, dass sich heute der hinterste und letzte Prolet aus Blackpool einen Ausflug nach Barcelona leisten kann, und nicht nur die Mittel- und Oberschicht?

Und noch eine Ironie, die sich um die ordenanza rankt. Zufällig ereignete sich wenige Tage, bevor diese vom Stadtparlament fast einmütig gutgeheissen wurde (dagegen stimmte nur ICV, die Allianz von Postkommunisten und Grünen), das Verbrechen des Jahres in der Stadt. Es mit dem Verwahrlosungsproblem in Zusammenhang zu bringen, scheint nicht weit hergeholt. Die drei Täter aber waren wohlsituierte Jugendliche aus dem höchst bürgerlichen Stadtteil Sant Gervasi, wo sich der Mord auch abspielte. Das Opfer, eine 50jährige obdachlose Frau, hatte sich im Vorraum einer Bankfiliale zum Schlafen gelegt. In diesen rund um die Uhr zugänglichen Räumen mit ihren Geldautomaten suchen viele Stadtstreicher im Winter Zuflucht. Zwei der Buben – beide 18 Jahre alt – hatten die Frau schon am frühen Abend erst beschimpft, dann mit diversen Gegenständen beworfen und verdroschen. Als sie sich verzogen, verriegelte sie von innen die Tür, wurde aber nach Mitternacht von einem andern, 16jährigen Jungen geweckt. Sie konnte nicht ahnen, dass er mit den beiden andern unter einer Decke steckte, und entriegelte arglos die Tür. Die Überwachungskameras haben die Vorgänge minutiös festgehalten, und die freudig erregten Mienen der prügelnden Bürgersöhne haben, als TV3 Teile des Videos ausstrahlte, die katalanische Gesellschaft geschockt. Zu sehen ist, wie einer der drei einen auf einer nahen Baustelle gestohlenen, mit einem Brennstoff gefüllten Bidon herbeiträgt – kurz danach die Explosion. Die mit der Flüssigkeit übergossene Frau ist jämmerlich verbrannt.

Gegen einen solchen Grad an Verrohung helfen keine Vorschriften. Aber wahrscheinlich helfen sie ohnehin gegen gar nichts, wie etwa das Beispiel Grossbritannien zeigt, dessen Ordnungs- und Überwachungswahn bislang keine Verfeinerung der Sitten gezeitigt hat. Nach einem Besuch in London kann man nur hoffen, Barcelona werde sich nicht im gleichen Ausmass mit Kameras und den entsprechenden Schildern (CCTV in operation) sowie mit Plakaten füllen, auf denen die Obrigkeit jedem Schwarzfahrer und jedem Gebührenpreller androht: Wir werden dich erwischen.

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