ceci n'est pas une blague
Markus Jakob
Neapel sterben sehen

Stippvisite in Zürich, danach fünf Tage in Neapel. In Zürich endete der Reigen der schönen Festlichkeiten – gracias, amigos – in der Trübnis einer Alphütte im Niederdorf, wo Lambada getanzt wurde. Gewaltiger aber war der Zeitsturz, der Kulturschock, in Neapel. Zufällig gab dem die Zeitschrift L’Espresso in derselben Woche in Balkenlettern gar reisserisch Ausdruck: NAPOLI PERDUTA. Das Heft war in der Stadt natürlich sofort ausverkauft. Ich konnte später in Rom noch ein Exemplar ergattern; den betreffenden Artikeln war freilich nicht viel mehr zu entnehmen, als dass das Rauben und Morden in Neapel hemmungsloser denn je betrieben wird, dass die Politiker dagegen Investitionen, neue U-Bahn-Linien versprechen, usw.

Ich war seit 1980 nicht mehr in der Stadt gewesen. Damals hatte mich die Wildheit Neapels in eine ebenso wilde Begeisterung versetzt. Diesmal sah ich es leider etwas gelassener. Wir waren im Palazzo Marigniano einquartiert, an jener schmalen, Spaccanapoli genannten Achse, welche die Altstadt vom Fuss des Vomero fast bis zum Bahnhof schnurgerade durchläuft. Ein halbes Stockwerk dieses Palastes wird heute von Nathalie de Saint-Phalle, einer Nichte der Künstlerin, an kunstsinnige Menschen ausgemietet. Vom fünf Meter hohen Salon bis in den letzten Winkel ist dieses Appartement mit Kunstobjekten angefüllt, vielmehr zugestopft. Ich muss gestehen, dass meine Verträglichkeitsgrenze für Kunst dadurch klar überschritten wurde, und dass ich über diese Kunstentfaltung, vielmehr -verstopfung möglichst hinwegsah. Unser Zimmer gehörte genau genommen schon nicht mehr zum Palast: es war einer jener typischen An- und Aufbauten, die aus Neapels Altstadt ein steinernes Palimpsest machen. Von dem Zimmer zweigte ein Korridor ab, der linkerhand die grosse Terrasse auf dem Dach des Nachbarhauses säumt, wo man frühstücken oder den Vollmond betrachten konnte. Seltsamerweise führt dieser Korridor nirgendwohin – bloss zu einem Fenster, das sich rechterhand auf den Innenraum einer kleinen Barockkirche öffnet. Von aussen war dann zu erkennen, dass der Korridor eigentlich eine Galerie im Innern der Kirche selbst ist.

Vor 26 Jahren, bei meinem ersten Besuch, war mir die Regellosigkeit Neapels wie eine Verheissung erschienen: diese respektlose, aller Musealität spottende Nutz- und Niessnehmung des steinernen Erbes. Neapolitanisches Leben: ein Zeitraffer, der ganze Zeitschichten ins Jetzt katapultiert. Seither aber bin ich durch eine andere Schule gegangen, die Barcelonas, und der Vergleich dieser beiden grossen Mittelmeerstädte ist verstörend. Als sei Barcelona das neue Neapel geworden, jenes «von Teufeln bewohnte Paradies», das Neapelreisende einst in der herrlichen Bucht vorfanden. In Neapel – lange Europas drittgrösste Stadt nach London und Paris – wurde im 17. und 18. Jahrhundert ja sozusagen der Städtetourismus erfunden, und zur Grand Tour gehörte das gelegentliche Erschaudern vor fremden Sitten und Lebewelten, genauso wie heutige Stadtkonsumenten auf derlei Kitzel nicht verzichten möchten. Das prekäre Gleichgewicht von Zerfall und Erneuerung aber, das Neapel und Barcelona vor einem Vierteljahrhundert – kurz vor dem verheerenden Erdbeben in Kampanien – noch auf zumindest vergleichbare Manier zu halten schienen, ist heute weder hier noch dort mehr gegeben. Neapel, seither ganz dem Zerfall preisgegeben, derweil sich Barcelona zum urbanen Musterknaben getrimmt hat. Einmal mehr scheint die Geschichte der beiden Städte in entgegengesetzter Richtung zu verlaufen. Zu deren Ironie gehört es nämlich, dass das 15. Jahrhundert unter katalanischer und die beiden folgenden unter spanischer Herrschaft zu den glänzendsten und turbulentesten Neapels zählen, während Barcelonas Niedergang nie ausgeprägter war als eben im 16. und 17. Jahrhundert.

Aufstieg und Niedergang einer Stadt: Hängt die Heftigkeit, mit der man sich veranlasst fühlt, über sie zu schwärmen oder zu meckern, eventuell direkt damit zusammen? Schon jene Bildungsreisenden, die in Postkutschen anreisten, nach glücklicher Durchquerung der Pontinischen Sümpfe und gewöhnlich noch vollgesogen mit den römischen Baudenkmälern, erlebten das wüste Getümmel Neapels als ebenso irritierend wie unwiderstehlich. Da wir heute praktisch denselben Zwiespalt empfinden, wäre zu folgern, eben ihre Unbezähmbarkeit sei die Essenz der Stadt. Jeder Ordnungs- und Zivilisierungsversuch müsste ihr zugleich ihre Reize austreiben. In der Praxis freilich werden die Nerven über das zuträgliche Mass strapaziert. Schon der Taxifahrer, der uns vom Bahnhof zum Palazzo Marignano brachte, war für erste Adrenalinschübe gut. Ein netter, gesprächiger Mensch (im Gegensatz zu vielen andern Neapolitanern, die sich Ausländern gegenüber oft unwirsch oder verstockt zeigen), wies er uns stolz auf den Corso Umberto hin: Neapals Prachtstrasse, deren Trottoirs nur leider jeden Flaneur augenblicklich die Flucht ergreifen lassen. Von hier zweigte er in die engen Gassen Richtung Spaccanapoli ab, durch Einbahnstrassen in Gegenrichtung mit bestechender Selbstverständlichkeit kurvend. Und schon waren wir da – 10 Euro für die Dreiminutenfahrt, den Taxameter hatte er nicht eingeschaltet.

Taxis ohne Taxameter, Postbüros ohne Briefkästen, Geldautomaten reihenweise ausser Betrieb. Im Museo Archeologico Nazionale die meisten Säle mangels Personal geschlossen. Auf ausdrückliche Nachfrage wird einem eine unleserliche Photokopie in die Hand gedrückt, die einen durch das trostlos verkommene Labyrinth leiten soll; später möchte man noch um einen Staubsauger bitten, um die Flusen wegzupusten, die sich offenbar seit Jahrzehnten in dem prächtigen, aus dem späten 19. Jahrhundert stammenden Modell von Pompeji angesammelt haben. Ist einer solchen Stadt noch zu helfen? Wir einigten uns auf den Namen Troglodyten, wenn wir uns auf ihre Bewohner bezogen. Die verdankten es uns, indem sie jeden Gang durch die Stadt zum Spiessrutenlaufen machten. Durch Neapel gehen heisst, sich bei jedem zweiten Schritt vor einem durch die Fussgängerzone preschenden Motorrad retten. Nur um sich beim nächsten Schritt an einem Auto vorbeizwängen zu müssen, das sich da auf dem Trottoir – oder was immer von der Strasse übrigbleibt – breitgemacht hat. «Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt», hat Duchamp gesagt. Ein Satz, wie geschaffen für Napoli. Und es ist ja auch kein Problem, dass all die stattlichen Höfe all der stattlichen Altstadtpaläste von Autos vollgestellt sind. Aber ein bisschen schade ist es doch.

Es geht also um den Gebrauch bzw. Missbrauch des öffentlichen Raums. Der in Neapel grundsätzlich nicht vom Privatraum unterschieden wird bzw. fliessend in diesen übergeht. Vielmehr: der Privatraum ergiesst sich in den öffentlichen Raum. Diese Sphäre der Durchmischung macht seit jeher Neapels Charme (ein unpassendes Wort: Reiz ist besser) aus. An dieser Schnittstelle brodelt Neapel; oder es schmachtet, vergeht an sich und vergeht sich an sich. Wie die Neapolitaner ihre Parterrewohnungen durch Vordächer, darunter die Wäschleinen gespannt sind, in die schmale Gasse hinaus erweitern; manchmal aber auch durch eigentliche Vorbauten, kleine Gärtchen oder Terrassen: das ist entzückend, aber natürlich ist es auch eine unverschämte, offensichtlich geduldete Usurpation des öffentlichen Raums. Mehr noch gilt dies für all die Marketender (ein treffliches Wort: Neapel ist der permanente Kriegszustand), die mit ihren Ständen den ohnehin knappen Raum in einen Hindernisparcours verwandeln.

Zumal da gar kein Platz ist, um Touristenmassen herumzuschleusen, wird Neapel vorläufig verschont bleiben vom Schicksal, das sich gerade Barcelona willentlich aufgebürdet hat. Und allerdings: für den Städtekonsumenten heutiger Prägung bietet es wenig. Kein Nachtleben; schon abends um zehn alles tot, bis auf ein paar einzelne Knatterer und die drei oder vier Strassencafés an der Piazza Bellini, die es nur dank einer Bürgerbewegung gibt, die darauf beharrte, dieser Platz tauge zu etwas Bessserem denn bloss als Abstellfläche für fahrbare Blechhaufen.

Wir fuhren nach Pompeji, mit einem Zwischenhalt in Oplontis. Keine Air Condition in dem Vorortszug natürlich, der ältesten Bahnlinie Italiens übrigens: der Circumvesuviana (die 1839 für die Bedürfnisse des Tourismus eingerichtet wurde, nicht für die der Neapolitaner). Die Villa Poppaea, benannt nach der Gattin Neros, erst ab 1964 ausgegraben, taucht den Besucher in ein hedonistisches Wohnideal, zu dem es kaum einen krasseren Gegegsatz als seine heutige Umgebung gibt. Torre Annunziata heisst der Ort. Einige der besten Spaghettifabriken des Landes (Setaro) befinden sich hier, auch ein luxuriöses Spa soll es geben, und bei Goethe liest man: «Wir aßen zu Torre dell’ Annunziata, zunächst des Meeres tafelnd. Der Tag war höchst schön, die Aussicht nach Castell a Mare und Sorrent nah und köstlich. Die Gesellschaft fühlte sich so recht an ihrem Wohnplatz, einige meinten, es müsse ohne den Anblick des Meers doch gar nicht zu leben sein. Mir ist schon genug, daß ich das Bild in der Seele habe, und mag nun wohl gelegentlich wieder in das Bergland zurüchkehren.»

Goethe müsste aus Torre dell’ Annunziata heute nüchternen Magens wieder abreisen. Nach dem Besuch von Oplontis streunten wir in der Mittagshitze durch den zur typischen neapolitanischen Vorstadt verwucherten Ort, der Hauptstrasse entlang zunächst (wo der Fussgänger zu fortgesetzten Ausweichmanövern auf die vielbefahrene Chaussee gezwungen ist) und hinunter zur Piazza, die sein Zentrum bildet. Doch alles Suchen, alles Fragen, zuletzt bei einem Carabinieri-Paar, das die Aussagen eines (achtung: Zungenbrecher!) Kehlkopfkrebs-Krächzers übersetzte, war vergeblich: es gibt in diesem elenden Häuserhaufen nicht eine Spelunke, wo ein Teller Spaghetti oder auch nur ein belegtes Brötchen zu haben wäre. Man könnte in Torre Annunziata ohne weiteres verdursten, denn auch der einzige öffentliche Brunnen war versiegt.

Das ganze Elend Neapels wurde auf dieser Vorstadtwanderung fassbar. Denn zweifellos ist diese verwahrloste Suburbia, ebenso wie der ruinöse Zustand der Altstadt, das Ergebnis der Preisgabe der Stadt an die Mafia. Wer sonst hätte so lieblos, planlos, erbarmungslos die Küste verschandelt, die einst als die schönste der Welt galt. Ich dachte zurück an Barcelonas ebenso schnell gewachsene Vorstädte, und der Kontrast erschien fast noch krasser als jener zwischen den beiden Stadtzentren. In jeder vergleichbaren barcelonesischen Vorstadt hätte man sich auf demselben Weg in mindestens drei Speiserestaurants und in zwanzig oder dreissig Bars verköstigen können. Breite Trottoirs und modern gestaltete Plätze, wohl auch Pärke, von Menschen belebt, hätten zur Anschauung gebracht, wie Barcelonas Stadtdesign in die Umgebung ausstrahlt. Nichts dergleichen hier: eine einzige urbane Ödnis unter der Silhouette des Vesuvs.

Auch der Corso Umberto, die Via Toledo, die Via Chiaia halten dem Vergleich mit Barcelonas Avenuen nicht stand: verkommene Kommerzschneisen. Ein wenig Stil haben noch die Via Scarlatti auf dem Vomero und die Via Santa Lucia bewahrt – da gibt es sogar zwei oder drei Bars, exotische Einsprengsel in dieser Stadt. «Gäbe es bloss auf jede zehnte Kirche ein Kaffeehaus», seufzte ich einmal. Auf der Terrasse des Palazzo Marigniano machte ich die Bekanntschaft einer franzöischen Opernregisseurin, die sich jetzt in Neapel ansiedeln will – fern des Zentrums auf dem Posillipo. «Da kann man in Ruhe arbeiten. Verliert seine Zeit und sein Geld nicht mit Einkäufen von Modeschabernack, den es in Neapel schlicht nicht gibt.» Gern hätte ich von Juliette, so hiess sie, noch Näheres über ihre Berückung durch die Stadt erfahren. Sie muss damit zusammenhängen, dass zwischen all dem Schrott ja all die zauberhaften Orte weiterexisiteren – die Certosa, San Gregorio Armeno, geheime Buchten… –, die Gebildete seit Jahrhunderten fast so abheben lassen, wie es der Cristo velato in der Cappella Sansevero vor unsern ungläubigen Augen zu tun scheint. Aus seinem tausendfach gefältelten Schweisstuch könnte man vielleicht – so boshaft wie ehrfürchtig – ein Sinnbild für ganz Neapel herauslesen. (Zu schweigen von der unverschämten Pudicizia, die ihn flankiert, und von den myteriösen anatomischen Maschinen in der Krypta dieser fabelhaften Kapelle.)

Hier noch ein Bild einer ganz schön spiessigen neapolitanischen Hochzeit, mehr schöne Aufnahmen in dieser Galerie.

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