ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Der letzte Gaucho in Dolores
Categories: Américas

[ca. 1993 für die Swissair Gazette]

 

Eine Reise durch die Pampa

Pünktlich um 06.15 rollte der Garçon den damastbedeckten Frühstückstisch ins Zimmer. Es duftete nach Kaffee, nach frischen Halbmöndchen, wie Croissants in Argentinien heissen… Vierzig Minuten später, am andern Ende von Buenos Aires, atmeten wir die herben Ausdünstungen von 32.000 Rindern: das war die Stückzahl, die an diesem Morgen im Mercado de Hacienda, dem grössten Rindermarkt der Welt, versteigert wurde.

Endlose Passerellen führten über ein Meer von Kühen, die von reseros auf erfahrenen Pferden in die Gehege getrieben wurden. Hugo Altamira, selbst nebenbei Viehzüchter, der uns hier hinaus begleitet hatte, liess sich von den atemberaubenden Gerüchen nicht in seiner Begeisterung beirren. Zungenschnalzend, geniesserisch pries er die prallen Leiber, die nach jahrelangem Genuss der Freiheit und der saftigen Luzerne jetzt eingepfercht unter ihresgleichen den Stempel empfingen, der ihr Dasein besiegelte. “Sehen Sie nur diese Shorthorn, una maravilla!” rief er aus. “Das sind kräftige, voll ausgewachsene Tiere. Kommen Sie mir nicht mit europäischen Kälbern!” Und mit verächtlichem Blick auf einen corral mit weniger fetten, aus Indien stammenden Cebus, einer für das tropische Nordargentinien geeigneten Rasse: “Corned Beef-Kandidaten!”.

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Nicht jedermann hat das Auge für die Schönheit dieser Elite der Fluren, “aristocratie frisée, exempte du joug, quadrupèdes aux mérites primés”, wie Paul Morand sie feierte. Ueber 60 Millionen sind es, zwei Stück je Einwohner… Europäische, vornehmlich britische Rassen: die ersten Hereford wurden 1862 eingeführt, die ersten Aberdeen Angus, jene allgegenwärtigen schwarzen Tupfer in der Pampa, sogar erst 1879, zur Zeit, als die ersten Schiffe mit Gefrierkammern voller Rinderhälften den Hafen von Buenos Aires verliessen. In umgekehrter Richtung strömten die Einwanderer ins Land…

Ein scheinparadoxes Wort sagt, wer einen “Europäer” treffen wolle, der müsse nach Buenos Aires fahren. In der alten Welt gebe es Schweden, Kroaten, Wallonen…. Die Argentinier aber sind ein Amalgam, wenn auch ein jeder seine Herkunft als Adelsbrief in sich trägt: mediterrane Grundierung, mit britischen und französischen Manierismen uberhöht… Buenos Aires, Erfüllung aller Europaträume, allen Stadtverlangens… Prärie aus Zement und Asphalt, bevölkert von Myriaden wohlgestalter, scheinbar unnahbarer Frauen. Die Avenida Santa Fé weist vermutlich die weltweit höchste Dichte sinnbetörender Geschöpfe je cuadra auf.

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Was ist eine cuadra? Sie ist das Mass aller Orientierung in Argentinien, cirka hundert Meter: die Länge eines Blocks im Schachbrett des Stadtplans. Dieses Muster gilt noch für das hinterste Dorf im Landesinnern. Die Monotonie der Landschaft wiederholt sich in den Menschenwerken. Bis hin zu den Strassennamen, gleichlautend von Ort zu Ort – wer im Lande umherreist, dem wird der unumstössliche Katalog geschichtlicher Figuren und Daten bald geläufig, ohne dass er notwendigerweise erfährt, wer all diese Präsidenten, nationalen Erzieher und gegen die Indianer kämpfenden Generäle waren.

Der Hang zur Grösse, zu welcher ihre Nation zu Beginn dieses Jahrhunderts bestimmt schien – eine Attitüde, die nicht zur Beliebtheit der Argentinier in der Welt beigetragen hat -, ist ihnen aller Rückschläge zutrotz natürlich geblieben. Wie könnte es anders sein in einem Land, das von seinem vibrierenden Horizont lebt, während der Raum davor, reine Geometrie, sich an der Unwirklichkeit des Himmels berauscht, den Störche durchsegeln und über den die Wolken treiben, während unten die Windpumpen sich wie unzählige kleine Glücksräder drehen… In dieser Landschaft zählt nur das Nachher, das Fernliegende, der Vordergrund ist uns gleichgültig – das hat Ortega y Gasset zum Angelpunkt seines allegorischen Texts über die Pampa gemacht. Die Pampa lasse sich nur von ihrem Ende her betrachten, dem ungewissen Wogen der Einbildungen. “La Pampa promete, promete, promete…” Landschaft der Verheissungen, des Überflusses, der Freizügigkeit…

Der äussere Schein straft noch heute alle Reden vom Niedergang Argentiniens Lügen. Dem Fremden erscheint es wie ein Wunder, wie unversehrt das Land aus der ununterbrochenen Folge von politischen Krisen und wirtschaftlicher Stagnation hervorging, die nach dem Ende der Einwandererwelle einsetzte. Die Argentinier selbst jedoch trachteten nach Höherem. In manchen jener Pampadörfer, die einst von Urbanisten mit Reissnägeln aufs jungfräuliche Land gepflanzt wurden, wird das nie eingelöste Versprechen anschaulich, stehen der selbstbewusste Pioniergeist von einst und sein Scheitern melancholisch nebeneinander: ein schmucker Bahnhof, eine grandiose Allee, die plaza mit Rathaus, Kirche, Standbild des Befreiers, ein grosszügiges Strassennetz – aber um die zentralen Stücke herum nichts als einige Koben, hier und dort ein Eckhaus, dem die Reihe fehlt, und die staubigen Wege verlieren sich bald im Pampagras.

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Staub: damit hatte die Reise angefangen, in San Antonio de Areco, nur eine Autostunde von Buenos Aires entfernt. San Antonio gilt als einer der Hauptorte der Gauchotradition, seines Festivals und seines Museums wegen. Prominente Argentinier und Argentinienreisende, von Graf Kayserling über Gardel bis zu Borges, sollen auf der Estancia La Porteña Aufenthalt genommen haben, wo Ricardo Güiraldes eines der beiden Standardwerke der Gaucholiteratur schrieb, den “Don Segundo Sombra” (das andere ist das Versepos “Martín Fierro” von José Hernández).

Der Gutsherr, ein Enkel des Schriftstellers, kam uns im Dorf abholen und wir fuhren seinem Auto nach. Aber bald schon war davon nichts mehr zu sehen als die weisse Staubwolke, die es auf dem Erdweg aufwirbelte, ein geisterhafter Nebel in der Mittagshelle, der sich, wenn ich den Abstand zu gross werden liess, jederzeit vor uns aufzulösen drohte.

Wie die meisten Ländereien, ist auch die Estancia von Manuel Güiraldes durch Erbteilung über die Generationen zusammengeschrumpft, von 7.000 auf noch 200 Hektare. Als Nicht-mehr-so-Grossgrundbesitzer hat er den Tourismus als neue Einnahmequelle entdeckt und unser erstes asado, das uns umgehend von der indianischen mucama serviert wurde, assen wir in Gesellschaft einiger Polospieler aus Barcelona und Brüssel. Was in Argentinien nicht kleiner geworden ist, sind die Fleischportionen: als ich die Hälfte davon vertilgt hatte, ragte die andere immer noch über den Tellerrand hinaus…

Etwas komplizierter verhält es sich mit dem Klischee des Gauchos – jenes mit Silbersporen, Pumphosen, besticktem Gürtel, kunstvoll geschlungenem Foulard und Schlapphut ausgestatteten Menschen, der eher unglückliche Figur macht, wenn er nicht gerade zu Pferd sitzt (“triste chose qu’un gaucho à pied”). So wie das Oberflächliche und der schöne Schein im argentinischen Leben – paradoxe Wahrheit – tief verwurzelt sind, ist eben auch der Gaucho laut Borges ein “prototypisches Idealobjekt”, hervorgegangen aus der “waghalsigen Verflechtung” zweier Lebensstile, dem des Kuhtreibers selbst und dem jener Männer mit bürgerlicher Kultur, die sich durch die Kriege des 19. Jahrhunderts bewogen fühlten, sich mit ihm auseinanderzusetzen: “Aus dem Staunen, welches der eine im andern erzeugte, entstand die Gaucho-Literatur”.

Woher der Name Gaucho stammt, ist nicht gesichert. Möglicherweise von dem Quetchua-Wort huachu, “unehelich” oder “Waise” – und es ist ja auch der Gaucho ein Waise der europäischen sowohl als der Eingeborenenzivilisation und sein Territorium, die Pampa, eine Brutstätte des Individualismus, der rebellischen Träumerei und der Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber – lauter Eigenschaften, die auch sein städtisches oder vorstädtisches Pendant kennzeichnen, Borges’ Lieblingsfigur, den malevo oder compadre.

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So ist die Geschichte des Gauchos vielleicht ebensosehr Literatur wie Realität; hingegen jene der Pampa selbst, so fabelhaft sie scheint, bleibt der Wirklichkeit zuzurechnen. Lange Zeit war Buenos Aires – um nochmals Morand zu zitieren – eine “nach Indianer und Kapuziner stinkende Sackgasse”, die von den Spaniern via Panama und Lima beliefert wurde, auf Eselsrücken über die Anden und durch die von nomadisierenden Indianern unsicher gemachte Pampa. Als die ersten weissen Siedler im 16. Jahrhundert Rinder mitbrachten, vermehrten sich diese in paradiesischer Freiheit und stampften bald in bis zu 40.000köpfigen Herden über das herrenlose Land. Dieser lebende Schatz lockte andere Indianerstämme, namentlich die grimmigen Araukaner aus Chile, über die Kordillere ins Flachland. Im 19. Jahrhundert machte sich die regierende Oligarchie die Polarisierung zwischen städtischer “Zivilisation” und indianischer “Barbarei” zunutze; aber als die Indianer um 1880 nach jahrzehntelangen verbissenen Kämpfen vernichtet waren, kehrte sie die Zeichen um: hinfort repräsentierte das Land mit seinen Grundbesitzern die Zivilisation, Buenos Aires mit seinen Einwanderern die Barbarei.

Die klingende Münze, nach der Argentinien und der Rio de la Plata benannt sind, entspringt der Pampa und hat Buenos Aires zur Metropole gemacht. Die Pampa selbst jedoch war keineswegs immer die bukolische Landschaft, die wir heute sehen. Ursprünglich baumlos (Darwin erkannte in den heftigen Südwinden den Feind der Bäume), erinnert sie nun streckenweise nachgerade an eine Garten, einen unabsehbaren Park. Der Eukalyptus, aus dessen Strunk, wenn er vom Sturm gefällt wird, zäh wieder neue Stämme senkrecht emporwachsen, wurde 1857 eingeführt. Der älteste Schattenspender in der Pampa, der struppige Ombú, stammt aus Mesopotamien. Er ist der sprichwörtliche Baum der trockenen Pampa, des Steppenlands zu Füssen der Kordillere. In der Pampa húmeda hingegen, die konzentrisch um Buenos Aires liegt (ein Gebiet von der Grösse Frankreichs), wachsen heute Weizen, Roggen, Mais, Hopfen, Malz, Soja, Leinen, Sonnenblumen… und die Luzerne, an der sich die Rinderherden weiden. Keines dieser Gewächse gehörte zur ursprünglichen Pampavegetation.

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Pam-pa, seltsames Wort, das sich selbst echot… Der Ford Falcon preschte über das endlose, schnurgerade Band vor uns, durch eine Landschaft, deren Weite jede Bewegung empfängt “wie die Frau den Mann, ganz auf ihrem Grund” – so der französische Argentinienkenner Roger Caillois. Prosaischer ausgedrückt: in der Pampa sticht die Bewegung mehr ins Auge als die Sache selbst. In der Morgenfrühe sieht man sie unterwegs, mit dem Fahrrad, mit dem alten Pick-up, die Bewohner des Landes. Peones ziehen aus dem Dorf Richtung Estancia; eine indianische Mutter wartet auf den Ueberlandbus; hinter einem Schirm von Pappeln sieht man eine Gruppe Zureiter bei der Arbeit; und eine mächtige weisse Rauchwolke zeigt an, dass der Ziegelbrenner eingefeuert hat. Je später der Tag, desto weniger Leute auf der Strasse; daher vermitteln alle Pampadörfer vor allem den Eindruck einer enormen Schläfrigkeit.

Die Pampa ist ein gesegnetes Land und man kann den Argentiniern manches nachsagen, aber ihre gute Laune haben sie nicht verloren. Der Estanciero Alberto Brané, der uns seine Hablichkeiten, seine trächtigen Stuten und den Puma vorführte, den er als Haustier hält; die beiden Schullehrerinnen bei Rio Cuarto, die wir im Falcon mitnahmen und die sich auf dem Rücksitz für ein Fest schönmachten; der leutselige Alte bei Macachín, dem seine paar Ochsen davonliefen, während er mir die Wohltaten des Heiligen Cayetano erklärte, dem er an der Landstrasse einen Altar errichtet hat; das Männlein in Carhué, das uns in seine quinta zu Milchreis einlud, was aber nur ein Scherz war, denn natürlich meinte er Beefsteak – sie und viele andere, denen wir unterwegs begegneten, waren von einer grossen und oft ausgesuchten Gastfreundlichkeit. Umgangsformen – ich meine nicht das affektierte Getue der höheren Gesellschaft von Buenos Aires, “si absolument comme il faut”, und auch nicht die manchmal befremdliche Europaliebe der Argentinier (einmal wurde ich von einer Gruppe aus dem schlichten Grund mit Applaus überschüttet, weil ich mich als Franzose ausgegeben hatte), sondern eine Herzlichkeit, die gleichzeitig manierlich ist.

Lebenskunst… Wenn ich an die Bedienung denke, so scheint mir, noch das verlorene Nest Santa Isabel, Provinz La Pampa, habe vielleicht mehr Urbanität als manche Stadt im Herzen Europas. Ob es auch der alltägliche Speisezettel der Nation ist, der argentinische Kellner bringt die Silben, mit denen man die leckeren Teile des Ochsen oder der Kuh bezeichnet – lomo, vacío, mollejas – jederzeit in einem frohen Ton über die Lippen, als sei es das erste Mal.

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Eines Mannes will ich zuletzt gedenken, des baskischen Estancieros Simón Olariaga in Dolores, Provinz Buenos Aires. Er erst hat mir die Augen für dieses Land geöffnet, das eintönig scheint, weil es subtil ist. Gern würde ich eine Zeit in seinem phantastischen Landhaus im englischen Stil verbringen, mit den wolgadeutschen peones scherzen, deren Münder deutsche Worte aus einem andern Jahrhundert sagen, zur Lagune mit ihrer zauberischen Vogelwelt gehen (oder reiten), den Blick schärfen, damit mir das Gürteltier und der Strauss in den wogenden Feldern nicht mehr entgehen… Beim Einnachten mit Olariaga am alten Holländerfriedhof vorbei über die staubige Strasse ins pueblito La Colina fahren, wo er zum Falcon hinaus jedem Bewohner wieder einen andern Gruss zuruft. In der Abenddämmerung, die sich in der Pampa immer noch weiter hinauszieht, wenn man schon meinte, nun sei der letzte Rosastich des Himmels erreicht.

 

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