Während ich bei 47° durch Córdoba schlurfte, vollführte in Barcelona die Politik ihre Bocksprünge (vgl. Posting vom 6. Februar). Der Präsident der katalanischen Generalitat, wie die Obrigkeit hierzulande heisst, wurde von seinen sozialistischen Parteigenossen sanft entsorgt, nämlich zum Verzicht auf eine neuerliche Kandidatur bei den kommenden Regionalwahlen genötigt. Pasqual Maragall – so heisst der Mann – hatte als barcelonesischer Bürgermeister zwischen 1983 und 1997 eine wesentliche Rolle bei der urbanistischen Erneuerung der Stadt gespielt, als deren Kulmination gemeinhin die Olympischen Spiele von 1992 gelten. 2003 war Maragall im zweiten Anlauf Präsident der Regionalregierung geworden, einer tripartito genannten Koalition, in der sich die Sozialisten (PSC) mit den erznationalistischen Linksrepublikanern (ERC) und dem postkommunistisch-grünen Bündnis (ICV) zu arrangieren hatten.
Die Koalition zerbrach just in dem Moment, in dem sie das hehre Hauptziel ihrer ersten Legislaturperiode erreicht hatte. Das neue Autonomiestatut, eine Art Regionalverfassung, welche u.a. die Einordnung Kataloniens im spanischen Staatsganzen regelt und die Satzung von 1979 ersetzt, war von den Madrider Cortes gutgeheissen worden. Nun brauchte es bloss noch dem katalanischen Stimmvolk zur Absegnung vorgelegt zu werden. Am 18. Juni wurde der Entwurf, wie nicht anders zu erwarten, mit 74% Ja-Stimmen angenommen; allerdings bei einer Stimmbeteiligung von unter 50%, was den unendlichen Überdruss der Bevölkerung an dem Thema spiegelt. Und mehr noch: die pathetische Überflüssigkeit der ganzen Übung. Das Statut von 1979 war bei einer Stimmbeteiligung von 88% von 60% gutgeheissen worden, mithin von weit über der Hälfte der Stimmberechtigten. Jetzt war es noch gerade ein Drittel. Wie legitim ist ein solches Grundgesetz überhaupt?
Irrwege
Schon vor der Abstimmung hatte Maragall die Linksrepublikaner aus seiner Regierung entlassen und vorgezogene Neuwahlen ankündigen müssen. Grund: die ewigen Stunkmacher von ERC, die ein unabhängiges Katalonien anstreben, waren im letzten Moment aus der Koalition ausgeschert und hatten die Nein-Parole ausgegeben, weil ihnen der in Madrid zurückgestutzte Entwurf nicht weit genug ging. Aus entgegengesetzten Gründen lehnte auch der in Katalonien praktisch einflusslose Partido Popular (PP) den Text ab. Die Konservativen hatten Zeter und Mordio geschrien, ist doch nach ihrer Lesart dieses Statut der Anfang vom Ende der spanischen Einheit.
Es gibt freilich noch andere, wesentlich stichhaltigere Gründe als die von ERC und PP angeführten, diese Satzung für einen Irrweg zu halten. Und nicht allein, weil ihre Ausarbeitung und parlamentarische Diskussion die spanische Politik während des ganzen letzten Jahres vergiftet, die Reformpolitik der katalanischen Regierung gelähmt und im übrigen Spanien eine ins Deliriöse tendierende antikatalanische Stimmung angefacht hat. Nicht Spanien jedoch wird an diesem Machwerk zerbrechen, sondern Katalonien selbst droht sich damit in eine Sackgasse zu manöverieren – die Sackgasse einer imaginären Identität, die mit der sozialen Wirklichkeit nichts zu tun hat, und deren Apologeten sich einen Deut um die Komplexität der katalanischen Gesellschaft scheren.
Identitätskrise eines Einwandererlands par excellence?
Das Statut geht über die Tatsache schlicht hinweg, dass Katalonien seit fünfzig Jahren ein Einwandererland ist, dessen Bevölkerung längst mehrheitlich aus andern Teilen Spaniens und mittlerweile zu 13 Prozent aus dem Ausland stammt (allein in den letzten sechs Jahren haben sich 770’000 Ausländer in den vier katalanischen Provinzen niedergelassen, etwa eine halbe Million davon im Grossraum Barcelona). Die Katalanen sind zu einer Minderheit in ihrem Land geworden – ohne Immigration wäre Katalonien heute eine Region von zwei bis drei Millionen Einwohnern; in Wirklichkeit sind es sieben. In mancher Hinsicht ist die Integration dieser Zuwanderer seit den 1950er Jahren vorbildlich verlaufen. Sie hat auch die katalanische Identität keineswegs geschwächt – wie sonst hätte der sogenannte catalanismo die classe politique von links bis rechts in diesem Ausmass erfasst? Die Hege der katalanischen Wesensreinheit wird von ihr seit dreissig Jahren nachgerade obsessiv betrieben, und die entsprechende, schon in der Grundschule einsetzende Indoktrinierung hat denn auch einen Teil der Bevölkerung – im wesentlichen die katalanischstämmige – auf eine Weise infiziert, die beim Einzelnen ein wenig wie ein Tick anmutet: dieses bei jeder Gelegenheit und Ungelegenheit hervorbrechende Insistieren auf «mein Katalanentum«, «unsere Eigenart», die sich in der Tautologie erschöpft: «Som lo que som».
Sie sind aber eben gerade nicht mehr, was sie glauben, zu sein: die Migration hat die Identität nicht geschwächt, sie hat sie schlicht liquidiert, in ein Nebelgebilde in den Köpfen der Gläubigen aufgelöst. Im Grunde gehört die litaneihafte Beschwörung der katalanischen «Nation» ins Kapitel der kollektiven Psychopathologie.
Die andere Bevölkerungshälfte sieht diesem Katalarifari ziemlich distanziert, ja unbeteiligt zu. Es ist kein reiner Zufall, dass die Stimmenthaltung am 18. Juni bei jenen 51 Prozent lag, die dem Bevölkerungsanteil entsprechen, der nicht katalanischer Muttersprache ist. Das neue Statut postuliert eine katalanische Kulturnation katalanischer Sprache, die als Schimäre zu entlarven ein zweiminütiger Spaziergang durch Barcelonas Strassen genügt. Dennoch werden nun die sprachpolizeilichen Massnahmen, stets unter dem Deckmäntelchen der Sprachförderung und schon bisher teils fragwürdig, nochmals verschärft – anscheinend mit dem absurden Ziel, aus einer zweisprachigen eine einsprachige Gesellschaft zu machen. Dies aber wird schon aus wirtschaftlichen Gründen ein Traum (eher Albtraum) bleiben. In der Praxis ist ja irgendwo die Grenze erreicht, wo eine Gesellschaft sich vor lauter Heimatliebe selbst ins Abseits befödert. Wie es ein von zahlreichen katalanischen und spanischen Intellektuellen unterzeichnetes Manifest gegen das Statut formuliert: «In der Politik ist die Synekdote – einen Teil für das Ganze zu nehmen – keine poetische Lizenz, sondern die Negation der pluralistischen Wirklichkeit.»
Für Spaniens sozialistischen Ministerpräsidenten Zapatero war das Statut ein schwieriger Balanceakt, aus dem er nicht ungeschoren, aber letztlich erfolgreich hervorgegangen ist; sein Partei- und Amtskollege Maragall in Katalonien hingegen, der ihm dieses Ding eingebrockt hatte, muss nun abtreten. Er wird als tüchtiger Bürgermeister der Stadt in Erinnerung bleiben. Doch nach dem erratischen Kurs, den er als Präsident der Generalitat gesteuert hat, hätte er bei den nächsten Wahlen kaum eine Chance gegen den Kandidaten der bürgerlichen Nationalisten (CiU), die Katalonien schon von 1980 bis 2003 wie ihr Privateigentum regiert haben.
Die sozialistische Partei sucht ihr Heil nun erstmals in einem Kandidaten, der selbst jener charnegos genannten Schicht von Einwanderern entstammt, die den Regionalwahlen mehrheitlich fernzubleiben pflegen (was erklärt, dass die Linke in Katalonien zwar bei gesamtspanischen wie bei städtischen Wahlen meist klar vorneliegt, im katalanischen Parlament – in welches fast ausschliesslich Träger katalanischer Namen einzuziehen pflegen – hingegen chronisch untervertreten ist). Im Herbst wird sich weisen, ob der aus Andalusien stammende PSC-Kandidat, der derzeitige Industrieminister José Montilla, jene überwiegend suburbanen Massen zu mobilisieren vermag, die die katalanische Politik bisher für eine Sache der alteingesessenen Katalanen hielten. Sollte er gewinnen, so würde vielleicht auch die irritierende katalanische Heimattümelei zumindest vorübergehend dorthin verbannt, wo sie hingehört, nämlich ins Privatleben.