Ich lief einige Schritte einer Dame nach; nicht um sie einzuholen, sondern eigentlich nur, um ihre pelzberüschte Erscheinung abzulichten. Sie verschwand im Hauptbahnhof von Helsinki und schien mir dort schon entwischt, als ich sie plötzlich auf einer Wartebank in der Halle sitzen sah, kummervoll – oder nur nachdenklich? – vor sich hin blickend in dem monumentalen Bau von Eliel Saarinen, der von außen wie ein überdimensionierter Radioapparat aussieht.
Am folgenden Tag nahm ich eine jener Straßenbahnen, die scheinbar so verlässlich durch Helsinki rascheln – rascheln? mehr als rattern jedenfalls. Ich war ganz im Süden der Stadt, bei einem der Embleme des finnischen Jugendstils, der 1905 von Lars Sonck entworfenen Klinik Eiran Sairaala, in die Elektrische der Linie 3 eingestiegen, die zirkulär verläuft.
Etwa zehn Haltestellen weiter gab‘s Probleme. Der Tramführer stoppte mitten auf der Strecke, an einer Kreuzung, und kam ebenso hurtig wie gemütlich durch das Gefährt gerannt, löste am andern Ende die Bremse und ließ es einige Meter rückwärts rollen, um es dann rechtzeitig, eben als ein Aufschrei durch die Kabine zu gellen drohte, wieder zu stoppen. Oh! Abenteuerurlaub in der Straßenbahn! Dann stieg er aus und versuchte, die widerspenstige Weiche so zu stellen, dass er die vorgesehene Route einhalten konnte. Vergeblich – und also kommentierte er auf japanisch, vielmehr finnisch die missliche Lage (Finnisch klingt ein wenig wie Japanisch). Im Nu verließen die Fahrgäste das Tram und zerstreuten sich in alle Richtungen. Auch ich stieg schließlich aus, unschlüssig darüber, was zu tun sei.
Ging einige Minuten an der Kreuzung auf und ab, überquerte endlich die Fahrbahn, eben als sich die ins Stadtzentrum zurückführende Straßenbahn in Gegenrichtung in Bewegung gesetzt hatte. Warum und wohin hatte sich bloß die ganze Passagierschaft verzogen? Denn nun tauchte ja schon der nächste nordwärts strebende Konvoi der Linie 3 auf. Wahrscheinlich war der Kondukteur über Funk bzw. Nokia bereits über das Weichenproblem informiert worden, denn er hielt vor der Abzweigung und stieg, mit einer Eisenstange ausgerüstet, aus seiner Kabine. Aus der Ferne beobachtete ich, wie er da eine ganze Weile herumhebelte, ehe er wieder einstieg und ich im letzten Moment hinzueilte, um ihn zu fragen, ob er statt der Kurve nun die vorgesehene Gerade nehmen, und ob ich – obwohl es keine Haltestelle war – zusteigen könne. Selbstverständlich, mein Herr!
Das war der Moment, da mir von einem der vordersten Sitzplätze eine pelzberüschte Dame zuzwinkerte. Ich ließ mich, ohne sie weiter zu beachten, weiter hinten nieder. Das Tram folgte seinem Streckenplan, aber schon nach vier oder fünf Haltestellen, am nördlichen Wendepunkt der Route schätzungsweise, lief wieder etwas schief: kleine Ansprache des Tramführers, und die Reihen lichteten sich, jeder machte sich in wer weiß welche Richtung davon. Nur Madame und ich blieben sitzen. Bevor wir gleichfalls ausstiegen, sprach ich sie auf Englisch an, ob sie eventuell wisse, ob und wie es weitergehe. Da erst wurde ich gewahr: es war die Frau vom Hauptbahnhof. Und ihre Antwort war denkbar einfach: »Komm zu mir, für hundert Euro bin ich ganz die Deine!«
Ihr Kummer, die Trauer vom Vortag waren verflogen. Ich sagte dennoch nein; meine Frau warte nämlich am Hauptbahnhof auf mich, und in diesem Augenblick klingelte wie zum Beweis mein Handy, womit der Fall erledigt war. Sie kritzelte zwar noch ihre Telephonnummer auf einen Zettel, aber der Kondukteur – dem sie sich inzwischen gleichfalls anerboten hatte – kündigte schon an, in spätestens drei Minuten gehe die Fahrt weiter. Die Hure stieg an der nächsten Haltestelle aus, und zehn Minuten später schloss mich unter der Antenne – sprich dem Turm – des Bahnhofs von Saarinen dem Älteren lachend meine Liebste in die Arme.