Anders als es dieser Eintrag vorhersehen liess, ist in Can Ricart keine Ruhe eingekehrt. Ende November wurde das grosse alte Fabrikgeviert von einer Zirkusartistengruppe namens La Makabra besetzt, die kurz zuvor aus einem andern Industriebau im Pueblo Nuevo vertrieben worden war. Die für den Totalerhalt von Can Ricart kämpfenden Gruppen geben trotz der erreichten Kompromisslösung nicht auf, und es fehlt ihnen nicht an Argumenten. Denn zweifellos ist das Ensemble als Ganzes ein Industriedenkmal ersten Ranges und als solches schützenswert. Trotzdem hat die Stadtregierung bereits wieder die (friedlich verlaufene) Räumung angeordnet, und es sieht danach aus, als stünden erste Abrisse nun kurz bevor.
Der neue Bürgermeister Jordi Hereu – seine unvermittelt erfolgte Ernennung wurde in diesem Posting erwähnt – hat sich dabei trotz seinem pummeligen Schmunzelgesicht als Hardliner geoutet. Als vom Himmel gefallener Stadtvater muss er sich vor der Bürgerschaft ja erstmal profilieren, bevor er sich nächsten Frühling den Wahlen stellt. Heute lag dieser Prospekt, mit dem die Sozialisten seinen schwachen Bekanntheitsgrad zu erhöhen versuchen, in sämtlichen Briefkästen der Stadt.
Vor einer Woche, kurz nach der Ausbootung der Squatter aus Can Ricart, präsentierte Hereu im Mercat del Born seine «Kulturstrategie» (Plan Estratégico de Cultura) für Barcelona. Als der Opern- und Theaterregisseur Calixto Bieito (Bildmitte) – weiteres hier (.pdf)- das Wort ergriff, stürmten vier splitternackte Mitglieder von La Makabra die Bühne; für den skandalerprobten Regisseur nicht gerade ein ungewohnter Anblick, doch konnte er seine Ausführungen nicht beenden, während sich der Bürgermeister, wie oben zu sehen, mit einem blöden Grinsen aus der Affäre zog, an das wir uns nun wohl zu gewöhnen haben. Über Barcelonas «strategischen Kulturplan», der doch eigentlich im Zentrum des Anlasses stand, war aus der Presse so gut wie nichts zu erfahren.
Die von den Medien aufmerksam verfolgten Vorgänge um Can Ricart haben die Besetzerszene, hier Okupas genannt, generell wieder ins Rampenlicht gerückt. So wurde publik, dass es in Barcelona dieses Jahr zu nicht weniger als 150 Räumungen besetzter Häuser kam, mehrheitlich ohne Anteilnahme der Öffentlichkeit. Da die Okupas aber nach dem Motto handeln, für jedes geräumte Haus sei ein neues zu besetzen, wird deren Zahl nach wie vor auf etwa 200 geschätzt, 300 gar, wenn man die Vorstädte dazurechnet. Diesen Zahlen steht freilich ein Leerwohnungsbestand von 70’000 (laut dem Einwohnerregister) oder doch mindestens 20’000 (gemäss urbanan Feldforschungen) gegenüber. Gracia und Sants sind die bevorzugten Distrikte der Okupa-Bewegung.
Die Bilder zu diesem Beitrag sind schon einige Jahre alt; sie entstanden im Park Güell.
Bei anderer Gelegenheit ist auf das Wohnungsproblem in einem erweiterten Kontext zurückzukommen – unter anderem auf das Paradox des hohen Leerwohnungsbestands und den im untenstehenden Eintrag angedeuteten Rekorden der spanischen Bauindustrie, die dieses Jahr erneut über 800’000 neue Wohnungen zu immer horrenderen Preisen auf den Markt geworfen hat.