Spanien tut sich immer noch schwer mit der Aufarbeitung der Franco-Ära
Dass nach dem Tod des Diktators Franco 1975 ein stillschweigender «Pakt des Vergessens» den friedlichen Übergang Spaniens zur Demokratie begünstigte, erscheint auch aus heutiger Sicht plausibel. Doch erschreckt es, wenn noch dreissig Jahre später jeder Versuch, ein gemeinsames historisches Gedächtnis zu schaffen, den Graben zwischen den beiden Lagern erneut aufzureissen droht. «Las dos Españas» – auf alle Zeiten?
Alle Jahre wieder, am 20. November, wird Spanien daran erinnert, dass es nach einem blutigen Bürgerkrieg während beinahe vier Jahrzehnten von einem Diktator beherrscht wurde, der sich politisch als Faschist gebärdete, ideologisch und kulturell indessen jene nationalkatholische Borniertheit zu perpetuieren trachtete, die das Land seit langem hinter Europa zurückgeworfen hatte. Erst als der Caudillo Francisco Franco an dem besagten Novembertag des Jahres 1975 in seinem Bett dahinschied, konnte eine neue Zeit beginnen.
Pakt des Vergessens
Dass der Übergang zur Demokratie, transición genannt, abgesehen von einem ebenso theatralischen wie gefährlichen Putschversuch 1981 friedlich verlief, wird gewöhnlich auf drei Faktoren zurückgeführt: die bereits weit fortgeschrittene Erodierung des totalitären Regimes; das Geschick des neuen Staatsoberhaupts, König Juan Carlos I.; sowie auf den pacto del olvido. Als Pakt des Vergessens wird der Umstand apostrophiert, dass die Verlierer des sechsunddreissig Jahre zurückliegenden Bürgerkriegs keine unmittelbare Rechenschaft für die Untaten des Regimes forderten – nicht fordern konnten, ohne eine neue gewaltsame Auseinandersetzung zu riskieren.
Der in Barcelona aufgewachsene, in Princeton lehrende Philosoph Eduardo Subirats erachtet es als historisch erwiesen, dass «der Übergang im Grunde von den intellektuellen und politischen Führern des Franquismus inszeniert und der antifaschistische Widerstand dabei weitgehend kaltgestellt wurde». Nicht weil jene sich plötzlich zu glühenden Demokraten gewandelt hätten, sondern weil sie begriffen, dass ihre Privilegien – und mehr noch die der Oligarchen, deren Interessen sie vertraten – nur in einer formellen Demokratie zu retten waren. Der von der Linken dafür zu entrichtende Preis war, dass die Untaten des Regimes ungesühnt blieben und dessen Opfer bis heute vergeblich auf materielle Wiedergutmachung oder auch nur symbolische Rehabilitation warten. Der Gedächtnisschwund wurde zu einem Hauptmerkmal der modernen, boomenden und in Europa integrierten spanischen Gesellschaft.
Es mutet daher als nahezu folkloristisches Phänomen an, wenn jeweils am 20. November einige tausend Regime-Nostalgiker und junge Neofranquisten in den Valle de los Caídos nordöstlich von Madrid pilgern, um ihrer dort bestatteten Idole zu gedenken: neben Franco namentlich des Falange-Gründers José Antonio Primo de Rivera. Zwar zieht das scheussliche, von Tausenden politischer Gefangener Francos in Zwangsarbeit errichtete Mausoleum jährlich fast eine halbe Million Besucher an. Die meisten von ihnen aber treibt zweifellos allein eine morbide Neugier, die letzte monumentale Gedenkstätte des Faschismus in Europa zu sehen.
Zaghafte Tilgung der Symbole
Die Gebeine Francos seinen Angehörigen zurückzuerstatten und den Valle de los Caídos zum Freiheitsmemorial umzuwidmen, ist allein schon aus ästhetischen Gründen undenkbar. Es fiele ja, flachste der Schriftsteller Eduardo Mendoza, auch niemandem ein, die Melodie der faschistischen Hymne «Cara al sol» zum offiziellen Song der «Sans-Papiers» zu deklarieren. Anders verhält es sich mit unscheinbareren Symbolen des Regimes: Strassennamen, Standbildern, franquistischen Emblemen aller Art. Deren Fortdauer spiegelt den bedenklichen Stand dessen, was man in Deutschland einst Vergangenheitsbewältigung genannt hat – und nebenbei die regionale Zersplitterung des Landes.
Barcelona etwa tilgte schon vor 1980 alle franquistischen Strassennamen. Wenn zwei oder drei faschistische Monumente bis heute überlebt haben, so immerhin von ihren Insignien gereinigt: als stumme, etwas rätselhafte Gebilde. Weniger auffällige Zeugnisse wie die mit dem Falange- Symbol – fünf ein Joch durchbohrende Pfeile – verzierten Schilder an Häusern des sozialen Wohnungsbaus sollen nun gleichfalls systematisch entfernt werden. Andererseits zeigte sich die Stadt nicht übertrieben pietätvoll, als sie das einstige Camp de la Bota unlängst von diversen Stararchitekten überbauen liess. Auf dem Strandgelände waren nach dem Bürgerkrieg fast zweitausend Republikaner exekutiert worden.
Im Zentrum und im Nordwesten Spaniens sieht es diesbezüglich ärger aus. Da wimmelt es von Strassennamen franquistischer Persönlichkeiten. Allein in Madrid sollen es 167 sein – darunter so dubiose Adressen wie die Calle del General Millán Astray, benannt nach jenem Mann, der einst dem Philosophen Unamuno das Wort entgegenschleuderte: «Muera la inteligencia, viva la muerte!» Als die Zentralregierung unlängst das letzte Reiterstandbild Francos in Madrid bei Nacht und Nebel entfernen liess, wurde diese Massnahme von der konservativen Lokalregierung mit einem unüberhörbaren Murren aufgenommen. Zwar wurden – etwa in Andalusien – franquistische Embleme auch in sozialistisch regierten Kommunen bis heute nicht angetastet, Indiz für eine über die Parteigrenzen hinausreichende Indifferenz der eigenen Geschichte gegenüber. «Gleichgültigkeit» ist laut einer Umfrage die Empfindung, die heute 63,7 Prozent der Spanier Francos Figur entgegenbringen; 7,6 Prozent soll sie Nostalgie, lediglich 13,3 Prozent entschiedenen Widerwillen einflössen.
Zwischen 1996 und 2004 wurde Spanien von einer Partei regiert, deren Urvater Fraga Iribarne ein direkter Abkömmling des Regimes war. Einst Informationsminister Francos, krönte Fraga seine politische Karriere als viermal wiedergewählter «Landesvater» seiner (und Francos) Heimatregion Galicien. Im März 2004 wurde der Partido Popular infolge seines Irak-Engagements und der dilettantischen, in die Irre führenden Informationspolitik um das Madrider Massaker wieder in die Opposition gedrängt. Glaubt man jedoch den Meinungsumfragen, so wäre die im Ausland schwer begreifliche Scheu dieser Partei, sich von den Symbolen der Franco-Ära zu trennen, nichts weiter als das Abbild des Volksempfindens.
Generationen von Gedächtnislosen
Überzeugte Franquisten wie militante Antifranquisten waren Minderheiten schon zu Lebzeiten des Caudillo. Es versteht sich mithin, dass gerade jene, die auf Franco pfiffen, seine hauptsächliche Stütze bildeten. Ältere Spanier identifizieren ihn bis heute gern mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1960er Jahre. «Eine Uhr, ein Auto, einen Regenmantel zu kaufen, das zählte mehr als alle Politik», bemerkt Juan Marsé, von dem einige zu Klassikern gewordene Romane über jene Epoche stammen. Unzählige Spanier müssen das Regime als etwas Unverrückbares erlebt haben: etwas Naturgegebenes, fast so wie die zwischen Spanien und Frankreich stehenden Pyrenäen. «Man schloss sich», so der Publizist Javier Pradera, «im Privat- und Berufsleben ein: aus Kalkül, aus Feigheit, aus Mangel an Altruismus.» Man tat es vor 1975 und ebenso danach.
Die nächstfolgende Generation, geboren zwischen 1950 und 1965, lässt sich als die der «Movida» definieren. Jener kulturelle Aufbruch um 1980 nahm gewissermassen die Spassgesellschaft vorweg. Indem die Movida Literatur und Philosophie als Konsumprodukte begriff und das Heil im Design und im Spektakel suchte, neutralisierte sie – laut Eduardo Subirats – jegliche kritische Geschichtsbetrachtung. «Unter den avantgardistischen Gestikulationen beliess sie das nationalkatholische Erbe intakt, eben als es darum gegangen wäre, die grundlegenden Institutionen des Staates neu zu gestalten.»
Auf diese gedächtnislose Generation folgt jene, die überhaupt keine direkten Erinnerungen an den Franquismus hat: die 13 Millionen nach 1975 geborenen Spanier. Ihnen könnte die sarkastische Definition einleuchten, die Manuel Vázquez Montalbán einst für künftige Enzyklopädie-Einträge vorhersah: «Franco Bahamonde, Francisco. Autoritärer Regierungschef, der Spanien vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Kommunismus bewahrte und der die Grundlagen der wirtschaftlichen Modernisierung sowie der Europäisierung schuf.» Auf junge, mit Wochenschauaufnahmen des Caudillo konfrontierte Spanier muss dieser Schreihals einfach grotesk wirken, gespenstisch. Doch so irreal die Figur heute anmutet, sie verweist auf eine grausame Wirklichkeit.
Spaniens Historiker haben in den letzten Jahren das spanische 20. Jahrhundert gründlich ausgeleuchtet, wobei ihnen wie üblich angelsächsische Forscher zur Seite standen – Antony Beevors neues Standardwerk zum Bürgerkrieg führt seit Wochen die Bestsellerlisten an. Auch Romanautoren wie Javier Cercas («Soldaten von Salamis») hatten mit einer nuancierten Sicht auf den Bürgerkrieg kommerziellen Erfolg. Nichts jedoch vermochte die Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit eindrücklicher zu durchbrechen als die ersten, zaghaft erst vorgenommenen Öffnungen der Massengräber des Franco-Regimes. Laut dem Künstler Francesc Torres, der bei solchen Ausgrabungen selbst mitgearbeitet hat und eine Ausstellung im Museu d’Art Contemporani in Barcelona darüber vorbereitet, gibt es allein in Katalonien hundertfünfzig solche Gräberfelder. «Einige davon befinden sich nun unter Reihenhaussiedlungen, Sporthallen oder Einkaufszentren, in denen arglose spanische Bürger leben, spielen und einkaufen. Bürger, deren Kenntnisse der jüngeren Geschichte ihres Landes oft kaum über einen Lexikoneintrag hinausgehen.»
Angehörige der einstigen Opfer setzten die Maschinerie in Bewegung. Sie bewogen die Regierung Zapatero unmittelbar nach der Wahl 2004 zur Schaffung einer von der Vizeministerpräsidentin Teresa Fernández de la Vega geleiteten Gedächtniskommission. Deren erklärtes Ziel ist es, die Illegitimität des franquistischen Regimes, seiner Justiz und mithin auch seiner Urteile nachzuweisen. Sollte denn eine Demokratie nicht in der Lage sein, die Urteile von Militärgerichten zu revidieren, die in Friedenszeiten Zivilpersonen ohne jede rechtliche Grundlage zum Tod verurteilten? Als Aufständische verurteilten, kurz nachdem die Richter selbst mittels einer Militärrebellion eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt hatten?
Doch anderthalb Jahre nach ihrer Schaffung scheint die Arbeit der Gedächtniskommission zu stocken, und nicht nur bürokratischer und legaler Hemmnisse wegen. Mehr noch hat die derzeitige, von der Opposition weidlich ausgenützte Verlagerung der politischen Debatte auf die Fragen der katalanischen Autonomie ein Klima geschaffen, in dem der Regierung wenig daran gelegen sein kann, die alten Gräben noch tiefer aufzureissen. Stets schon war der Links-Rechts-Konflikt in Spanien von den Forderungen regionaler Nationalismen durchzogen und verknäuelt worden. Aus der Zuspitzung dieser Spannungen aber scheint immer die Rechte siegreich hervorzugehen – und zwar gerade als selbsternannte Hüterin der spanischen Einheit, indem sie die komplexere Wirklichkeit ihrerseits mit spanisch-vaterländischen Parolen überdröhnt: so 1936 und so 2005.
Banalisierung eines Schreckensregimes
Sind es vielleicht eben die Simplifizierungen der franquistischen Ideologie, von denen sich weite Bevölkerungskreise noch heute betören lassen? Jene heilige Einfalt und jenes Anpassertum, die das Regime seinen Untertanen als Lebensentwurf verschrieb und für dessen Verwirklichung es zunehmend auch vorsorgte? Ein Arbeitsplatz, eine Wohnung, eine Familie, das Ganze lebenslänglich . . . Und selbstverständlich ein Spanien – das Falange-Motto «España, una, grande y libre» geistert noch heute durch viele Köpfe. Kein Wunder, dass dieses Land die erbärmlichsten Massen dumpfer Konformisten hervorgebracht hat und zugleich die denkbar seltsamsten Exzentriker. Und beide mitunter in einer Person vereinigt.
Die franquistische Ära mochte überraschend turbulenzenlos ausklingen – so glatt sogar, dass die regimetreue Oberschicht alsogleich wieder obenauf schwamm. Die Gleichschaltung aber, diesem sanften Ende vorhergegangen, war mit einer Grausamkeit erzwungen worden, die nie in ein grelleres Licht gerückt worden ist als heute: durch die Öffnung der Massengräber. Nach jüngsten Schätzungen sind von Francos Hinrichtungskommandos zwischen 1936 und 1943 bis zu 150 000 politische Gegner exekutiert worden. Doppelt so hoch soll die Zahl derer sein, die nach dem Krieg in Kerker und Konzentrationslager der Sieger gesperrt wurden – dies in einem Land von damals zwanzig Millionen Einwohnern und nachdem Hunderttausende ausser Landes geflüchtet waren. Eine Wiedergutmachung für die beruflichen und privaten Diskriminierungen, die die zurückgebliebenen Regimefeinde erlitten, wurde bisher nie auch nur thematisiert.
Gewiss, der «Pakt des Vergessens» war kein in einem finstern Keller geschlossenes Schweigeabkommen. Eher ist er als Ergebnis der gegebenen Kräfteverhältnisse zu sehen, der Angst vor neuer Gewalt und – wenn man so will – einer erstaunlichen politischen Weisheit der antagonistischen, einst bis aufs Blut sich bekämpfenden Lager. Zu den Konsequenzen dieses «Paktes» aber gehört es, dass das Schweigen derjenigen, die vierzig Jahre lang mundtot gemacht worden waren, auch dreissig Jahre später anhält.
Vaterland und Nationalismus
Für Eduardo Subirats schreibt sich diese Ungeheuerlichkeit in eine weit zurückreichende Tradition ein: «Der Geist, der etwa in der spanischen Sprachakademie weht, in den Rektoraten der meisten Universitäten, selbstverständlich in der katholischen Kirche und in den politischen Kreisen der Rechten wie der Linken, lässt keinen Zweifel daran, dass die spanische Gesellschaft in einigen Jahren die politischen Verbrechen und die ideologische Barbarei des spanischen Faschismus genauso vergessen haben wird, wie sie die Verfolgung der Liberalen durch die Kirche im 19., die Autodafés gegen die Aufklärer im 18., die Ermordung Hunderttausender von Morisken im 17. und die Vertreibung der Juden im 16. Jahrhundert aus der Erinnerung verdrängt hat.»
Von Liberalen, Aufklärern, Morisken und Juden aber – unter andern Namen, mit andern Gesichtern – wimmelt es heute in Spanien mehr denn je. Hätte Franco sich ein Land vorstellen können, das binnen weniger Jahre vier Millionen Einwanderer aus allen Erdteilen mit einer gewissen Nonchalance aufnimmt? Und das sich zugleich an der Frage irremacht, ob einer seiner Teile – Katalonien – sich als «Nation» definieren darf oder ob nicht? Der Generalísimo hätte zweifellos zweimal energisch den Kopf geschüttelt. Dabei könnte er im Nationalgetue der Katalanen – oder der Basken – ebenso gut den blossen Widerhall der von ihm propagierten gesamtspanischen Vaterländerei vernehmen.
Oft zitiert, selten analysiert wurde Jorge Semprúns Statement, die baskische Terroristengruppe ETA sei mit ihrem auf Gewalt und Einschüchterung beruhenden Nationalismus im Grunde das letzte Relikt der franquistischen Gesellschaft. Deren Substrat jedoch, und da urteilt Eduardo Subirats wohl präziser als Semprún, dringt noch in unzähligen andern Nuancen an die Oberfläche. Man braucht nur dem polternden Tonfall und den Hasstiraden gewisser Radiosprecher (auf dem bischöflichen Sender COPE etwa) zu lauschen, um in eine entsprechende Betrübnis zu verfallen. Zugleich aber hat die spanische Gesellschaft längst in andere Sphären abgehoben.