[2001, Fortsetzung der im Text “Trasvase” begonnenen Fahrt]
Gen Süden. Das Ebrodelta blieb als schillernde Geometrie in der Erinnerung haften: Reisfelder, Lagunen, Feuchtbiotope, bedroht nun durch Spaniens Nationalen Bewässerungsplan (vgl. NZZ vom 15.9.2001). Wir fuhren weiter südwärts, der Küste entlang, die dereinst vom Ebrowasser profitieren soll. Wo die A-7 die Orangenhaine von Valencia durchquert, verliessen wir die Autobahn, gerieten aber statt in die Huerta in die Hafen- und Industriezone der einstigen Römerstadt Sagunt: Ladekrane, zerfallende Speicher, ein Multiplexkino namens Alucine. Keine Halluzination hatten die drei Frauen, die vor den Trümmern eines abgebrochenen Hauses standen. «Was da hinkommt? Ein Autobahnzubringer. Sie», so die eine, auf ihre Freundin weisend, «wohnte bis vor ein paar Tagen hier. Hat sechs Millionen (55 000 Franken) Abfindung gekriegt, eine lächerliche Summe, finden Sie nicht? Da ist übrigens noch ihre Katze. Sie hat wohl Angst, weil sie nicht herunter kann.» Und hakten sich unter, während das Tier, allein auf dem hohen Mauerbruchstück, weiter miaute.
Es war Sonntag. Hinter Sagunt standen Autos kreuz und quer auf einem Stück Ödland, von dem aus schon, eine gezackte Skyline wie aus einem Cartoon, die Aussenbezirke von Valencia zu sehen waren. Im Vordergrund in Auflösung begriffene Picknick-Gesellschaften; Gejohle hinter einer weiss getünchten Mauer, die eine kleine Arena umschloss: Es waren Halbwüchsige, die ein Kälbchen reizten oder eher einschüchterten, um feig auseinanderzustieben, sooft es einen Schritt vorwärts wagte. Man kann den Stierkampf, gerade in seiner stümperhaften kindlichen Spielart, von Herzen verabscheuen und sich trotzdem an diesem Vorstadttableau freuen. Zeigt es doch, dass man noch so viele «Alucines» hinbauen und «traditionelle Volksfeste» erfinden kann, es wird immer ein paar Irre geben, die lieber auf dem letzten nicht kommerziell genützten Flecken ihre Würste braten.
Ich erinnere mich, dass wir dann am Strand von Valencia, der Playa de la Malvarrosa, ein Bier trinken wollten, aber nun das Auto mit dem ganzen Gepäck nicht einfach stehen lassen konnten. Schliesslich parkten wir direkt vor einer Bar, in der abends um acht, wie wir beim Eintreten feststellten, noch die Überreste eines wohl seit der Mittagsstunde andauernden Banketts schwelten, und zwar eines Zigeunerbanketts. Nun wagten wir das Auto natürlich gerade in dieser Zigeunerumgebung keine Minute aus den Augen zu lassen, bestellten unser Bier an der Theke und tranken es draussen eilig aus, ohne das herrliche Bild des Gelages, all dieser markanten Köpfe und imposanten Décolletés, richtig in uns aufzunehmen. Wäre ein Thema für eine Glosse, wie das nach Pittoresken gierende Auge am eigenen – ausserdem rassistisch bedingten? – Sicherheitsdenken scheitert.
Hierauf sind wir in die unglaubliche Stadt Valencia hineingefahren. Es ist eine Stadt von einer Wucht, über die man immer wieder staunt. Valencia seinen gewaltigen Achsen entlang wachsen sehen, heisst einen Bodybuilder mit Stahlsehnen und Betonmuskeln bestaunen. Womit auch, aber nicht nur die kolossale «Ciudad de las Artes» gemeint ist, die der in Zürich ansässige Architekt Santiago Calatrava für seine Geburtsstadt geplant hat. Valencia ist heute, obwohl auch Bilbao und Sevilla enorme Anstrengungen unternommen haben, unter Spaniens Städten die unangefochtene Nummer drei. Allerdings artet die Prallheit, die zu seinem Charakter gehört, in Zeiten wirtschaftlicher Blüte schon fast zum Pralltum aus. Selbst der Kellner, der uns abends bediente, harmonierte mit seiner sprunghaften, geölten, hypereffizienten Art mit dieser Bauweise.
Und nun als nächstes gleich eine Leichenhalle, auch wieder im selben Stil, clean, rosig, mit einem natürlichen, gewinnenden Auftreten gleichsam. Sie stand an einer achtspurigen Ausfallstrasse zwischen Hobbycenters, Puticlubs und Pneulagern, erkennbar an der Aufschrift «Tanatorio» in pietätvoller Typographie. Die erste dieser Leichenhallen inmitten der vorstädtischen Paraphernalia, in Valencia, wirkte noch befremdlich; aber dann schwebte auch in Benidorm, in Alicante, in Murcia je ein postmodernes Tanatorio an der Windschutzscheibe vorbei. Die einzigen Leichen, die vermutlich nicht zu befürchten haben, sie würden je in einem so scheusslichen Tempel aufgebahrt, sind die an die andalusische Küste geschwemmten Afrikaner, die gescheiterten Immigranten. Davon später.
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Hoch hinaus. Nennen wir ihn JPC, bei seinen Initialen. Von Beruf: Hotelier oder eher: Baulöwe. Hemdsärmlig, jovial, bedenkenlos – man muss JPC einfach mögen, auch wenn man seine Ansichten nicht unbedingt teilt. Aber was sind schon Ansichten, wenn man eine solche Aussicht hat. Wir standen im 53. Stockwerk eines von ihm mitfinanzierten Rohbaus, auf der Dachterrasse von Europas höchstem Wohnhaus; unter uns die Betonstengel von Spaniens Tourismusdestination Nummer eins: Delirious Benidorm.
Gewiss, Benidorm ist nichts für Zartbesaitete: diese Ballung zerstörter Physiognomien, Akkumulation von Europas Zukurzgekommenen oder einfach: Urlaubsverkommenen; eine einzige, Bierhumpen stemmende Menschheit. «Da sie schon morgens um zehn zu trinken anfangen, können sie nicht gut edle Malts konsumieren», wie der Soziologe José Miguel Iribas trocken anmerkt. Und doch ist nach seinem Dafürhalten diese Stadt in ökonomischer und ökologischer, in struktureller und urbanistischer Hinsicht das Klügste, was der Massentourismus hervorgebracht hat. Anstatt in die Breite ist sie in die Höhe gewachsen: achtzig, neunzig Meter sind hier guter Durchschnitt. Nun blickten wir von 185 Metern Höhe auf das Land jenseits der hochverdichteten Stadt, der einem Fiebertraum gleichenden Balkonwaben: eine weitgehend leere, braune, von Bulldozern kahlrasierte Fläche. Was hier präpariert wird, JPC skizzierte es mit dem Daumen in die sandige Brüstung, ist eine neue Traumlandschaft. 1998 hat die Regionalregierung rund um Benidorm zehn Quadratkilometer Land aufgekauft. Zunächst wurde für über 700 Millionen Franken (inklusive Erschliessung) der Themenpark «Terra Mítica» aus dem Boden gestampft, der im ersten Betriebsjahr allerdings Riesenverluste eingefahren hat – entsprechend der These von José M. Iribas, dass Terra Mítica ebenso wenig mit Benidorm konkurrieren kann wie Eurodisney mit Paris. Der Erlebnispark soll nun von Paramount flottgemacht werden. Geplant sind aber auch drei Golfplätze, ein Zoo, ein Trainingszentrum für Spitzensportler sowie neue Hotels: nicht mehr proletarisch himmelstürmend, sondern flach, luxuriös, Land fressend. Kurz, genau das Gegenteil dessen, was Benidorm zu einem – wiewohl verkannten – Modell gemacht hat.
Kann sein, dass Golfplätze für eine so karge Natur eine Verschönerung bedeuten; weniger gut sehen sie in ökologischer Hinsicht aus. Bisher verbrauchte der Tourismus, entgegen seinem Ruf, in der Comunidad Valenciana keine 3 Prozent des Wassers, trug aber 16 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei (nicht mitgerechnet etwa die Möbelindustrie in Alicante, die von all diesen fürchterlichen Hotelausstattungen lebt). Die Landwirtschaft, die 4 Prozent zum Bruttosozialprodukt beiträgt, verbraucht hingegen 85 Prozent der knappen Ressource Wasser. Gerade Benidorm hat sich bisher durch seinen sparsamen Umgang damit ausgezeichnet: 97 Prozent werden als Brauchwasser wiederverwendet. JPC wies hinaus auf die kahlgeschorenen Flächen, wo man neben dem Millionenklacks namens Terra Mítica auch das Klärwerk erkennen konnte, und fragte: «Wollt ihr eine Tour machen?»
Gleich darauf chauffierte er uns in seinem Cherokee über Beverly-Hills-artige Asphaltbänder; nur dass hier statt Stretch-Limos ganze Brigaden von Cars unterwegs waren, und dass statt üppiger Hecken nackte, schlauchdurchzogene Erdwälle die Strassen säumten: die Tröpfchenbewässerung für das künftige Arkadien. So stolz man in Benidorm darauf ist, das Wasserproblem in den Griff bekommen zu haben – «hier, wo nie ein Tropfen Regen fällt!» –, so wenig verhehlt man, dass der geplante Transfer von Ebrowasser nun sehnlichst erwartet wird: «Der Ebro und der TGV, das sind die Motoren unserer Zukunft.»
JPC steuerte uns durch die fünf skulpturalen Rondells, die die im Entstehen begriffene Landschaft strukturieren, und parkte dann wieder vor seinem 185 Meter hohen Riesenbaby, dem künftigen Hotel Marina. Im Volksmund heisst es Bali, nach einem aus den sechziger Jahren stammenden Hotel, das damit verbunden ist und zurzeit umgebaut wird. Noch waren Teile der alten Fassade intakt: wunderbar feingliedrige, art-déco-artige Balkons, die nun einem dumpfen Einerlei aus abgeschrägten Kanten und braunen Glasblenden weichen müssen. «Nicht wiederzuerkennen, wie?» brummte treuherzig der Bauherr und schüttelte uns die Hand. Im Grunde greift, wie wir ausgangs Benidorm feststellten, jetzt bloss der neue Leichenhallenstil auch auf die Betonburgen der lebendig Begrabenen über. Nicht weit davon ein Grossplakat für eine weitere Grossüberbauung: Bienvenidos a una nueva realidad. «Halt mal!» Der Photograph wünschte das im Bild festzuhalten. Ich schwenkte auf einen staubigen Platz vor einer von zehntausend Autoreifen gesäumten Kartbahn. Links brauste der Verkehr. Hinter uns ragte JPC’s Monster aus Dutzenden anderer Etagenschachteln hervor. Im Schatten einiger Eukalypten bastelte ein junger Mensch auf diesem vorläufigen Niemandsland an seinem alten Corsa. Wenn er nicht gerade den Motor aufheulen liess, schepperte Eminem aus einem Kofferradio: «Cause Shady will fuckin kill you!» Der Fotograf verzweifelte an seinem Cadrage: eigentlich hätte er 360 Grad benötigt.
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Unten durch. Am 6. Februar 2000 geriet El Ejido, Provinz Almería, in die Schlagzeilen. Ein Mord, verübt durch einen geistesgestörten Marokkaner, bot der einheimischen Bevölkerung Anlass zur Hatz auf den «moro». Es waren die bislang übelsten rassistischen Ausschreitungen in einem Land, das noch unlängst selbst Massen von Emigranten produziert hat, nun aber nach Schätzungen von Ökonomen jährlich über 200 000 neue Immigranten benötigt. Sie kommen aus allen Erdteilen, besonders zahlreich aber aus dem Maghreb: die «moros» eben. Vielen wird schon die nächtliche Überfahrt an die andalusische oder kanarische Küste in überladenen «pateras» zum Verhängnis: Hunderte von ihnen – die spanische Öffentlichkeit nimmt es mit Konsternation zur Kenntnis – ertrinken so Jahr für Jahr. Auch die Zahl der sofortigen Rückschaffungen steigt dauernd, sie dürfte dieses Jahr 30 000 erreichen. Wer durch die Maschen der Küstenwache und der Guardia Civil schlüpft, gerät alsbald in die des neuen, restriktiven Fremdengesetzes, das die Umstände, in denen Spanien seine Einwanderer aufnimmt, nur noch verschlimmert. Nirgendwo haben diese drastischere Formen angenommen als in El Ejido.
Der Bürgermeister von El Ejido spricht nicht mehr mit ausländischen Journalisten. Laut dem Büttel, der das Telefon abnahm, ist El Ejido ein ganz normales Städtchen: «Keine besonderen Vorkommnisse.» Gewiss, das Stigma, mit dem es behaftet ist, bleibt heute im Alltag verborgen. Aber bediente uns der Kellner in dem Restaurant, in dem wir mit dem Berber Hamil zu Abend assen, nicht eben deshalb so unwirsch, weil er dachte: «Schon wieder diese Ausländer, die die moros ausfragen, nur um uns schlecht zu machen»?
Dass El Ejido nicht ein Städtchen wie irgendein anderes ist, das sieht jeder schon von der Autobahn aus. Kurz nach Almería verwandelt die Landschaft sich in ein glitzerndes Meer aus Plastic. Vor dreissig Jahren gab es hier nichts als einige ärmliche, von Agaven umstandene Höfe. Seither sind Zehntausende von Hektaren Land unter Gewächshäusern verschwunden: ein Milliardengeschäft. Die Einwohnerzahl hat sich vervielfacht, mindestens ein Viertel davon sind legale Immigranten: 21 000 allein in El Ejido, nebst Tausenden, die noch so gern das entsprechende Papierchen schwenken würden. In der Stadt aber treten sie kaum in Erscheinung: man hält sie fern, als wären sie wirklich nur auf dieser Welt, um in stickigen Treibhäusern die Konten der spanischen, teils auch nordeuropäischen Grundbesitzer zu äufnen.
Dabei ist es seltsamerweise eine Landwirtschaft nicht nur ohne Himmel, sondern auch ohne Erde: Moderne Nutzpflanzen wachsen in an Gestängen hängenden Gefässen. Dank der Hydroponik, der Kultivierung in Nährlösungen, ist der Ertrag etwa bei Tomaten von einst drei bis vier auf über zwanzig Kilo pro Quadratmeter gestiegen. Ein Geäder staubiger Wege erschliesst dieses Eden aus Plasticplanen, mit Kalk geweisst, um wenigstens die ärgste Hitze abzuhalten. Ältere Konstruktionen aus Holzpflöcken neben topmodernen, aus Korea importierten Aluminiumstrukturen. Die Fertigung der Planen, die alle zwei bis drei Jahre ersetzt werden müssen, ist hingegen anscheinend in einheimischer Hand: Von der Autobahn aus ist jedenfalls die Fabrik «Plastimar» unübersehbar. In dem Meer selbst herrscht eine gespenstische Stille; es sei denn, es ist gerade ein Besprühungsfahrzeug unterwegs, oder es zischt eine undichte Wasserleitung. Da die Grundwasservorräte inzwischen nahezu erschöpft sind, wundert es nicht, dass der geplante Transfer von Ebrowasser eben bis in das 500 Kilometer entfernte Almería reicht. Die für die Bewässerung zuständige Genossenschaft hat bei Umfragen festgestellt, dass die meisten der 6000 Grundbesitzer keine Ahnung haben, woher ihr Wasser überhaupt kommt.
Lange fuhren wir in dieser unweltlichen Landschaft herum, ohne auf Menschen zu treffen. Stoppten hier vor einer Halde leerer Kanister (darauf: «metan-sodio» und «750-1200 l/ha» und ein Totenkopf), da bei einem Feld aus niedergebranntem Plastic (Thema verantwortungslose Entsorgung), endlich bei einer Müllhalde, aus der ein stinkiger Truck hervorkrabbelte: ein Loch mitten in Europas Gemüsegarten. Nur einmal streckte ein alter Araber den Kopf aus einem Transformatorhäuschen und erwiderte auf die Frage, ob er bei all dem Gift nicht für seine Gesundheit fürchte: «Gift? Warum auch? Nein, was ich fürchte, sind Diebe.» Er meinte damit seine weniger arrivierten Landsleute. Dieser Mann lebte seit 1988 in Spanien und hatte in dem Transformatorhäuschen, das er mutterseelenallein bewohnte, eine Behausung gefunden, um die ihn in El Ejido mancher beneidet. Andere richten sich in Brunnenlöchern ein. Die können wenigstens nicht abgefackelt werden.
Nach den rassistischen Ausbrüchen des letzten Jahres – wobei daran zu erinnern ist, dass nicht die Diskriminierten, sondern die Diskriminierer durchdrehten, mit Baseballstöcken herummarschierten und Feuer legten – richtete das Rote Kreuz Notunterkünfte für die Immigranten ein. Geschmackvollerweise waren es Plasticgehäuse, assortiert zur Umgebung; viele davon ohne Küche – wozu auch, in diesem Schlaraffenland? Der Bürgermeister, der seine Stadt für eine ganz normale hält, verhinderte zudem mit allen Mitteln, dass sie in Stadtnähe aufgebaut wurden. Von Integration hält er nicht viel, denn für die örtliche Unternehmerschaft ist ja der Status quo – bei Tagesansätzen von höchstens 35 Franken – kein Unglück; und eine Idee von Verantwortung scheint ihn noch nie gestreift zu haben. Dieser Mann gehört dem in Madrid regierenden Partido Popular an, der sich fast gleichzeitig munter den Rügen gegen Haider-Österreich anschloss.
Den Schlüsselsatz zum Verständnis der Geschehnisse von El Ejido sprach ganz beiläufig Hamil aus: jener Vorzeige-Immigrant, den wir durch die NGO «Almería acoge» kennengelernt hatten. Hamil hatte als Treibhausarbeiter angefangen, bevor er einen Job bei jener Hilfsorganisation erhielt, deren Büros bei dem Pogrom im Februar 2000 gleichfalls zerstört und erst diesen Frühling wieder eröffnet worden sind. Wir lernten durch ihn die finstersten, aber auch einige hellere Seiten der Immigration kennen.
Irgendwo im Plasticmeer ein Gemäuer, aus dem bei unserem Erscheinen nach und nach an die zwanzig zerlumpte Gestalten ans Tageslicht traten. Es war ihre Zahl, die zunächst geisterhaft erschien, denn das Gemäuer mass keine fünf mal fünf Meter, war allerdings, wie wir dann sahen, doppelstöckig belegt. Diese Männer hatten nichts zu tun. Sie warteten, wie man ihren mit einzelnen spanischen Vokabeln gespickten Reden entnahm, auf den «precontrato», eine Arbeitszusicherung, mit der sich auch die begehrte Aufenthaltsgenehmigung erlangen lässt. «Precontrato, incha’allah lawkan indi precontrato», tönte es ein ums andere Mal auf diesem Vorplatz zum Nichts in einem Meer von Plastic. Und, bei allen sprachlichen Schwierigkeiten, erfuhren wir auch, dass jeder für die lebensgefährliche Überfahrt mindestens 2000 Dollar bezahlt hatte und um nichts in der Welt die Schande auf sich nehmen möchte, als Gescheiterter in sein Dorf zurückzukehren. Dann kam wie ein Überlebensprophet einer der wenigen, die Arbeit hatten, zwischen den Gewächshäusern zurück und brachte eine grosse Melone mit, schnitt für jeden ein saftiges Stück ab.
Hamil stand in dieser Runde als Ratgeber, als Doyen; ein armer Immigrant wie sie, nur dass er gewissermassen eine Traumkarriere hinter sich hat. Tags darauf führte er uns ja auch bereitwillig zu seinem einstigen Arbeitgeber: Wie zum Beweis, dass nicht sämtliche andalusischen Gemüsebauern herzlose Rassisten sind, sondern dass einige ihren Hof – bestehe er auch bloss aus einigen Gewächshäusern – Hand in Hand mit Nordafrikanern, Südamerikanern und Osteuropäern führen. Allerdings doch gewöhnlich lieber mit blonden Ukrainern als mit den Nachbarn von jenseits der Meerenge.
Wochen später, am Telephon, erzählte Hamil, wie sich der 11. September in El Ejido ausgewirkt hat: «Zum Beispiel gab es Probleme mit dem Spanischunterricht für Immigranten. Es sind gewöhnlich Abendkurse, und nun gab es auf einmal Klagen der Anwohner, sie trauten sich nicht mehr, nach Einbruch der Dunkelheit ihren Müll auf die Strasse hinauszustellen.»
Da fiel mir jener vernichtende Satz wieder ein, den Hamil ganz beiläufig ausgesprochen hatte, als wir den Erwachsenenunterricht für die Einheimischen streiften: «Lesen und Schreiben lernen sie natürlich vor allem, um den Führerschein machen zu können.»
Es ist sicher eine grobe, aber nicht ganze falsche Sicht der Dinge, wenn man die Probleme von El Ejido so zusammenfasst: Binnen zwanzig Jahren sind hier ein paar tausend elende analphabetische Taglöhner zu stinkreichen Sklavenhaltern aufgestiegen. Und das Steuern eines protzigen Geländewagens, der Verzehr frischer Langusten, das Umrechnen des Peperonipreises in Euro, selbst die Ängste der Reichen sind nun einmal leichter erlernbar als der tunliche Umgang mit dem elenden Emigranten, der man selbst hätte sein können: die Begegnung mit seinesgleichen in der Worst-Case-Version.